Der Meister als Monster

Nobelpreisträger VS Naipaul autorisierte den englischen Autor Patrick French, seine Biografie zu verfassen - das Resultat ist ein schonungsloses, faszinierendes Porträt

Von Peter MünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Münder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Autor wirkt so polarisierend wie der Literatur-Nobelpreisträger von 2001, Vidiadhar Surajprasad Naipaul, 76. Mit ebenso scharfsinnigen wie anrührenden Impressionen aus dem Trinidad einer längst vergessenen Epoche setzte er 1961 seinem Vater, einem Zeitungsreporter, im Familienroman "Ein Haus für Mister Biswas", ein Denkmal.

Er sezierte in kritischen Reisereportagen die gesellschaftspolitischen Probleme Indiens, Südamerikas, des Iran, Pakistans und anderer islamischer Länder. In Uganda lernte er den amerikanischen Autoren Paul Theroux kennen, mit dem er jahrelang befreundet war. Über die Irrungen und Wirrungen dieser Beziehung, die Eitelkeiten und Macken dieses arroganten Meisters, den der junge Nachwuchsautor Theroux ("ich war der Lehrling dieses Magiers") während seiner Peace-Corps-Zeit in Afrika damals noch sehr bewunderte, berichtete der Amerikaner nach seinem Bruch mit Naipaul 1998 in dem Buch "Sir Vidias Shadow".

Diese Abrechnung geriet zu einem kritischen, differenzierten Psychogramm, das vor allem die grenzenlose Egomanie des eitlen Oberlehrer-Schöngeistes Vidia Naipaul zeigt. Da mokiert er sich etwa über die Kollegen an der Uni in Kampala, die er für dumpfbackige "Infies" (abgeleitet von "inferior") hält. Den afrikanischen Dreck hält er für ebenso unerträglich wie die überall vernehmbare Musik; munter drauflos schwatzende Dienstmädchen würde er am liebsten auspeitschen lassen. Mit seiner ersten großen, hyperkritischen Indien-Reportage "Land der Finsternis" (1964) provozierte Naipaul einen Sturm der Entrüstung.

Seine krypto-rassistischen Sottisen über das mittelalterliche Kastensystem und über Inder, die sich überall erleichtern ("Sie verrichten ihre Notdurft in den Feldern, auf den Hügeln, an beschaulichen Stränden und belebten Plätzen, aber niemand bemerkt es, weil es zum indischen Alltag gehört") brachten ihm noch viele Jahre später hasserfüllte Reaktionen ein. Vidia Naipaul mokiert sich auch gern über Autoren-Kollegen wie Salman Rushdie, dem er die von iranischen Mullahs verhängte Fatwa gönnte, auch wenn sie "eine ziemlich harsche Form der Kritik darstellt".

Eine abstoßendere Inkarnation von Stolz und Vorurteil dürfte schwer zu finden sein. Aber auch kein Autor, der so einfühlsam an den Rand gedrängte Figuren zeichnen, so präzise und mit analytischem Scharfblick gesellschaftliche Entwicklungen festhalten und einschätzen kann, ohne sich um den jeweils korrekten Sprachgebrauch oder um allgemein akzeptierte Mainstream-Plattitüden zu kümmern.

Der von Naipaul autorisierte Biograf Patrick French, 42, ein mit angesehenen Preisen ausgezeichneter Autor, fragte sich mehrmals im Verlauf seiner fünfjährigen Recherche für diese schonungslose, grandiose Biografie, weshalb Naipaul nie den Versuch machte, auf das Buch Einfluss zu nehmen, Peinlichkeiten zu beschönigen oder das insgesamt negative Image des anmaßenden Dichterfürsten zu korrigieren. Sein Fazit lautet: Auch ein angekratztes Denkmal bleibt ein Denkmal - und Naipaul nehme den eigenen Anspruch ernst, der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen - selbst wenn sein eigenes Ansehen hier erheblichen Schaden nimmt. Naipauls Reaktion auf diese desillusionierende Biografie war vorhersehbar: Er habe das Buch nicht gelesen, ließ er verlauten. Das hatte der gegenüber kritischen Kommentaren extrem aversive Autor auch schon behauptet, als Theroux sein Buch über ihre zerbrochene Freundschaft veröffentlicht hatte.

French demonstriert mit einer beeindruckenden Souveränität, wie man den Spagat zwischen ernüchternden biografischen Fakten und dem Zugang zum Werk bewältigt und dabei noch zeitgeschichtlich relevante Hintergrundinformationen berücksichtigt.

Naipaul hatte French sogar erlaubt, die an der US-Universität Tulsa unter Verschluss gehaltenen privaten Dokumente und die erschütternden Tagebücher seiner 1995 verstorbenen Frau Patricia einzusehen und daraus zu zitieren. "Den Tod meiner Frau habe ich wohl mitverschuldet", gab Naipaul später kleinlaut zu, nachdem er sich damit gebrüstet hatte, jahrelang mit Prostituierten verkehrt zu haben, was seine krebskranke Frau zutiefst schockiert hatte. Wenige Wochen nach Pats Tod heiratet er die pakistanische Journalistin Nadira Alvi, worüber seine Familie ebenso entsetzt war wie viele seiner Freunde.

Auf die frappierenden Gegensätze in der Biografie Naipauls geht French detailliert und kritisch ein. Hatte er eine Hassliebe zu Trinidad und Indien entwickelt? Warum zog es ihn immer wieder dorthin, obwohl er diese Länder mit vernichtender Häme überzog? Naipauls Vorfahren waren indische Kontraktarbeiter, die nach Trinidad ausgewandert waren; daher begab er sich auf der Suche nach seinen Ursprüngen in die entlegensten Winkel Indiens und kehrte wiederholt nach Trinidad zurück, um herauszufinden, wie er wurde, was er jetzt ist.

"The World is what it is": Diese ersten Zeilen des großen Afrika- Romans "An der Biegung des Flusses" hat French für den Titel seiner Biografie gewählt: "Die Welt ist, was sie ist. Menschen, die nichts sind, die sich erlauben, nichts zu werden, haben darin keinen Platz". Ist das nun die Devise eines Nietzscheaners, der den Übermenschen kopieren will und eine gnadenlose Ellbogenmentalität propagiert? Da Naipaul sich selbst oft in der Manier eines unnahbaren, elitären Snobs geriert, liegt dieser Verdacht nahe. French gelingt es jedoch, viele andere Facetten Naipauls zu zeigen: Neben dem ehrgeizigen Schüler, der sich noch in Trinidad ein Stipendium für Oxford ergattert, zeigt er den in England zu Depressionen neigenden Studenten, der sich vergasen will, doch nicht genügend Münzen für den Gasofen hat und seinen Suizidversuch überlebt.

Wir erleben einen jungen despotischen Ehemann, der schon als Student in Oxford seine Kommilitonin Patricia Ann Hale heiratet und ihr das Theaterspielen in einer Studentengruppe verbietet- für sie hat er die Rolle des Heimchens am Herd vorgesehen, das für die zermürbenden Alltagsprobleme zuständig ist sowie seine Texte beurteilt und korrigiert.

Wenn Pat dann doch eine Stelle als Lehrerin antritt oder ihre eigenen Texte veröffentlichen will, führte dies unweigerlich zu schweren Konflikten. French beschreibt auch einen vitalen, vom totalen Liebesrausch erfassten Mann, der zwar in der Argentinierin Margaret seine große Liebe fand, doch diese Beziehung zur sadomasochistischen Tragikomödie stilisierte.

French gelingt das Kunststück, ohne aufgeregten Enthüllungsgestus biografische Details zu offenbaren, die den Zugang zu Naipauls Werk erleichtern und erweitern, weil sie zeigen, in welcher Form der Autor seine eigenen autobiographischen Erfahrungen gefiltert und in sein Werk eingebracht hat. So kann man in den Romanen "Ein Halbes Leben" und "Magische Saat" unschwer erkennen, dass sich hinter dem misanthropischen Mitläufer Willie Chandran, der im London der 1950er-Jahre seine Tristesse beklagt, der depressive, orientierungslose junge Naipaul verbirgt, der mit sich und seiner Umwelt im Clinch liegt und trotz seines Sendungsbewusstseins von Selbstzweifeln fast zerfressen wird.

Naipaul beschwor zwar in elegischen Tönen "das Rätsel der Ankunft", doch die englische Provinzdylle in Wiltshire, in der er seit einigen Jahren lebt und die er im gleichnamigen stark autobiografisch gefärbten Roman (1987) evoziert, ist trügerisch. Denn eigentlich ist dieser literarische Weltumsegler immer noch nicht in seiner wahren Heimat angekommen.


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Patrick French: The World Is What It Is. The Authorized Biography of V. S. Naipaul.
Macmillan Publishers Ltd, London 2008.
576 Seiten,
ISBN-13: 9780330455985

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