Genial banal?

Der Erzählband "Das Alphabet der Stadt" von "taz"-Autor René Hamann

Von Tina RathRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tina Rath

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sicher hat sich jeder früher oder später schon einmal die Frage gestellt, wie Realität und Literatur zusammenhängen. Ist es schon Literatur, die Realität einfach nur abzubilden, so wie sie ist? Oder gehört dazu noch mehr, und wenn ja, was? Über diese Frage denken auch die beiden Protagonisten, die sicher nicht ganz zufällig Drehbuchschreiber sind, in einer Erzählung René Hamanns nach. Während der eine der Meinung ist, nur fünf Prozent des Lebens seien literarisch interessant, behauptet der andere das glatte Gegenteil: "Die Kunst ist, die 95 Prozent so zu übertragen, so zu beschreiben, dass es eben nicht trivial, langweilig, gewöhnlich ist. Die Kunst ist, eine banale Szene so zu beschreiben, dass sie aus ihrer Banalität herausgehoben wird."

Ist es Zufall, dass diese Definition gerade in einem Erzählband auftaucht, der das Alltagsleben in der Hauptstadt zum Thema hat? Es liegt nahe, dieses Zitat als Maßstab zu nehmen, um die "Berliner Szenen" Hamanns daran zu messen. Von A wie Adlershof bis Z wie Zehlendorf sind viele Berliner Bezirke versammelt, sogar für die beim Kreuzwortspiel "Scrabble" mit hoher Punktzahl bewerteten, aber selten verwendeten Kandidaten Q, X und Y hat der Autor eine Lösung gefunden und hat dabei auch nur ein bisschen geschummelt. Dazwischen sind weitere Erzählungen Hamanns eingeschoben, die mehr oder weniger mit Berlin zu tun haben.

In den meisten Schlaglichtern des "Berliner Alphabets" - die Mehrzahl ist etwa eineinhalb Seiten lang - fährt der Erzähler mit öffentlichen Verkehrsmitteln in und durch die Bezirke und beschreibt, wer mit ihm im Abteil sitzt und wie der Bezirk aussieht. Die Szenen sind definitiv banal, aber das ist sicher so gewollt. Gelingt es Hamann, so zu schreiben, dass sie "aus ihrer Banalität herausgehoben" werden, wie der Drehbuchschreiber es als Aufgabe formuliert? Diese Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten.

Gerade wenn er sich den Berliner Randbezirken zuwendet, ist Hamanns Stil zuweilen wunderbar lakonisch, etwa in der Erzählung "Z wie Zehlendorf": "Es ist still. Durch die Stille kommt Kirchengeläut. Ein knarrender Rollstuhl mit einem Greis. Ein Bus fährt nachdenklich Richtung Schönow. Dann wieder Autos." Zu den so genannten "Szenebezirken" wie Prenzlauer Berg und Friedrichshain fällt ihm hingegen kaum etwas ein, was man nicht schon (zu) oft gelesen hätte: zu schick, zu gesichtslos, zu viele Zugezogene. Keine Experimente. Hamann stammt aus dem Rheinland.

Die Szenen des "Berliner Alphabets" sind zwischen 2004 und 2007 in der "taz" erschienen. Portionsweise gelesen entfalten sie sicher eine andere Wirkung, Beobachtungen am Rande. Da schmunzelt der Berliner vielleicht, der Zugezogene noch eher. Daran, dass das Konzept auch in Buchform funktioniert, scheint Hamann selbst gezweifelt zu haben, sonst hätte er nicht weitere Erzählungen zwischen die Buchstaben des "Alphabets" gesteckt. Diese spielen zwar ebenfalls in Berlin, aber der Ort des Geschehens scheint meist relativ beliebig. Auch bei diesen - meist etwas längeren - Erzählungen gilt: Streckenweise großartig (beispielsweise "Der Narr verlässt den Hügel"), streckenweise ist das Be- und Geschriebene dann doch zu banal - und bleibt es auch. Die Kunst, die erwähnten 95 Prozent Banalität so zu beschreiben, dass sie mehr sind als nur Banalität, diese Kunst ist Hamann leider nur eher zu fünf als zu 95 Prozent gelungen.


Titelbild

René Hamann: Das Alphabet der Stadt. Kurzerzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2008.
120 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426154

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