Deutsche Auf-Brüche

Ein von Inge Stephan und Alexandra Tacke herausgegebener Sammelband prüft die (Rück-)Übersetzbarkeit der RAF in die Künste

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Nachbilder" sind eigentlich Phantombilder, die man nach dem Blick auf helle Flächen wahrnimmt. Der von Inge Stephan und ihrer Mitarbeiterin Alexandra Tacke herausgegebene Sammelband enthält aus der Perspektive des so genannten "Jubiläumsjahres" 2007 (doch wer wollte wegen 30 Jahren "Deutscher Herbst" jubilieren?) knapp 20 Aufsätze zu künstlerischen und medialen Repräsentationen der RAF etwa seit der Jahrtausendwende, als die wichtigste deutsche Terrororganisation der Nachkriegszeit bereits Geschichte war. Schon vor dem 11. September, besonders aber seitdem zeichnete sich ein verstärktes Interesse an der RAF ab, die 1998, fast ohne damit öffentliche Resonanz zu erzeugen, ihre Selbstauflösung bekannt gegeben hatte.

Schwerlich nachzuvollziehen ist die These der Herausgeberinnen, die RAF sei lange Zeit "eher tabuisiert" gewesen - Stefan Austs RAF-Bestseller von 1985 ist ein Gegenbeispiel von mehreren. Der RAF-Diskurs verschwand nie ganz aus der Öffentlichkeit, er kehrte nach 2001 bloß verstärkt zurück. Inzwischen ist die Ansicht Gemeingut geworden, dass die führenden Mitglieder virtuose Medieniszenatoren ihrer selbst gewesen seien, dass die RAF auch, aber nicht nur deshalb ein Medienthema mit Langzeitwirkung geworden ist.

Gewiss: die Literaten der 1970er-Jahre näherten sich, wenn man von Heinrich Böll einmal absieht, der Thematik nur sehr zurückhaltend, es war schlicht politisch inopportun. Doch wie an alle historisch oder politisch begründete Großerzählungen ist auch an die von der RAF die Frage nach der Selektivität in unterschiedlichen Zeiträumen heranzutragen. Das Bild eines 'coolen' Andreas Baader ist offenbar erst am Anfang des 21. Jahrhunderts möglich gewesen, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod des realen Baader. Auch der auf den ersten Blick erstaunliche linke Antisemitismus der RAF konnte erst in dem Maße zur Kenntnis genommen werden, wie offensichtliche und verborgene antisemitische Haltungen in Geschichte und Gegenwart immer detailgenauer offengelegt wurden.

Sehr erfreulich ist die thematische Vielfalt der Beiträge. Die RAF wird als Pop-Phänomen in Roman und Film kenntlich, aber auch an ihre ursprünglich einmal vorhandenen Avantgarde-Bezüge wird erinnert. Schwerpunkte sind außerdem die zentralen Personen, RAF-Filme sowie "Bilderpolitiken & Medien".

Drei Aufsätze seien hier herausgegriffen: Alexandra Tacke untersucht das schon angedeutete Bild Andreas Baaders, das in Leander Scholz' Baader-Ensslin-Roman "Liebesfest" und in Christopher Roths Film "Baader" für die von einer nachgewachsenen Generation gewagte "dreiste Fiktionalisierung" steht, die sich allen Versprechungen einer Reauthentifizierung à la Heinrich Breloer oder auch Guido Knopp ästhetisch produktiv widersetzt. Baader darf nun ein Privatleben haben, er glänzt als Dandy und Medienvirtuose - er wird, keineswegs ironiefrei, als Promi neu entworfen. Diese Ikonisierung kann nicht verwundern, kennen doch die Nach-68er-Generationen weniger Texte als Bilder der RAF.

Katharina Pewny untersucht Ulrike Meinhofs Wiederkehr in Elfriede Jelineks 2006 uraufgeführtem Stück "Ulrike Maria Stuart". Dieses Stück "zerlegt" die Figur Meinhof in ein Zeichenensemble, das neben vielem anderen auch mediale Inszenierungen der historischen Person zitiert. Im postdramatischen Theater repräsentieren SchauspielerInnen nicht Rollen, sondern Diskurse. Der Regisseur Nicolas Stemann inszeniert ein "Spektakel aus zeitgenössischer Perspektive", das aktuelle Debatten um Terrorismus und Kriegführung einbezieht und dabei an der Ikone Meinhof kaum ein gutes Haar lässt, aber eben als "Spektakel" von der neoavantgardistischen Selbstinszenierung der frühen RAF möglicherweise weniger weit entfernt ist, als es den Beteiligten bewusst wurde.

Jesko Bender bringt ein hochaktuelles Stichwort in die Diskussion ein, ohne leider die durchaus brisanten Querverbindungen zur RAF gründlich zu prüfen: das Denkmuster der historischen 'Zäsur' im deutschen Terrorismus-Diskurs nach dem 11. September. Die Erzählsituation von Ulrich Peltzers Roman "Bryant Park" jedenfalls leistet dem seit dem Jahr 2001 oft wiederholten Eindruck Vorschub, "danach" sei nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war. Zu Recht verknüpft Bender diesen Wunsch, historische Zäsuren als radikale Nullpunkte zu setzen, mit einem "Mythos des Aufbruchs" - mehr noch: kleinere und größere Apokalypsen haben nach langen Strecken der Kontinuität befreiende Wirkung, sie ermöglichen einen Neuanfang. Literarische Texte, die einen solchen Neuanfang ins Kalkül ziehen, sind Thomas Hettches Roman "Woraus wir gemacht sind" oder Katharina Hackers Erfolgsbuch "Die Habenichtse", beide 2006 erschienen. Von heute aus gesehen ist die Zäsur des 11. September als das 'eigentliche' Ereignis der Jahrtausendwende so sinnvoll wie die 'Stunde Null' 1945. Man könnte Francis Fukuyamas Vor-89er-Zitat vom "Ende der Geschichte" dagegen halten. Mit immer neuen Zäsuren beweisen wir uns mittlerweile, dass die Geschichte nicht stehenbleibt.

Wenn also Frank Schirrmacher zur "Finanzkrise" Ende 2008 anmerkt, der durch den Bundesfinanzminister Peer Steinbrück ausgesprochene Satz, "nichts werde mehr sein wie zuvor, ist von großer Weisheit", dann steckt hinter der scheinbar von Erschrecken gezeichneten Diagnose einer plötzlichen, historisch hochwirksamen Veränderung wiederum dieser apokalyptische Wunsch nach einem Neuanfang.

Doch einen solchen spürten die Zeitzeugen des 'Deutschen Herbstes' gerade nicht. So manifestiert der unter anderem von Rainer Werner Fassbinder gedrehte Film "Deutschland im Herbst" das Fortdauern von Angst und gleichzeitig Empörung, der Befürchtung, der Staat selbst, nicht etwa der oppositionelle Terrorismus, führe das Ende der Demokratie herbei. Mit den Todesfällen in Stammheim schien damals nicht das Ende der RAF gekommen, ihr Bedrohungspotential keineswegs ausgereizt. Man glaubte vielmehr eine weitere, die bis dahin spektakulärste Stufe terroristischer Eskalation erreicht zu haben.

Die in Stephans und Tackes Band versammelten jüngsten Repräsentationen der RAF in Literatur, Bildender Kunst, Film und Musik wissen hingegen immer schon um das Ende, die Zäsur, die der 'Deutsche Herbst' faktisch bedeutete. Er bildet aus heutiger Sicht das letzte Datum der 68er-Bewegung und ist zugleich eines der letzten einschneidenden Ereignisse der 'alten' Bundesrepublik vor der Wende 1989. Bei allem Interesse an einer detailfreudigen Aufarbeitung künstlerischer Narrative der RAF aus der jüngeren Vergangenheit wird die doch naheliegende Frage nicht gestellt, ob der 11. September, ob die immer wieder ins Haus stehenden Gedenktage als Erklärungen für das anhaltende Interesse an der RAF genügen.

Der Band bietet viele Anstöße für weitergehende Überlegungen: Wenn literarische Texte und andere Artefakte eigen-willige Modellierungen von Wirklichkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt sind, dann wäre danach zu fragen, warum zu einem historischen Zeitpunkt gerade eine bestimmte 'Version' an der Reihe ist. Schon seit längerem ist der 'Weg' vom Tod Benno Ohnesorgs am 2. Juni 1967 bis zum 'Deutschen Herbst' 1977 eine Großerzählung der (west-)deutschen Geschichte, sozusagen die Langversion von '1968'. Auch Bernd Eichingers Verfilmung "Der Baader-Meinhof-Komplex" von 2008 arbeitet mit diesen beiden Zäsuren, wenngleich nach anderer Lesart '68' schon vorher begonnen hatte - und über 1977 hinaus fortdauerte.

Stephans und Tackes Band arbeitet mehrfach mit der Metaphorik des ,Bruchs' oder 'Aufbruchs'. Die über das Buch verstreuten Verwendungen dieser Begriffssprache realisieren mehrere Bedeutungen, die sich alle auf die 'Zäsuren' im genannten Sinn münzen lassen. Das Narrativ der RAF, eng gekoppelt an dasjenige der Studentenbewegung, bezeichnet erstens einen (politischen) 'Aufbruch', einen Neuanfang, dessen Blick- und Zielrichtung diffus zu werden beginnt, dessen Scheitern sich bald abzeichnet, nämlich spätestens dann, wenn Gewalt gegen Unschuldige ausgeübt wird. Aus heutiger Sicht geht es aber auch zweitens um ein 'Aufbrechen' der "NachBilder", also einer Kritik jener so selbstverständlich daherkommenden Repräsentationen von damals. Drittens sollen die 'Brüche' analysiert werden, für die die RAF selbst aus der Sicht der damals Beteiligten steht, also die Brüche als Austritte aus den 'bürgerlichen' Biografien wie aus der Geschichte schlechthin, die intern gleichzeitig inszeniert wurden als symbolischer Tod und Wiedergeburt.

Das Reflexionsniveau der Beiträge ist fast ausnahmslos hoch, die Themen in ihrer Gesamtheit bieten eine gute Einführung in die Problematik. Dass die Hälfte der BeiträgerInnen Studierende und Doktoranden sind, ist als besonders erfreulich hervorzuheben; der Band ging aus einem von Inge Stephan an der Berliner Humboldt-Universität veranstalteten Seminar hervor.

Auch kulturwissenschaftliche Sammelbände richten ihren Blick auf die Zukunft: die Beleuchtung von 'NachBildern' verspricht Orientierungswissen für morgen - ein weiterer 'Aufbruch' geht einher mit der Beitrag für Beitrag nachgewiesenen Behauptung der Aktualität eines vergangenheitsbezogenen Themen- (oder Mythen-)Komplexes.

Die provokative Situierung des Bandes in einer Trilogie, die mit Nachbildern des Holocaust beginnt und mit solchen der "Wende" von 1989/90 endet, bildet zunächst nur Denkgewohnheiten der jüngsten Vergangenheit ab. Es steht zu hoffen, dass, jenseits schlichter Analogiebildungen, die Verknüpfungen, aber auch die Differenzen zwischen diesen drei deutschen "NachBildern" offen gelegt würden.

Inge Stephan (Hg.), Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF.
Literatur-Kultur-Geschlecht, Kleine Reihe, Band 24.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
328 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN 3-412-20077-8


Titelbild

Inge Stephan / Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder der RAF.
Literatur-Kultur-Geschlecht, Kleine Reihe, Band 24.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
328 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783412200770

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