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Roddy Doyles Roman "Paula Spencer" überzeugt vor allem durch leise Töne

Von Jens ZwernemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Zwernemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich geht es Paula ganz gut. Zumindest verhältnismäßig. Ihren gewalttätigen Mann Charlo hatte sie schon lange vor die Tür gesetzt, bevor er bei einem fehlgeschlagenen Raubüberfall von der Polizei erschossen wurde. Von ihren vier Kindern wohnen nur noch die beiden jüngeren, Leanne und Rick, bei ihr. Paula hat einen geregelten Job, wurde unlängst gar zur Aufsicht ihrer Putzkolonne befördert, und überdies naht ihr 48. Geburtstag. Worauf sie besonders stolz ist: Sie ist trocken, seit mehr als vier Monaten: "Seit über vier Monaten hat sie nichts mehr getrunken. [...] Vier Monate, fünf Tage. Ein Dritteljahr. Fast eine halbe Schwangerschaft."

In "Paula Spencer" schreibt der irische Autor und Booker-Prize-Gewinner Roddy Doyle die Lebensgeschichte der von ihrem Mann misshandelten und alkoholsüchtigen Protagonistin aus "Die Frau, die gegen Türen rannte" weiter und führt den Lesern eine zehn Jahre ältere Paula vor Augen. Da kommen natürlich leicht die schlimmsten Befürchtungen auf: Vom kalten Kaffee etwa, der noch einmal aufgewärmt wird, von der lieblos zusammengeschriebenen Fortsetzung, oder gar von sentimental-kitschiger Betroffenheitsliteratur mit moralinsaurer 'Botschaft'. Doch glücklicherweise ist Doyle ein viel zu gewiefter Autor, als dass er einen dieser Fehler beginge.

Ganz im Gegenteil: Indem er vollständig hinter seiner Figur zurücktritt, lässt Doyle die Leser das Geschehen weitgehend aus Paulas Perspektive wahrnehmen; dadurch stellt sich beim Lesen schnell das Gefühl ein, dass es sich bei der Protagonistin nicht um eine fiktive Figur handelt, sondern eher um eine reale Person, mit der man schon lange gut bekannt ist. Die konsequente Perspektivierung erstreckt sich auch auf die sprachliche Gestaltung des Romans: Es sind die kurzen, wenig elaborierten Sätze Paulas, mit denen die Leser konfrontiert werden. Das mag anfangs ungewohnt, ästhetisch zunächst wenig befriedigend erscheinen, doch schon nach wenigen Seiten wirkt Paulas Sprachduktus so authentisch, dass man sich eine Alternative dazu kaum mehr vorzustellen vermag. Dass dies auch in der deutschen Version so überzeugend gelingt, ist nicht zuletzt das Verdienst der Übersetzerin Renate Orth-Guttmann.

Durch die sprachliche Gestaltung vermag Doyle die Hoffnungen und Ängste seiner Figur auf ebenso unaufgeregte wie glaubhafte Weise zu verdeutlichen; dabei lässt er - fern ab von Sentimentalitäten oder moralischen Zeigefingern - Paula zuweilen hart mit sich ins Gericht gehen: So ist ihr durchaus bewusst, dass ihre Alkoholsucht bei ihren Kindern teilweise tiefe Narben hinterlassen hat, und sie bemüht sich, gelegentlich fast schon verzweifelt, ihre früheren Fehler wieder gutzumachen.

Sie sucht den Kontakt zu ihrem ältesten Sohn John Paul, der seine eigene Drogensucht erst unlängst überwunden hat, und kämpft (durchaus auch buchstäblich) mit ihrer Tochter Leanne, deren Alkoholabhängigkeit Paula auf das schlechte Beispiel zurückführt, das sie ihr gewesen ist: "Leanne macht Paula angst. Die Schuldgefühle sind immer da. Leanne ist zweiundzwanzig. Leanne macht ins Bett, aber sie kann damit umgehen. Schlimm. Ihre Schuld. Paulas Schuld. Das ganze Schlamassel. Ein Großteil von Leannes Leben."

Häusliche und familiäre Katastrophen, wie etwa die Krebserkrankung von Paulas nur mäßig geliebter Schwester Carmel, werden ebenso wie das abschließende (relative) happy ending gänzlich unspektakulär, dadurch aber keinesfalls weniger eindringlich dargestellt. Dass es Doyle gelingt, selbst tragische Ereignisse noch mit einem Quäntchen irisch-britischen Humors zu präsentieren, ohne dabei jedoch in Geschmacklosigkeiten abzudriften, steigert das Lesevergnügen zusätzlich.

Scheinbar nebenbei zeichnet der Autor schließlich auch noch ein Bild der jüngsten irischen Geschichte: Der Roman spielt im Jahr 2005, dem Todesjahr des Papstes, der in Irland nicht nur für Paulas Sohn als Namenspatron fungierte. Es ist die Zeit vor der globalen Finanzkrise und der 'keltische Tiger' kann mit einem bemerkenswerten Wirtschaftswachstum aufwarten. Dass das traditionelle Auswanderungsland Irland nun plötzlich nicht nur Iren aus aller Welt in die Heimat zurück lockt, sondern auch Fremde anzieht, äußert sich für Paula primär in alltäglichen Begegnungen: Mit der von ihr mit Sympathie und Interesse betrachteten afrikanischen Kassiererin im lokalen Supermarkt etwa, oder dem machohaften Rumänen in ihrer Putzkolonne.

Während ihre älteste Tochter Nicola es tatsächlich zu einigem Wohlstand gebracht hat, ist Paulas Anteil an der neuen nationalen Prosperität bescheiden - und hart erarbeitet. Sie macht Überstunden, um Rick endlich einen Computer kaufen zu können und gönnt sich selbst eine Stereo-Anlage nebst U2-CD: "U2 - blöder Name, hat sie immer gedacht. Sie kommen aus ihrem Stadtteil aber Paula hat sie verpasst. Sie lag zusammengeschlagen auf dem Fußboden, während U2 berühmt wurden. [...] Sie will es laut haben. [...] Es gibt eine Skala für die Lautstärke. Sie dreht dran, [...] Und da fällt die Musik über sie her. Sie strahlt LIGHTS - GO DOWN. IT'S DARK. Genau das, was sie wollte. THE JUNGLE IS YOUR HEAD. Es ist modern, weckt keine Erinnerungen. Da flennt kein altes Weib ins Glas, da schaut Paula Spencer in die Zukunft."

Roddy Doyles "Paula Spencer" ist ein außergewöhnlich gelungener Roman, den man, einmal angefangen, kaum mehr aus der Hand zu legen vermag. Wohltuend sticht er aus der Masse literarischer Mediokrität heraus, versteht es Doyle doch, ein in der Literatur keinesfalls selbstverständliches Kunststück zu vollbringen: Allein schon die Tatsache, dass der Autor nicht der allseits beliebten narrativen Nabelschau frönt, sondern etwas tatsächlich Relevantes zu sagen hat, ist bemerkenswert. Was den Roman jedoch in besonderem Maße auszeichnet, ist der Umstand, dass Doyle dies auf so gleichermaßen luzide wie eindringliche Weise zu schreiben vermag, dass man es auch ohne jahrzehntelanges Literaturstudium oder stundenlange Textexegese verstehen kann und dabei sogar noch Vergnügen an der Lektüre empfindet. So sollte Literatur sein!


Titelbild

Roddy Doyle: Paula Spencer.
Übersetzt aus dem Englischen von Renate Orth-Guttmann.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
301 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783446230552

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