"Rasse" besser in Anführungszeichen!

Veronika Lipphardt schreibt über deutsch-jüdische Biowissenschaftler vor Hitler

Von Franz SiepeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Siepe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor 60 Jahren, am 10. Dezember 1948, genehmigte und verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte". Der erste Artikel lautet: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen." Artikel 2, Absatz 1 besagt: "Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen."

Nun votiert in diesem Jubiläumsjahr 2008 das Deutsche Institut für Menschenrechte dafür, aus allen internationalen Dokumenten des Menschenrechtsschutzes wie auch aus allen Texten der deutschen Rechtsordnung (so in Artikel 3 des Grundgesetzes) den Begriff "Rasse" zu streichen, weil er "historisch extrem belastet ist". Konsequenterweise wäre damit eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich. Währenddessen wird im Kreise von Genmedizinern und Pharmakologen angemahnt, auch die biologischen Unterschiede von Ethnien zu berücksichtigen, um die Wirksamkeit von Medikamenten patientenspezifisch ausrichten zu können.

Man merkt also, wie virulent und politisch brisant das Thema ist, dem sich die Berliner Wissenschaftshistorikerin Veronika Lipphardt in ihrem Buch - ihm liegt eine Dissertation aus dem Jahr 2006 zugrunde - mit bravouröser Dezenz zuwendet. Im Vorwort spricht sie gleichsam ad hominem über ihre Schwierigkeiten beim Niederschreiben der erkundeten Wahrheit: "Gerne würde ich selbst alle gut gemeinten und begründeten Empfehlungen zu einer korrekten, distanzierten Sprache befolgen, die man mir im Lauf der Jahre gemacht hat. Wo es mir irgend möglich war, habe ich das, mit Anführungszeichen und komplizierten Umschreibungen, auch getan. Dennoch habe ich auf ganz eiserne Sprachdisziplin verzichten müssen, nicht nur, weil ich meinem wenig zur Disziplin neigenden Naturell diese Kraftanstrengung nicht abfordern konnte, sondern auch, weil das daraus resultierende Sprachlabyrinth die Lesbarkeit des Textes deutlich eingeschränkt hätte."

Man kann sich vor einer solchen Offenheit nur verneigen - und kein Leser wird der Klarheit der Diktion, zu der Lipphardt findet, seine Hochachtung verweigern, obschon ihm einige biologische und biologiehistorische Grundkenntnisse (etwa zum Darwinismus oder zur Vererbungslehre) abverlangt werden und gelegentliche Vorsichtigkeiten der Autorin die dargelegten Sachverhalte manchmal etwas ins Vage rücken. Besser aber so, als voyeuristische Bedürfnisse zu befriedigen.

Gewiss verdankt sich Lipphardts Souveränität im Umgang mit der untersuchungsleitenden Frage, wie sich jüdische Biowissenschaftler vor der Zeit des Nationalsozialismus in der Debatte über Vererbung und die "jüdische Rasse" verhielten, auch dem Entschluss zur strikten Urteilsenthaltung in bezug auf die damals verhandelten Inhalte. In Konkordanz mit der Majorität der heutigen Forschergemeinschaft sieht sie "Rasse" als Begriff gründlich delegitimiert und als konstrukthaft dekuvriert. "Außerdem", so erklärt sie, "distanziere ich mich von all jenen Wissensbeständen, die Gegenstand meiner Analyse sind." Sie untersuche eben "nicht, ob die Juden 'tatsächlich' zu bestimmten Krankheiten, Immunität oder erblichen Eigenschaften neigten". Ihre Vorgehensweise qualifiziert sie als "Mischstrategie zwischen Ideengeschichte, Rezeptionsanalyse, Diskursgeschichte und Wissenssoziologie", die sie mit "kollektivbiografischen Methoden" ergänzt.

Innerhalb des derzeitigen international-transdisziplinären Forschungskontextes, der durch Namen wie John Efron, Annegret Kiefer, Cornelia Essner und Georg Lilienthal sowie Klaus Hödl und Sander F. Gilman markiert ist, schließt sich Lipphardt denjenigen an, die dafürhalten, die damaligen jüdischen Wissenschaftler hätten sich in erster Linie deshalb mit "aus heutiger Sicht oft völlig inakzeptabel[er]" Sprache an den Diskussionen über (ihre) "Rasse" beteiligt, weil sie dem Wunsch nach wissenschaftlicher Anerkennung gefolgt seien. Mit Klaus Hödl spricht sie von einem "berufsbedingten und sozialstatusmäßigen Anpassungsprozess". Als Individuen und Forscher mit jüdischem Hintergrund hätten sie "wissenschaftlich beweisen wollen, dass pathologische Eigenarten nur bestimmten jüdischen Subgruppen, Berufsgruppen (Händlern) oder osteuropäischen Juden, zuzuschreiben seien, um sich selbst von dieser Zuschreibung zu befreien." Es sei ihnen auch, wie allen damals am Forschungsprozess Beteiligten, "das Konstrukthafte der 'europäischen Rasse', zu der einige von ihnen die Juden als zugehörig sahen", nicht bewusst gewesen.

Es ist aber nicht so, als wolle Veronika Lipphardt sich des ethischen Urteils über die damaligen innerwissenschaftlichen Geschehnisse völlig enthalten. Im Gegenteil: Für sie gehört "die Frage der ethischen Bewertung" zum genuinen Geschäft der historiografisch Tätigen; nur möchte sie in diesem Falle das Ethische "zunächst zurückstellen". Sie rechtfertigt das mit dem methodologischen Prinzip des Sideshadowing, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Andre Bernstein 1994 postulierte: Jedem historischen Augenblick wohne eine ihm eigene Singularität oder Inkommensurabilität inne, so dass ihm niemand post festum eine Zwangsfinalität zuschreiben könne. Denken in "Rasse"-Kategorien habe es auch woanders gegeben, ohne dass dort Auschwitz die Folge war. So gesehen, erlaube es das Prinzip des Sideshadowing, die Beteiligung jüdischer Anthropologen an der Rassendebatte ohne nachträgliche Vorwürfe zu betrachten.

Hinzu kommt - als weiterer epistemologische Vorbehalt - das Erklärungsmodell des "Narrativs" in Verbindung mit der "Meta-Narration": Um 1900 hatten sich Evolutionstheorie und Vererbungslehre noch nicht zu einem kohärenten Theoriegebäude vereinigt, so dass der "mit wachsendem Nachdruck gesuchte biologische Gesamtzusammenhang als biohistorische Meta-Narration zu begreifen" sei. So untersucht Lipphardt "die Denkfigur der 'jüdischen Rasse' als ein Ensemble biohistorischer Narrative, eingebettet in biohistorische Meta-Narrationen einzelner Wissenschaftler".

Man darf, so kann man sich das vielleicht selbst erklären, die Forschungen der damaligen jüdischen Wissenschaftler zur Biologie ihrer ethnischen Gruppe nicht schlichtweg mit denen der anderen Wissenschaftler homologisieren, sondern habe stets im Einzelfall die jeweilige Position im Gesamtforschungskontext zu spezifizieren und dabei insbesondere "Narrative, die von jüdischen Wissenschaftlern neu in die Debatte eingebracht wurden", zu berücksichtigen.

Zwei Phasen der Debatte sind zu unterscheiden: die erste von 1900 bis 1915 und die zweite von 1916 bis 1933. Danach flaute die Kontroverse ab, weil die jüdischen Wissenschaftler emigrierten oder Publikationsverbot erhielten.

Vor 1915 stand die wissenschaftliche Argumentation der jüdischen Biowissenschaftler im Zeichen der Abwehr des rassistischen Antisemitismus, der sich im Sog der um 1900 auch in Deutschland ungeheuer populär und massenwirksam gewordenen Schriften Houston Stewart Chamberlains und Arthur Gobineaus ausgebreitet hatte. Männer wie Samuel Weissenberg, Maurice Fishberg und Elias Auerbach rangierten an vorderster Stelle der Publikationsfront "als Fürsprecher des Judentums", wobei Auerbach mit seinen zionistischen Ideen und seinem "deterministischen Konzept einer vollkommen positiv bewerteten 'jüdischen Rasse'" zweifellos eine irritierende Einzelfigur war.

Die Mehrheit der jüdischen Debattenteilnehmer bis 1915 war hingegen bemüht, unter Heranziehung neolamarckistischer (die Bedeutung der Umwelt für die Herausbildung von "biologischen" Gruppenmerkmalen akzentuierender) Forschungsansätze dem strengen Determinismus der - in der Regel - nichtjüdischen Rassenforscher zu opponieren. Aber, so betont Lipphardt, der Gegensatz zwischen nichtjüdischen und jüdischen Forschern lässt sich nicht einfach auf die Polarität von "nature versus nurture" reduzieren. Zudem waren viele Zwischenpositionierungen zwischen der darwinistischen Behauptung von "Rassenkonstanz" einerseits und der radikalen Zurückweisung von "Rasse" andererseits überhaupt möglich.

Lamarckistische Ansätze verloren nach 1915 zunehmend an Kredit, und die jüdischen Biologen und Anthropologen konzentrierten sich von nun an auf die Frage, ob die Rede von der "Rasse" überhaupt wissenschaftstauglich sei. Parallel dazu verhandelte man das Pro und Kontra der Mischehe; denn erstaunlicherweise galt in jener Zeit die weitverbreitete Ansicht, "Mischehen-Partner wiesen eine erblich bedingte, 'tiefstehende Sittlichkeit' auf und stammten meist aus negativen sozialen Verhältnissen, was beides gerade durch ihre besondere Neigung zu Fremden zum Ausdruck kam." Als Mischehen-Befürworter trat insonderheit der Sexualwissenschaftler und Eugeniker Max Marcuse hervor.

Doch der Hauptkonflikt zwischen jüdischen und nichtjüdischen Wissenschaftlern in der dritten Dekade des Jahrhunderts bestand im Streit um die Existenz einer wie immer auch gearteten "jüdischen Rasse". Die jüdische Partei bezog eine grundsätzlich verneinende Position, und zur Stärkung der eigenen Auffassung plante man (so Ignaz Zollschan, Franz Weidenreich und Wilhelm Nußbaum) angesichts immer massiver werdender antisemitischer Tendenzen die Gründung eigener wissenschaftlicher Institute zum Zweck der Untersuchung der "Biologie der Juden".

Allerdings gelang nur Nußbaum die Verwirklichung seiner Pläne: Im Sommer 1933 gründete er die "Arbeitsgemeinschaft für Jüdische Erbforschung und Eugenik"; seine "Erbbiologische Sprechstunde" am Berliner Jüdischen Krankenhaus begann 1934, und die "Gesellschaft für Jüdische Erbforschung und Erbpflege" rief er im Winter 1934/35 ins Leben. Nußbaum emigrierte 1935 in die USA.

Veronika Lipphardt hat mit diesem gut recherchierten und bis in jede einzelne Formulierung hinein wohldurchdachten Werk etwas wirklich höchst Respektables geleistet. Sie selbst möchte es als eine "Auseinandersetzung mit den Biowissenschaften" verstanden wissen und warnt am Ende mit gemäßigt konstruktivistischem Gestus vor allen Essentialismen in den Wissenschaften von der menschlichen Natur. Dem mag man sich anschließen und dennoch fragen dürfen, ob epistemologisch noch so gut begründete Anführungszeichen einen Schutz gegen Menschen bieten, die das Böse wollen und die Macht haben, es in die Welt zu bringen.


Titelbild

Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über "Rasse" und Vererbung 1900-1935.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008.
360 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783525361009

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