Heines Modernität

Über Peter Uwe Hohendahls themenorientierte Heinelektüren

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Heine gilt inzwischen als Klassiker. Auch jenseits der großen Heinejubiläen der Jahre 1997 und 2006 mit etlichen neuen Sammelbänden, kommen jährlich mehrere Neuerscheinungen zu Heine auf den Markt. Freilich zeugte die Vielzahl von Publikationen zu Heine keineswegs immer auch von seiner Akzeptanz. Ein Blick in den 2008 publizierten zweiten Band der von Hartmut Steinecke und Dietmar Goltschnigg herausgegebenen Anthologie zur Wirkungsgeschichte "Heine und die Nachwelt", der 126 Rezeptionsdokumente aus dem Zeitraum 1907-1956 versammelt, zeigt einen "umstrittenen Autor", dessen Werk und die Erinnerung an ihn während des Kaiserreichs und der Weimarer Republik unter anderem von völkisch-antisemitischen Rezensenten attackiert und im Nationalsozialismus regelrecht aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht wurde. Aber auch von anderer Seite wurde polemisiert: 1910 erschien von Karl Kraus der Aufsatz "Heine und die Folgen", worin Heines Lyrik dem Verdikt der Kommerzialisierung der deutschen Sprache anheim fiel, von dem sich noch der berühmte Text "Die Wunde Heine" von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1956 beeinflusst zeigt.

Eine Auseinandersetzung mit dieser wirkmächtigen Konstellation innerhalb der Heine-Rezeption und dem Bild vom "umstrittenen Autor" begegnet auch in einer von dem Heineforscher Peter Uwe Hohendahl 2008 veröffentlichten Aufsatzsammlung, die Arbeiten aus einem Zeitraum von immerhin 35 Jahren umfasst. Für eine solche Zusammenstellung von an verstreuten Orten erschienenen Arbeiten erweist sich der hier gewählte Zugriff, sich Heine themenorientiert über zentrale Fragen zu nähern, nicht nur als ein der Sache geschuldeter Kompromiss, sondern als glückliche Entscheidung. Der Band ist in drei Abteilungen untergliedert, von denen die erste und umfangreichste fünf Aufsätze zu Heines Verständnis von Literatur und Kunst umfasst, die zweite sein Verhältnis zur Öffentlichkeit untersucht und die dritte auf seine kontroverse Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert eingeht.

In seinem aufschlussreichen Vorwort erinnert Hohendahl daran, dass Heine auch noch in den 1960er-Jahren in den Augen der Germanistik und literarischen Öffentlichkeit der alten Bundesrepublik umstritten war und von daher eine Beschäftigung mit Heine in vielen Fällen einer Verteidigung des Autors gleichkam. Obwohl diese Kontroverse in den 1970er-Jahren bereits zu Gunsten Heines entschieden werden konnte, blieb das Schreiben über ihn noch eine Weile von ihr bestimmt und erklärt daher den Hintergrund für die ersten der hier versammelten Arbeiten. Hohendahl verbindet die in den 1970er-Jahren fortschreitende Liberalisierung der Bundesrepublik wohl zu Recht auch mit dem Namen Heine und macht so deutlich, dass die Heineforschung noch längere Zeit (auch) ein politisches Projekt darstellte.

Konsequent erscheint daher die Verortung seiner Aufsätze im Rahmen einer "Kultur- und Geistesgeschichte Westdeutschlands", die für den Literaturwissenschaftler Vergleichsmaßstab blieb, obwohl er selbst bereits nach seiner Promotion über das expressionistische Drama 1964 mit einem Postdoc-Stipendium nach Harvard ging und seither in den Vereinigten Staaten forscht und lehrt. In seinen ebenfalls 2008 erschienen "Autobiographischen Notaten" benennt er im Rückblick auch ein Moment der Identifikation mit Heine. So habe sich seine Beschäftigung mit dem Autor in den frühen 1970er-Jahren von seiner Beschäftigung mit der Geschichte der Literaturkritik hergeleitet. Bezeichnenderweise seien es die Schriften aus den 1830er-Jahren gewesen, also Heines Exilsituation im Paris nach der Julirevolution, und der damit einhergehende Blick von außen auf die deutschen Verhältnisse, aus dem sich das identifikatorische Moment speiste: die "doppelte Optik und die aufgegebene Möglichkeit, den eigenen Kontext als den natürlichen zu behandeln".

Zum methodischen Verfahren Hohendahls gehört, dass in der getroffenen Auswahl von Fragen - und dem notwendigen Ausschluss von anderen - nicht nur der literarische Gegenstand von unterschiedlichen Seiten her beleuchtet wird, sondern zugleich auch der "Forscher und Kritiker" sichtbar werden soll, "der sich seinem Gegenstand nach einem zeitlichen Abstand erneut zuwendet". Was das heißt, führt der Nachtrag zu seinem frühesten hier aufgenommenen Aufsatz "Geschichte und Modernität: Heines Kritik an der Romantik" (1973) exemplarisch vor, in dem er eine kritische Revision des Textes im Lichte späterer Forschungsbeiträge vornimmt.

Die Notwendigkeit zu Ergänzungen und Modifikationen begründet er mit zwei grundlegenden Veränderungen der Forschungslage. So konnte 1981 durch den ausführlichen Kommentar zu Heines "Romantischer Schule" (1836) in der Düsseldorfer Heineausgabe mit sehr viel größerer Präzision angegeben werden, welche Werke Heine tatsächlich bei der Abfassung der "Romantischen Schule" verwendete. Dadurch wird die von Hohendahl 1973 vorgeschlagene These, Heine habe sich vor allem auf Friedrich Schlegels 1814 erschienene "Wiener Vorlesungen" bezogen, in ihrer Ausschließlichkeit widerlegt. Gültig bleibt jedoch, dass eine Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegels Positionen für Heines Polemik gegen die Romantik eine zentrale Rolle spielte. Walter Kanowskys Studie "Vernunft und Geschichte. Heinrich Heines Studium als Grundlegung seiner Welt- und Kunstanschauung" (1975) beleuchtete genauer die Umstände von Heines Bonner Studienjahren, wodurch die in dieser Zeit größere Bedeutung von August Wilhelm Schlegel für Heine rekonstruiert werden konnte. Im Darstellen der veränderten Forschungslage sowie in Auseinandersetzung mit weiteren Arbeiten zu Heines Verhältnis zur Romantik, gelingt Hohendahl ein Doppeltes: die bleibende Bedeutung seines Aufsatzes zu verteidigen, die in der Rekonstruktion von Heines Bindung an die Frühromantik liegt, sowie gleichzeitig Entwicklungen in der Heineforschung kritisch zu reflektieren.

Im Zentrum von Hohendahls Forschungsinteresse steht durchgängig die Frage nach der Modernität Heines, die alle zehn Aufsätze des Bandes vereint. Insbesondere seine rezeptionsgeschichtlichen Texte belegen dabei anschaulich, wie gerade diese Frage und die historisch auf sie gegebenen Antworten ganz maßgeblich das sich wandelnde Verständnis von Heines Werk mitbestimmt haben. In der unübersichtlichen Situation der Heine-Rezeption um 1900 erkennt Hohendahl zwei scheinbar getrennte Felder. So sei auf der einen Seite Heines Zugehörigkeit zur deutschen literarischen Tradition und die Frage nach seiner Stellung in ihr diskutiert worden, während es auf der anderen Seite um seine literarische Aktualität und das heißt die Beziehung seines Werks zum Ästhetizismus der Jahrhundertwende sowie der literarischen Avantgarde gegangen sei. Die Verbindung dieser beiden Diskurse habe die Rezeption Heines ganz entscheidend bestimmt - und das für lange Zeit. Dabei könne das Problem Heine, das Adorno die "Wunde Heine" genannt hat, keineswegs auf den rassistischen Diskurs reduziert werden.

In gewissem Sinne habe Adorno, dessen problematischem Urteil über Heines Lyrik Hohendahl einen beeindruckenden Aufsatz widmet, noch unter dem Bann dieser rezeptionsgeschichtlichen Konstellation gestanden. Karl Kraus, der unter dem Eindruck von Goethes Genieästhetik von der Geschichtlichkeit künstlerischer Produktionen absah, maß Heine an Normen, die dieser kritisiert und überwunden hatte. So lastete Kraus ausgerechnet Heine die Kommerzialisierung von Sprache an, die dieser innerhalb der deutschsprachigen Literaturtradition als einer der ersten bemerkt hatte und, was das wesentlich moderne Element in Heines Literatur ausmacht, diese Einsicht kritisch in seine Literaturproduktion einbezog. Vertrackt sei nun, dass Adorno, der zur Rehabilitierung Heines angetreten sei, stattdessen Vorbehalte gegenüber Heines Lyrik reproduziert habe. Weil Adorno nach dem Holocaust an der Idee der Authentizität von dichterischer Sprache festhielt, konnte sich Karl Kraus' Ablehnung des von ihm gering geschätzten Feuilletons mit den Erfahrungen des nach Deutschland zurückgekehrten Remigranten mit der deutschen Sprache während des Faschismus verbinden.

Obwohl sich Hohendahl fast skrupulös mit Adornos Argumentation auseinandersetzt, zeigt er doch deutlich, wo dessen teilweise kulturkonservative Positionen Heine nicht gerecht werden. Gegenüber Heines Modernität, die auf komplizierte Weise mit dessen jüdischer Herkunft verbunden sei, bliebe Adorno "blind", weil er ohne genauere Analyse der komplexen Weise, in der Heine mit dem romantischen Erbe umging, die Heinesche Lyrik auf ihren romantischen Charakter festlegte. Im Gegensatz zu Hannah Arendt lehnte Adorno auch die innovativen Verbindungen in Heines Sprachgebrauch aus Deutsch, Jiddisch und Hebräisch ab, auch hier unter dem Einfluss von Karl Kraus stehend und der von ihm übernommenen Idee von sprachlicher Reinheit.

Der Band schließt mit einem Ausblick auf Themen und Tendenzen zukünftiger Heineforschung nach der vollzogenen Kanonisierung des Autors. In seinen Vorschlägen setzt Hohendahl am erreichten status quo an, der unter anderem eine Verabschiedung all jener Positionen beinhaltet, die auf eine "Aktualisierung Heines unter dem Vorzeichen einer historisch begründeten Zukunftserwartung" zielten.

Auch wenn der Streit um Heine heute weitgehend beigelegt ist, sind damit nicht automatisch auch alle Forschungsinteressen aus diesem Abschnitt der Heine-Philologie, der in etwa mit dem Ende der Blockkonfrontation schließt, schon als erledigt anzusehen. Die vorliegende Aufsatzsammlung kann selbst als überzeugender Beweis dafür gelten, wie auch ein wesentlich von Kontinuität geprägtes, in den frühen 1970er-Jahren einsetzendes Forschungsinteresse weiterhin Relevanz besitzt. Der Philologe hat entscheidend dazu beigetragen, die Frage nach Heines Verhältnis zur (literarischen) Moderne als Forschungsgegenstand zu etablieren und zu konturieren. Ihm ist zuzustimmen, dass Heines Stellung innerhalb der europäischen Moderne noch längst nicht erschöpfend untersucht worden ist. Die zentrale thematische Schneise, die Hohendahl in seinen fundierten Analysen geschlagen hat, dürfte daher auch in Zukunft ein bedeutsamer Gegenstand der Heineforschung bleiben.


Titelbild

Peter Uwe Hohendahl: Heinrich Heine: Europäischer Schriftsteller und Intellektueller.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
248 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098460

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