Die Franko-Romanistik in einem Band

Ein geistes- und sozialwissenschaftliches Handbuch zur französischen Sprache, Literatur, Kultur und Gesellschaft

Von Isabelle MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabelle Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das "Handbuch Französisch" hat einen mutigen Schritt gewagt: Die Französisch-Forschung unterschiedlichster Bereiche der geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen wurde vereint und zur Reflexion über den derzeitigen Kenntnisstand angehalten. Das Werk ist das einzige seiner Art, das sich dieser von Zeit zu Zeit notwendigen Mammutaufgabe eines jeden Faches gestellt hat. Auf die ambitionierte Zielsetzung verweisen bereits die beiden Untertitel: Der erste entfaltet mit den Gebieten "Sprache, Literatur, Kultur, Gesellschaft" ein breites thematisches Panorama, der zweite benennt mit "Für Studium, Lehre, Praxis" einen weiten Einsatzbereich. Zielgruppen bilden demnach "Studierende des Faches Französisch in allen Studiengängen, Lehrende in Schulen und Hochschulen sowie alle Interessierten, die sich in Erziehungsinstitutionen, Verlagsredaktionen, Medienorganisationen, Wirtschaftsunternehmen, transnationalen Mittlerorganisationen mit den historischen und gegenwärtigen Gegebenheiten der französischsprachigen Welt auseinandersetzen". Ein dermaßen heterogenes Publikum anzusprechen stellt eine große Herausforderung dar, sind doch die Erwartungen und Bedürfnisse der verschiedenen Gruppen sehr unterschiedlich.

Das erstmals 2002 erschienene Werk liegt nunmehr in zweiter, überarbeiteter Auflage vor. Die grundlegende Struktur blieb unverändert. Es wurden Angaben aktualisiert, Literaturhinweise ergänzt, einzelne Kapitel leicht modifiziert und Überschriften präziser gefasst. Neu hinzugekommen ist lediglich das Kapitel zum interkulturellen Management zwischen Deutschland und Frankreich im kultur- und landeswissenschaftlichen Teil.

Der Band gliedert sich in sechs große Teile: "Das Französische als Nationalsprache und als Weltsprache", "Das Französische als Lernsprache", "Das Französische in der verbalen Interaktion", "Kultur- und landeswissenschaftliche Themen", "Die französischsprachigen Literaturen" sowie "Fachgeschichte und Hilfsmittel". Damit erfasst das Werk alle derzeit an deutschen Universitäten etablierten romanistischen Forschungsbereiche. Die ersten drei Teile sind der Linguistik zuzuordnen, die übrigen der Kultur-, Landes- und Literaturwissenschaft. Quantitative Schwerpunkte treten deutlich zu Tage: Linguistische sowie kulturwissenschaftliche und landeskundliche Themen liegen mit 383 beziehungsweise 352 Seiten eindeutig vor den 206 Seiten umfassenden literaturwissenschaftlichen Erörterungen. Bis auf "Fachgeschichte und Hilfsmittel" umfasst jeder Teil zwei bis sechs Kapitel, die ihrerseits wiederum in bis zu 20 Unterkapitel aufgegliedert sind. Auf eine komplizierte Gliederung wurde verzichtet und stattdessen für eine durchgehende Nummerierung optiert, was zur hohen Benutzerfreundlichkeit beiträgt. Für die übersichtlich gegliederten Artikel zu den einzelnen Themenbereichen wurden namhafte Experten des betreffenden Fachbereiches gewonnen.

Im Folgenden soll die Vielfalt der einzelnen Gebiete näher beleuchtet werden. Im mit "Das Französische als Nationalsprache und als Weltsprache" überschriebenen ersten Teil wird zunächst eine linguistische Beschreibung des Französischen sowohl aus synchroner als auch diachroner Perspektive vorgenommen, bevor die heutigen diatopischen, diastratischen und diaphasischen Varietäten vorgestellt werden. Hierbei verwundert die Einordnung des fünften Unterkapitels "Die Verbreitung des Französischen in der Welt" unter die synchronische und diachronische Perspektive; es hätte sinnvoller in das Varianten-Kapitel gepasst. Der erste Teil schließt mit drei Beiträgen zur Bedeutung und zum Gebrauch des Französischen, wobei hier Ausführungen zur Sprachpolitik Frankreichs fehlen; das Thema wird lediglich im Zusammenhang mit Québec behandelt. Dieser für Frankreich so bezeichnende Gegenstand verlangt nach einer ausführlichen Behandlung und sollte sich nicht auf einen Hinweis zur Französischen Revolution beschränken. Die französische Sprachpolitik hat in entscheidendem Maße zur Verbreitung der strengen präskriptiven Norm beigetragen, welche zu der heute bestehenden Kluft zwischen français parlé und français écrit beigetragen hat.

Der zweite Teil - "Das Französische als Lernsprache" - sowie der dritte Teil - "Das Französische in der verbalen Interaktion" - beschreiben nacheinander die einzelnen sprachlichen Ebenen, beginnen also mit der Phonetik und Phonologie bei den kleinsten Bausteinen der Sprache, den Lauten, gehen dann über zu den Formen im Bereich Morphologie und Wortbildung, mit dem auch das Thema Wortschatz verbunden ist, und enden mit Ausführungen zum Satz. Dieses Vorgehen hat sich nicht nur in romanistischen Einführungswerken in die Sprachwissenschaft bewährt.

Das erste Kapitel geht auf die Themen Aussprache und Rechtschreibung ein. Die beiden Unterkapitel 17 und 18 vermitteln einen Überblick über das lautliche Inventar des Französischen, sind jedoch keinesfalls als Phonetikkurs misszuverstehen. Diesen wollen und können sie nicht ersetzen; es geht vielmehr um eine Systematisierung der Laute und ihrer Funktionen im heutigen Französisch. Die beiden Autoren gehen dabei auch auf neuere Entwicklungen in der Aussprache ein, die - auf lange Zeit gesehen - das lautliche System verändern werden, insbesondere im Bereich der Vokale. Bei diesen zutreffenden Beschreibungen sollten noch Angaben zu den Räumen gemacht werden, da es sich - sowohl in Frankreich als auch in den übrigen frankophonen Ländern - keinesfalls um überall gleichermaßen verbreitete Entwicklungen handelt und insbesondere die Zielgruppe der Studierenden keinen falschen Eindruck gewinnen sollte; darauf nur in der Einleitung zu verweisen, scheint etwas gewagt.

Weiterhin wären im ersten Kapitel des zweiten Teils aus der Perspektive von Studienanfängern, immerhin einer der Hauptzielgruppen des Bandes, noch folgende Präzisierungen nötig, um keine unnötige Verwirrung zu stiften: So sollten die Begriffe Phonetik und Phonologie bereits in den Kapitelüberschriften genannt und später auch in den beiden betreffenden Kapiteln definiert werden. Eine Beschreibung des segmentalen Systems des Französischen (Kapitel 17) ist für den bereits versierten Linguisten ohne Zweifel verständlich, geht jedoch an den Bedürfnissen eines breiter definierten Zielpublikums (vergleiche Vorwort und Klappentext) vorbei; dieses benötigt dringend eine Definition des Phonembegriffes, um beispielsweise die Ausführungen zum Vokalphonem- und Konsonantenphonemsystem in Kapitel 17 auch mit Gewinn rezipieren zu können.

Sehr erfreulich sind die - wenn auch kurzen - Ausführungen zur französischen Zeichensetzung im folgenden Unterkapitel, das auch die Rechtschreibung mit abdeckt. Hinweise zur Zeichensetzung fehlen in den meisten Grammatiken; sie wird zudem in universitären Sprachkursen oftmals nicht thematisiert und führt daher zu einer großen Verunsicherung der Studierenden in diesem Bereich.

Das zweite Kapitel des zweiten Teils beschäftigt sich mit dem intensiv erforschten Gebiet des Wortschatzes, wobei auch die ehemals dominierende, heute jedoch weit zurückgefallene Etymologie/Wortgeschichte zu ihrem Recht kommt. Schwerpunktmäßig werden jedoch die heutigen Strukturen des Wortschatzes beschrieben, so dass hier ein präziserer Titel, etwa "Wortschatz und Semantik", zu erwägen wäre, da die behandelten Phänomene (insbesondere Metaphern und Anglizismen) genau diesen Bereich umfassen.

Als ebenso gut erforscht wie Wortschatz und Semantik kann auch die Wortbildung gelten, die Thema des dritten Kapitels ist. Nach einem Überblick über die vorhandenen Wortbildungsmöglichkeiten im Französischen (Kapitel 27) und den derzeit produktiven Wortbildungsmustern (Kapitel 28) widmen sich die Autoren anschließend der Phraseologie, einem Gebiet, das noch lohnende Forschungsperspektiven verspricht.

Im Gefolge der Ausführungen zu Wortschatz, Semantik und Wortbildung vermisst der geneigte Leser einen Überblick zur Lexikografie, der auch mit Blick auf die anderen frankophonen Räume lohnend wäre; es ließen sich interessante Vergleiche anstellen.

Im dritten Teil werden unter anderem die oberste sprachliche Ebene, die Textlinguistik sowie die damit verbundene Diskursanalyse behandelt. Das sehr gelungene Unterkapitel zum Diskurs (Kapitel 43), ein derzeit intensiv diskutiertes Thema in den Philologien, greift die in den verschiedenen Disziplinen entwickelten Definitionen auf und beschreibt das Konzept Diskurs in Abgrenzung zum Begriff Text, bevor am so genannten Genfer Modell Leistungen und Defizite dieses Ansatzes diskutiert werden. Vertieft wird es durch den sich anschließenden Artikel zu den verschiedenen Diskurstypen. Die übrigen Unterkapitel stehen jedoch unverbunden nebeneinander. In dem Text zum geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch, ein bislang für das Französische noch kaum bearbeitetes Gebiet, fehlt der Zusammenhang zum Text- und Diskursstruktur-Kapitel; dasselbe gilt für das Unterkapitel "Sprache und Werbung". Anders als im Artikel "Sprachspiele" wird einleitend kein Versuch unternommen, die jeweilige Thematik in den übergreifenden Rahmen der Text- und Diskursstrukturen einzubauen. Für die Ausführungen zum geschlechtsspezifischen Sprachgebrauch hätte sich eine Einordnung zwischen die im ersten Teil besprochenen Variationsebenen Diastratik und Diaphasik, im Sinne einer exemplarischen Analyse, als sinnvoller erwiesen. Die Abhandlung zum Verhältnis zwischen Sprache und Werbung muss sich neben dem fehlenden Bezug zur Text- und Diskursthematik auch eine Kritik hinsichtlich der fehlenden Definition des Begriffes Werbesprache gefallen lassen; die Besprechung der zahlreichen ermittelten Beispiele hätte überdies von einer logischen Strukturierung profitiert.

Mit dem vierten Teil verlassen wir den linguistischen Themenkomplex, um den Blick auf "Kultur- und landeswissenschaftliche Themen" zu richten. Zunächst wird wissenschaftsgeschichtlich konsequent die Entwicklung von der ehemaligen Landeskunde zu den heutigen Kultur- und Landeswissenschaften thematisiert. Da beide Teilfächer jeweils allein problemlos ein Handbuch des gleichen Umfangs wie das vorliegende füllen könnten, wird zu Recht darauf hingewiesen, dass "die Themenvielfalt der gesamten französischsprachigen Welt hier nur in selektiv-exemplarischer Weise und mit dem Mut zur Lücke angegangen werden konnte". Dieses Vorhaben ist in den folgenden Kapiteln gelungen, bei denen lediglich einige logische Umstellungen vorgeschlagen werden sollen. So könnte die Thematisierung des Begriffes sowie Konzeptes Francophonie beziehungsweise francophonie besser vor der Vorstellung der einzelnen frankophonen Räume erfolgen. Innerhalb dieser Letzteren wiederum könnten die vier Unterkapitel (54-57) zu Frankreich ans Ende gesetzt werden, so dass sich eine nahtlose Überleitung zum vierten Kapitel "Frankreich: historisch-systematische Problemfelder und Begriffe" ergäbe. Wie der Titel bereits andeutet, stehen hier vor allem historische, politische und gesellschaftliche Gegebenheiten im Vordergrund, ohne deren Kenntnis eine Auseinandersetzung mit aktuellen Frankreich-bezogenen Fragestellungen oberflächlich bleiben muss. Ergänzt werden diese Abhandlungen durch das folgende Kapitel zur kulturellen Kommunikation, in welchem auch wieder der Blick über Frankreich hinausgeht und Québec sowie Belgien stellvertretend für andere frankophone Räume berücksichtigt werden. Die kultur- und landeswissenschaftlichen Betrachtungen schließen mit einem fundierten Überblick zu den deutsch-französischen Beziehungen, der sowohl die historische als auch die aktuelle Perspektive erfasst und zudem die wechselseitige Wahrnehmung zwischen beiden Ländern thematisiert.

Für den fünften Teil, der den französischsprachigen Literaturen gewidmet ist, wurde eine sinnvolle Dreiteilung gewählt: So werden im ersten Kapitel zunächst literaturtheoretische Grundlagen gelegt, bevor der Blick dann sowohl auf die französischsprachige Literatur inner- als auch außerhalb Europas gelenkt wird, wobei versucht wurde, alle Gattungen zu berücksichtigen. Dies ist allerdings nur ansatzweise gelungen: Das Kapitel zu den frankophonen Literaturen außerhalb Europas erfasst zwar die wichtigsten frankophonen Großräume mit einer Schwerpunktsetzung auf Nordamerika, ist insgesamt jedoch noch deutlich ausbaufähig, gerade angesichts der detaillierten Vorstellung der frankophonen Räume im kultur- und landeswissenschaftlichen Teil. Die Beseitigung dieses Ungleichgewichtes wäre ein Desiderat einer wünschenswerten dritten Auflage.

Gelungen ist die Aufbereitung der theoretischen Grundlagen. Die Auseinandersetzung um den Literaturbegriff gehört zu einem der zentralen Konflikte innerhalb der Literaturwissenschaft. Ausgehend von der Komplexität des Phänomens Literatur wird deutlich, dass die literaturwissenschaftliche Universalmethode nicht existieren kann, nicht existieren darf. Das Ringen um Begriff und Methode zeigt anschaulich auf, dass es auch in den Geisteswissenschaften keinesfalls um für alle Zeiten feststehende Erkenntnisse geht, dass unterschiedliche Ansätze einander ergänzen, aber auch widersprechen können - ein Umstand, der insbesondere Studienanfängern oft Unbehagen bereitet. In den einzelnen Unterkapiteln wurde ein sehr weiter Literaturbegriff angesetzt, was die Berücksichtigung von Themen wie Chanson, Film oder Karikaturen beweist.

Der sehr überschaubare sechste Teil führt in Fachgeschichte und Hilfsmittel für das Studium der (Franko)-Romanistik ein. Letzteres besticht durch eine umsichtige, sehr detailliert und strukturiert erstellte Liste von gedruckten Werken und Internetquellen mit einem Schwerpunkt auf sprach(wissenschaft)lichen Informationen. Diese Sammlung liefert nicht nur Studienanfängern den ein oder anderen wertvollen Hinweis; Frankophile werden insbesondere die detaillierten Angaben zu den kultur- und landeswissenschaftlichen Hilfsmitteln zu schätzen wissen.

Der Anhang gibt in Form von Karten und Tabellen Aufschluss über die Verbreitung der französischen Sprache in der Welt, über frankophone Sprecherzahlen in den jeweiligen Ländern und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die statistischen Angaben werden durch übersichtliche Karten zu Afrika, Ostkanada, Belgien/Luxemburg und der Schweiz ergänzt. Hier hätte man sich noch eine umfassende Darstellung der übrigen zuvor behandelten frankophonen Räume gewünscht.

Insgesamt lässt sich festhalten: Es ist gelungen, das auf dem Siegener Romanistentag 1985 von zwei herausragenden Vertretern - Fritz Nies und Harald Weinrich - in selbstironisch-kritischer Absicht bezeichnete "unmögliche Fach" zwischen zwei Buchdeckel zu vereinen, zumindest die Franko-Romanistik. Das umfassend angelegte Werk besticht durch seine Informationsdichte bei gleichzeitiger übersichtlicher Strukturierung. Es bietet einen Einblick in den aktuellen Stand der Forschung und reflektiert die breit gefächerten Interessen der Romanistik. Erfreulich ist insbesondere die ausführliche Berücksichtigung der Frankophonie, die gerade in Einführungswerken sowohl zur Sprach- als auch zur Literaturwissenschaft meist viel zu kurz kommt. Es ist gelungen, ein heterogenes Publikum anzusprechen und die Informationen gefällig aufzubereiten, ohne Abstriche zulasten der Fachlichkeit machen zu müssen. Der ausführliche Sach- und Personenindex macht den Band überdies zu einem ausgezeichneten Nachschlagewerk. Kurzum: Das Handbuch ist nicht nur Studierenden der BA- und Masterstudiengänge zu empfehlen, sondern gehört darüber hinaus in die Bibliothek eines jeden Frankophilen.

Man wünscht sich mehr solcher Werke, die in so umsichtiger Form sprach(wissenschaft)liches, literaturwissenschaftliches, landeskundliches und kulturelles Wissen vereinen. In diesem Sinne wäre es ein wirkliches Desideratum, dass auch andere Philologien - im Bereich der Romanistik insbesondere die Hispanistik oder Italianistik - ein solches Projekt wagen. Die Herausforderung, das eigene Fach in seiner ganzen Breite und Vielfalt zu präsentieren und gleichzeitig einem heterogenen Publikum übersichtliche Informationen zu vermitteln, zwingt zur Reflexion nicht zuletzt über den eigenen (wissenschaftlichen) Standpunkt.


Titelbild

Ingo Kolboom / Thomas Kotschi / Edward Reichel (Hg.): Handbuch Französisch. Sprache - Literatur - Kultur - Gesellschaft.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2008.
1062 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098309

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