Die Suche nach Wahrheit auf mehreren Ebenen

Adolf Muschgs neuer Roman "Kinderhochzeit" spielt auf mehreren Ebenen

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das Böse in Nieburg, ich möchte wissen, wo es herkam und wie man ihm widersteht." So beginnt die Suche nach der Wahrheit. Klaus Marbach, als Historiker an der Bergier-Kommission beteiligt, die die Schweizer Neutralitätspolitik im Zweiten Weltkrieg erforscht, will es genauer wissen. Am Ende ist die Frau, die er dabei kennenlernte, tot, von ihm auf ihren Wunsch erschossen, und er ist verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst.

Dazwischen passiert viel, und doch ist es eigentlich wenig: Es ist nur ein kleiner Schritt von der Dunkelheit ins Licht. Marbach, den seine Frau wegen einer anderen Frau verlässt, fährt in die südbadische Kleinstadt Nieburg, an der Grenze zur Schweiz gelegen. Dort bekommt er sofort die Unterstützung von Imogen Selber-Weiland, der Enkelin des Aluminiumfabrikanten Christoph Bühler. Sie hat eine Stiftung zur "Verbesserung Nieburgs" gegründet. Er lernt auch die sieben Kuratoren der Stiftung zur "Verbesserung Nieburgs" kennen, die, alle 1940 geboren, mit Imogen zur Schule gegangen sind. Ein Foto, das er findet, zeigt einen Festumzug im Jahr 1949, auf dem sie alle zusammen eine Kinderhochzeit aufführen. Was Marbach im Zuge seiner Recherchen nach und nach erfährt, ist historisch nicht besonders aufregend: Keiner von ihren Eltern war ein richtiger Nazi, keiner war richtig im Widerstand, alles ganz normal. Das taugt nicht besonders für einen wissenschaftlichen Aufstieg. Allenfalls Bühler selbst war etwas involvierter, immerhin war er 1923 dabei, als der künftige "Führer" bei Schweizer Industriellen für seine Ziele warb.

Aber Marbach vernichtet schließlich alles Material, das er bis dahin gesammelt hat, und forscht nach dem verschwundenen Gatten, Iring Selber, der auf dem Kinderbild Imogens Bräutigam spielt, später ein esoterisches Buch geschrieben hat, und findet ihn in der Sekte "Christian Guardians", wo er von einer Adoptivschwester Imogens als Orakel missbraucht wird. Als er stirbt, überführt Marbach ihn nach Nieburg.

Aber es geht in Adolf Muschgs neuem, ausführlichem, manchmal geradezu ausufernden Roman nicht nur um die deutsch-schweizerische Vergangenheit oder, in vielen kulturkritischen Passagen, um die moderne Überflussgesellschaft. Mehr noch geht es um die Wahrheit, vor allem um die innere Wahrheit. Auf mehreren Ebenen wird darüber nachgedacht, was das denn sein kann, und wie wir uns und den anderen und die Welt überhaupt verstehen können. So wie Iring, der unter dem locked-in-Syndrom leidet, "über ein Repertoire aus Zeichen verfügt, das die kleine Welt, in der wir scheinbar Handelnden uns bewegen, als Wirklichkeit aus dritter Hand erkennen ließ". An diesem Repertoire, an den vielen Anspielungen, den verschachtelten Ebenen sind jetzt schon einige Kritiker gescheitert.

Ebenso an den vielen Nebenhandlungen, den kleinen Entdeckungen wie der Quirinus-Höhle, die die Kinder entdecken und in der sie den ungeliebten Iring einsperren. Oder Irings seltsamer Lebensweg, der zum Sektenführer wird und ein Buch geschrieben hat mit dem Titel "Zeichen und Wunder". Darin geht es um die "Entdeckung deiner wahren Lebenslinie" und die Erkenntnis: "Gott versucht ein neues Dasein in dir!" Oder Shakespeares selten bespieltes Stück "Cymbeline", in dem eine Imogen vorkommt, die die eheliche Treue symbolisiert. So wie Imogen zwar von Iring getrennt lebt, aber seine seltsame "Academy of Signs and Sense" finanziert, versteckt hinter einem Amerikaner. Oder die Sophokles-Anspielungen - Marbach liest Sophokles. Oder die Tatsache, dass die Mütter vergewaltigt wurden, dass die Herkunft der Väter nicht ganz klar ist.

In seiner typischen subtilen, sinnlich glühenden und gleichzeitig faktisch präzisen Sprache, intelligent konstruiert und sehr differenziert wirft uns Muschg einen fast sechshundert Seiten dicken Roman voller Anspielungen, mystischer Erlebnisse, selbstanalytischer Feinheit, großen Entwicklungslinien und kleinen Brüchen vor. Die Lektüre wird nicht nur zu einer Reise in die Außenwelt der Gegenwart und Vergangenheit, sondern auch in eine leuchtende und düstere Innenwelt. Er verdunkelt nichts, wenn er es dem Leser auch nicht ganz einfach macht. Aber die Welt, der Mensch, das Leben ist eben nicht einfach. Alles vermischt sich, antwortet aufeinander. Und von welchem Roman kann man das schon sagen: "Er zeigte mir, wie schön alles sein könnte, wenn wir es nur einmal sein ließen, wie es ist." Dann ist alles geheimnisvoll und erleuchtet gleichzeitig.


Titelbild

Adolf Muschg: Kinderhochzeit. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
580 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420324

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