Die bienengroße Seele

In Anna Kims Roman "Die gefrorene Zeit" kämpft die Kunst klug mit der Katastrophe

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erstaunlich, wie immer wieder aus der Publikationsflut Werke auftauchen, die einen so unmittelbar ansprechen, dass es erschreckt. Und nicht nur im Thema oder dem, was man landläufig den Inhalt nennt, sondern im Stil, in der Komposition, in der Freiheit des Rhythmus. Es sind Bücher, wie Franz Kafka sie einmal forderte, solche, die stechen, wehtun, schmerzen. Trostlosigkeit allerdings forderte er nicht.

Für Anna Kims Roman "Die gefrorene Zeit" gilt all das ohne Frage, denn wie souverän werden hier ergreifende Liebesgeschichten mit dem Bürgerkrieg im Kosovo verbunden, wie bohrend fragt der Text nach der Stellung der Toten in unserem Leben, wie führt er die Tradition und das Ritual als Kerker und als schönen, tröstlichen Halt vor, wie nähert er Aberglauben und das Erzählen einander an, wie verquickt er Lieben, Vermissen und Hassen.

Ein nur zu häufiges Schicksal umkreist das kurze, spannende Buch, die Suche nach einer Vermissten. Der Kosovare Luan fahndet seit sieben Jahren nach seiner Frau Fahrie, die in seiner Abwesenheit entführt wurde. Die Mitarbeiterin des Roten Kreuzes Nora macht den "Fehler", seine Geschichte an sich heranzulassen, die professionelle Distanz aufzugeben und gerät damit tief in die Gedankenstrudel hinein, die so viele zu verschlingen drohen, deren Angehörige im Bürgerkrieg plötzlich verschwanden.

Kim, die in Wien lebt und Philosophie wie Theaterwissenschaft studierte, widmet sich kunstvoll quälend der fast zombiehaften Existenz Luas, der keinen Weg aus dem Irrgarten seiner Gefühle findet. Dabei beschreibt sie sehr detailgenau und akribisch korrekt, was man wissen muss, um Vermisste zu identifizieren, wie die Angehörigen in einem Zwischenreich vegetieren, in dem alles schuldverseucht und verwirrend ist.

Doch plötzlich springt die Geschichte in andere Dimensionen, als man Fahrie gefunden hat. Genau in diesem Moment beginnt Kim, die Frau mit Leben zu erfüllen, die Liebesgeschichte zwischen Fahrie und Luan zu erzählen. Sie lässt Nora mit ins Kosovo fliegen, teilhaben an der Familientrauer, der Beerdigung.

Genau bis ins Einzelne und oft schmerzhaft plastisch beschreibt sie die Gegend, die Städte, die Menschen und die Traditionen, fabuliert mal, lässt Fantasien Raum, um sich dann wieder dem harten Alltag der Pathologen vor Ort zu widmen, denen die Auffindung all der Vermissten zu verdanken ist. Aus Clea Koffs höchst empfehlenswertem Buch "Die Knochenfrau" weiß man etwas über die elende, die wichtige, die menschliche und unmenschliche Aufgabe dieser Spezialisten. Kim aber bindet sie ganz organisch in ihre Geschichte und in ihre Sprache ein.

Das ist wohl neben der so überzeugenden wie überraschenden Komposition Kims größte Leistung, Fachsprache, Mythos, Detailreichtum, Reflexion und Poesie zu vereinen in hoch konzentrierter Form. Im Gegensatz zu ihren Figuren gelingt es der jungen Autorin dabei, in ihrem zweiten Roman, immer die heikle Balance zwischen Empathie und Distanz zu halten. So kann auch die Lektüre oszillieren zwischen Sprachbegeisterung und Entsetzen über die beschriebenen Leiden, zwischen Mitleid und Mitdenken, zwischen literarischem Genuss und menschlichem Verzweifeln, zwischen Mithassen und Mitlieben. Zeitgeschichte - auch das ist ein Verdienst des Romans - wird lebendig, Vergessenes und Verdrängtes wie der Bürgerkrieg in Jugoslawien kehrt wieder. Der Tod hat auch im Roman das letzte Wort, aber nicht die Mörder. Einfache Antworten kennt er nicht, aber gibt dem Verschwiegenen eine Stimme.


Titelbild

Anna Kim: Die gefrorene Zeit. Roman.
Literaturverlag Droschl, Graz 2008.
148 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783854207429

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