Was wären die Alpen ohne ihn?

Albrecht von Haller ist nicht tot

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein bekannter Unbekannter ist dieser Albrecht von Haller, selbst in der Schweiz. Als Schriftsteller war Haller - "ein europäischer Hauptname im 18. Jahrhundert" (Leif Ludwig Albertsen) - lange Zeit hindurch so gut wie vergessen. Selbst Germanisten verwiesen, meist ein wenig lustlos, lediglich auf sein Lehrgedicht "Die Alpen" (zuerst 1729), das viele von ihnen eher aus den einschlägigen Literaturgeschichten kannten denn aus eigener Lektüreerfahrung - von wenigen Spezialisten abgesehen, unter denen an erster Stelle Karl S. Guthke zu nennen ist. Das beginnt sich zu ändern, und so entpuppt sich das zunächst willkürliche Diktat der runden Zahl letztlich als ein Segen.

Zum 300. Geburtstag war einiges geboten, und das keineswegs nur in Bern, wie man übers Internet leicht herausfinden kann. Neue Publikationen gibt es auch. Zwar ist bedauerlicherweise kein Haller-Lesebuch erschienen, aber immerhin eine sein Andenken sicherlich belebende Haller-Ausgabe der Berner Universitäts-Zeitschrift "UniPress". Ein ganzes Themenheft widmet die "Schweizerische Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts" dem Dichter, Arzt, Naturforscher und Magistraten - man könnte Haller übrigens mit zahlreichen weiteren Bezeichnungen zu charakterisieren suchen und hätte doch immer nur einen Teil seines Wirkens erfasst.

Dessen gewaltigen Umfang nimmt jetzt eine Publikation ins Visier, die man zweifelsohne als die mit Abstand gewichtigste Neuerscheinung im Haller-Jahr würdigen muss. Ihr Titel ist Programm: "Albrecht von Haller. Leben - Werk - Epoche". Es handelt sich um einen repräsentativen Sammelband, an dem 22 Wissenschaftler mitgewirkt haben, unter ihnen erfreulicherweise viele jüngere. Und eines macht dieser Band bald ganz deutlich: Haller ist nicht tot!

Über das Zustandekommen des Kompendiums unterrichtet das Vorwort der Herausgeber. Aber es tut noch mehr: Es nennt ohne Scheu die mutmaßlichen Gründe dafür, dass Leben, Werke und Wirkungen Albrecht von Hallers heute "weitgehend aus dem Kanon der Allgemeinbildung verschwunden" sind. Sein Lebenslauf sei nicht so leicht fassbar und dramatisierbar wie zum Beispiel der Rousseaus; jegliche Poesie vor den 1770er-Jahren sei heutigen Lesern schwer zugänglich (was durchaus bezweifelt werden darf); als Romanautor und politischer Schriftsteller sei Haller zu didaktisch; als orthodoxer Theologe stehe er oft konträr zur modern-aufklärerischen Religionskritik; als Literaturkritiker sei er rasch von der nachfolgenden Generation um Lessing abgelöst worden; als Magistrat und Berner Patriot sei er im europäischen Kontext nicht so bedeutend. Und dass Haller "der wohl am besten und internationalsten vernetzte Wissenschaftler seiner Zeit" gewesen ist und "eine wichtige Schaltstelle in der europäischen Wissensproduktion" einnahm, dafür habe sich die Forschung erst in allerjüngster Zeit wirklich interessiert. Fazit: "Haller lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Die Schwierigkeit, ihn zu erfassen und zu erklären, wird erhöht durch ein vielschichtiges und äußerst umfangreiches Werk, das zudem in unterschiedlichen Sprachen (Latein, Französisch, Deutsch) abgefasst und nur teilweise in Übersetzungen greifbar ist". Diese Probleme allerdings, die Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit Hallers, sprächen nicht gegen, sondern für die verstärkte Beschäftigung mit dieser bewunderungswürdigen Persönlichkeit. Der reich bebilderte neue Band ist der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Behauptung. Wer also ist dieser Haller?

Seinen Lebenslauf stellt Urs Boschung in allen Details dar, und dessen Hauptschauplätze Bern und Göttingen führen François de Capitani und Ulrich Hunger vor Augen. Man erfährt viele Details über Hallers Verwandtschaft und über die Berner Kindheit, die 1718 mit der Aufnahme in die Hohe Schule fast schon wieder zu Ende ist. "Im zwölften Jahre fieng er an deutsche Verse zu verfertigen, und von der Zeit an, bis in sein 15. und 16tes Jahr herrschte die Liebe zu der Dichtkunst auf eine unwiderstehbare Weise in seiner Seele", wird Johann Georg Zimmermann zitiert, Hallers erster Biograf. 1722 bis 1723 lernt Haller in Biel, 1723 bis 1725 studiert er in Tübingen Medizin. Er wechselt nach Leiden in Holland, wo es ihm ganz vorzüglich gefällt, und schließt 1727 sein Studium ab - als bestens ausgebildeter Arzt, und das mit 19 Jahren. Es folgen Reisen nach London und Paris, ein begieriges Aufnehmen alles Neuen, auch schon erste schwerere Krankheiten, und dann, von Basel aus und mit Gessner, seinem Freund: eine Reise durchs Vaterland. "Die Erfahrungen der Schweizerreise, die in starkem Kontrast zu Eindrücken von London und Paris standen, aber auch manches Gelesene verarbeitete er im Gedicht "Die Alpen, Heldengedichte"" (Urs Boschung).

Diesen 49 Strophen mit jeweils zehn jambischen Alexandrinern, die die "Gemüthsruh" des alpinen "homo helveticus" besingen und letztlich "ein Lob des gesunden Landlebens im Sinne der alten römischen Optimates" darstellen (Leif Ludwig Albertsen), verdankt der Dichter Haller seine im 18. Jahrhundert vor allem von Herder und Schiller beförderte Unsterblichkeit. Im Mittelpunkt steht der Mensch: "Der Älpler ist selig, weil er bei sich ist und weder einem Noch-Nicht nachstrebt noch einem Nicht-Mehr nachtrauert, sondern in Gemeinschaft mit der Natur und somit in natürlicher Ordnung lebt" (Eric Achermann). "Die Alpen", naturwissenschaftliche Beobachtung und lyrisch verpackte Moralphilosophie kunstvoll verknüpfend, wurden zum "Ursprung des modernen Alpenmythos" (Rémy Charbon) und blieben wirkungsmächtig bis ins 20. Jahrhundert hinein - obwohl ihr poetischer Duktus längst eigentümlich wirkte und ihre sprachlichen Feinheiten nicht im gesamten deutschen Sprachraum verstanden wurden. "Ich bin Schweizer, und Deutsch ist für mich eine Fremdsprache", lässt Hugo Loetscher "seinen" Albrecht von Haller in einem fiktiven Interview sagen, und der Gesprächspartner entgegnet: "Trotz allem sind Sie der erste Schweizer, der mit seiner Dichtung über sein Land hinausgewirkt hat". Das ist zweifellos richtig, und sogar ein Hugo Loetscher, der seine persönliche Schweizer Literaturgeschichte lieber mit den Lebenserinnerungen Thomas Platters denn mit den "Alpen" beginnen lässt, kommt nicht umhin, die enorme Wirkung von Hallers Lehrgedicht anzuerkennen.

1729 bis 1736 lebt Haller als Arzt und Bibliothekar in Bern, dichtet und studiert und gründet eine eigene Familie. 1736 erfolgt der Ruf an die Göttinger Universität, wo der Berner als Anatom, Chirurg und Botaniker bis 1753 forscht und lehrt, an den "Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen" mitwirkt und die erst später so genannte Akademie der Wissenschaften gründet. Der immer ärger kränkelnde Gelehrte wird schließlich Rathausammann in Bern, ab 1758 dann Direktor der bernischen Salinen in Roche.

Er korrespondiert mit den wichtigen Wissenschaftlern Europas, schreibt zahlreiche Artikel für die bald Epoche machenden, in Paris und Yverdon entstehenden Enzyklopädien, verfasst zudem drei politische Romane sowie philosophische und religiöse Schriften - und er überarbeitet mehrfach seine immer berühmter werdenden Gedichte. Am 12. Dezember 1777 ist sein Leben und Wirken zu Ende. Worin es bestand, erläutern Eric Achermann (Dichtung), Florian Gelzer und Béla Kapossy (Roman, Staat und Gesellschaft), Claudia Profos (Literaturkritik), Cornelia Rémi (Religion und Theologie), Hubert Steinke (Anatomie und Physiologie), Maria Teresa Monti (Embryologie), Urs Boschung (Praktische Medizin), Jean-Marc Drouin und Luc Lienhard (Botanik). Den Forscher und Gelehrten stellen Otto Sonntag und Hubert Steinke in den Kontext seiner Zeit. Martin Stuber und Regula Wyss tun das für den Magistraten und ökonomischen Patrioten, während Hubert Steinke und Martin Stuber Hallers Stellung in der zeitgenössischen Gelehrtenrepublik erörtern.

Eine zusammenfassende Studie von Wolfgang Proß, die inmitten lauter guter, oft herausragender Beiträge noch einmal ganz besonders hervorzuheben ist, skizziert das widersprüchliche Verhältnis Hallers zur Aufklärung: "Wie andere Figuren seines Jahrhunderts litt auch Haller unter der Schwierigkeit, neues Wissen und eigene Forschung mit traditionellen Beständen der Offenbarungsreligion und metaphysischen Bedürfnissen oder mit gesellschaftlichen Konventionen in Einklang zu bringen". Es folgen vier aufschlussreiche "Blicke auf Haller" (François Duchesneau, Karl S. Guthke, Renato G. Mazzolini, Richard Toellner) sowie der Abschnitt "Zeugnisse", wo es um "Haller im Porträt" (Marie Therese Bätschmann) und "Hallers Bibliothek und Nachlass" (Barbara Braun-Bucher) geht. Ganz wichtig für ein intensives Studium des Sammelbands sind die Personen- und Werkregister, die diese voluminöse Gesamtschau beschließen.

Belehrt und beglückt mag man danach Hallers berühmtes Lehrgedicht aufschlagen und mit ihm hinauf in die Alpen reisen, natürlich mit aller heutigen Skepsis gegenüber seinem Lobpreis des einfachen und sündelosen Lebens unter Hirten und Sennen. Doch schon der Dichter selbst war sich im Klaren darüber, dass sein Lehrgedicht der Schweizer Wirklichkeit nur selten entsprach: "Es ging ihm aber nicht so sehr um die reale Lebensweise der Gebirgsbevölkerung als um ein kritisches Gegenbild zum luxuriösen Leben der gegenwärtigen Berner Patrizier" (Rémy Charbon).

Dass dieses kritische Gegenbild aus der Feder eines Mannes, der das Dichten nur in seinen Nebenstunden betrieben hat, bis heute keine Utopie, aber zumindest einen Traum aufscheinen lässt, spricht für die erstaunliche Wirkungskraft guter Poesie. So gesehen darf sich die gesamte Tourismusindustrie der Alpenländer bis heute glücklich schätzen, einen Albrecht von Haller zum Ahnherrn zu haben. "Denn hier, wo die Natur allein Gesetze gibet, / Umschließt kein harter Zwang der Liebe holdes Reich". So ist es leider nicht, und so ist es wohl nie gewesen. Aber so könnte es sein. Zumindest träumen darf man es - beim Lesen der "Alpen" des mit Fug und Recht "groß" genannten Haller.


Titelbild

Hubert Steinke / Urs Boschung / Wolfgang Proß (Hg.): Albrecht von Haller. Leben - Werk - Epoche.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
544 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302648

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Hugo Loetscher: Lesen statt klettern. Aufsätze zur literarischen Schweiz.
Diogenes Verlag, Zürich 2008.
484 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-13: 9783827008091

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