Bodensatz der Wirklichkeit

Christoph Türcke und Petra Gehring mit neuen Büchern über den Traum

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Sigmund Freud war der Traum nicht nur der "Wächter des Schlafs", er war ihm auch ein Generalschlüssel zum Verständnis psychischer Erkrankungen. Für Christoph Türcke ist der Traum eine Art Zeitfenster, durch das man zurück in das Seelenleben der Steinzeit gelangt. Um von dort aus praktisch alle großen Fragen der Menschheit beantworten zu können: das Rätsel des Bewusstseins und des Menschenopfers, die Entstehung von Sprache, Religion und Kunst, die Wandlung der Sexualität zum Eros und die Tabuisierung des Inzests.

Das alles auf nicht einmal 250 Seiten und mit dem Eingeständnis, für die meisten seiner mitunter waghalsigen Thesen außer vagen Spuren in den ältesten Schriftzeugnissen wie dem Gilgamesch-Epos gar keine Belege zu haben. Türckes "Philosophie des Traums", eine Fortsetzung seines Buches "Erregte Gesellschaft" (2002), ist ein ebenso spekulativer wie megalomanischer Großessay, eine großartig-verrückte Synthese von Psychoanalyse, Hirnforschung, Anthropologie und Philosophie, elegant geschrieben und über weite Strecken nicht nur anregend, sondern auch überraschend plausibel. Ausgangspunkt ist ein Phänomen, das einst Freud massiv irritierte: der traumatische Wiederholungszwang, der bei den Heimkehrern des Ersten Weltkriegs zu immer neuen nächtlichen Albträumen von der Front führte.

Eine Reaktion, die wohl weniger auf ödipalen Kindheitskonflikten als auf dem verzweifelten Versuch der überforderten Psyche beruht, sich durch die fortwährende Wiederholung des Horrors an ihn zu gewöhnen - vergleichbar den medialen Endlosschleifen nach dem 11. September. Für Steinzeitmenschen, glaubt Türcke, war die Welt noch ein einziger Stellungskrieg. Und wie ihre Nachfahren im frühen 20. Jahrhundert hätten sie sich vor lauter beängstigenden Naturereignissen, vor Donnergrollen und Säbelzahntigern, nicht anders zu helfen gewusst, als sich das Schreckliche halluzinativ zu eigen zu machen.

Eine zentrale Rolle hätten dabei Freuds "Werkmeister" des Traums gespielt, Verschiebung und Verdichtung. Für Türcke sind sie viel mehr als das, sie sind die Bedingung der Möglichkeit von Denken, Sprache und Kultur. Dank ihnen konnte das Reiz-Trommelfeuer der Außenwelt mental umgedeutet und entschärft werden: durch das Ausstoßen von Schreckenslauten, durch Opferzeremonien, später durch die Anrufung erster Götter. Eine sich über Jahrtausende erstreckende Kulturleistung, von der sich der heutige Mensch kaum eine Vorstellung machen kann. Für ihn ist, was von den ersten psychischen Heilungsversuchen der Steinzeit, einer Art halluzinativer Dauer-Traumzeit, übrig geblieben ist, mittels einer "Urverdrängung" zur stets präsenten (und notwendigen) Kehrseite des Wachbewusstseins herabgesunken, zum Traum.

Dieser ist heute ein in aller Regel ungefährlicher, aber notwendiger "Bodensatz" des Denkens, quasi die Altsteinzeit in uns. Nur dass diese Ablagerung in der Moderne zunehmend wieder an die Oberfläche kommt und dort Unheil anrichtet, wie Türcke ein wenig zu alarmistisch behauptet. In einem "globalen Desedimentierungsprozess" wird das Unterste durch Psychopharmaka, Hirnforschung oder das Dauerbombardement der Fernsehbilder wieder nach oben gekehrt; Aufmerksamkeitsdefizite oder Hyperaktivität seien die Folge. Das hatten sich die Romantiker, als sie Traum und Wirklichkeit kurzschließen wollten, anders vorgestellt.

Von Übergriffen des Traums auf die Realität handelt auch Petra Gehrings Buch "Traum und Wirklichkeit". "Wir sind dem Aufwachen nah, wenn wir träumen, dass wir träumen", bemerkte einst Novalis. Ein doppeldeutiger Satz: Meint der Romantiker eine Art "Traum im Traum", oder das, was heute "luzides Träumen" genannt wird? Solche Klarträume sind ein seltenes, eigentlich paradoxes Phänomen. Denn in ihnen erlangt der Schläfer im Traum sein Wachbewusstsein zurück, kann sein Privatkino dann manchmal nach Belieben steuern. Heute können luzide Träumer - das sind Träumer, die sich im Traum ihres Zustandes bewusst geworden sind - im Schlaflabor sogar mit den Forschern kommunizieren. Was bedeutet das aber für unser Wirklichkeitsverständnis, das gemeinhin zwischen der von allen gemeinsam geteilten Realität und der individuellen Traumwelt streng unterscheidet? Hirnforschern braucht man diese Frage gar nicht erst zu stellen, stichelt Petra Gehring, huldigen Empiriker in der Praxis doch meist dem guten alten naiven Realismus. Dabei waren es gerade die Naturwissenschaften, die Traum und Wachbewusstsein erst auseinander rissen und im Träumen wenig mehr als das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit und Vernunft sahen.

Sie will explizit keine Übersicht über historische Traumtheorien liefern (wie es bereits 2002 Peter-André Alt in seinem materialreichen Band "Der Schlaf der Vernunft" getan hat), doch gehört es zu den Vorzügen ihrer Studie, dass sie sich auch als eine solche lesen lässt. Der Darmstädter Philosophin geht es um die Geschichte der im Titel genannten Unterscheidung: Denn je nachdem, wie Ursprung und Funktion der Träume erklärt wurden, änderte sich das Verhältnis zwischen ihnen und dem, was im Wachen erlebt wird.

Und damit auch das Verständnis der Realität selbst: Für Gehring lässt sich an der Geschichte dieser Unterscheidung die Entstehung "der" Wirklichkeit selbst ablesen. Die Griechen hatten noch nicht einmal ein Wort für Wirklichkeit. Für antike Denker wie Platon oder Artemidor gab es die Vorstellung einer umgreifenden Einheit, Träume konnten Botschaften der Götter über kommende Ereignisse sein. Das war im Mittelalter noch ähnlich, nur wuchs die Unsicherheit, ob die nächtlichen Visionen nun von Gott oder vom Teufel stammten.

Mit René Descartes verloren Träume ihren Eigenwert, galten als bloße Illusion. Als Negativfall von Wirklichkeit dienten sie nur noch Argumentationszwecken. Erst die Romantik sollte die starre Trennung wieder aufheben, fragte nach Übergängen und möglichen Synthesen, erkannte im Traum ein utopisches Potenzial für den Einzelnen wie für die Gesellschaft, wie es im 20. Jahrhundert noch "linke" Psychoanalytiker wie Herbert Marcuse tun sollten. Auch Freud selbst dachte ganzheitlich und zählte Träume zur "psychischen Realität" des Individuums.


Titelbild

Christoph Türcke: Philosophie des Traums.
Verlag C.H.Beck, München 2008.
240 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783406576379

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Titelbild

Petra Gehring: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
280 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783593387352

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