Mit den Toten reden

Jan Assmann versammelt in "Osiris" Szenen aus altägyptischen Totenliturgien

Von Behrang SamsamiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Behrang Samsami

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Totenreligion der alten Ägypter bedeutet den größten Triumph der menschlichen Imagination über die harten Fakten der Existenz." Mit diesen Worten eröffnet der Ägyptologe Jan Assmann seine Einführung in einem neu erschienenen Band des Insel-Verlags mit dem Titel "Osiris". Das Büchlein stellt eine Collage aus altägyptischen Totenliturgien dar, die der bekannte Religions- und Kulturwissenschaftler teils aus dem "Totenbuch", teils aus anderen alten Quellen zusammengestellt hat. Dabei bestehen diese aus Zaubersprüchen, Beschwörungsformeln und liturgischen Anweisungen, die die Ägypter einst ihren Verstorbenen mit ins Grab gegeben haben, um ihnen das jenseitige Leben zu erleichtern beziehungsweise es ihnen zu ermöglichen, das Leben nach dem Tod so zu gestalten, wie sie es zu Lebzeiten für richtig gehalten haben.

Wie aber kommt der Wissenschaftler, der unter anderem als Verfasser von "Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen" (München 2006) bekannt ist, zu dieser Kompilation? In seinem Vorwort geht er ausführlich darauf ein. Im Frühjahr 2002 hätte ihn ein Brief Brian Michaels, eines Professors für Regie und Schauspiel, mit der Frage erreicht, ob er einige Texte aus Assmanns Buch "Tod und Jenseits im Alten Ägypten" (München 2001) für szenische Experimente mit einem neu gegründeten Ensemble verwenden dürfe. Der Ägyptologe bejahte, wünschte er sich doch schon seit langem eine künstlerische Umsetzung der von ihm entdeckten, übersetzten und veröffentlichten Texte altägyptischer Totenliturgien. Nach einem ersten Treffen ergab sich schnell eine Komposition in fünf Bildern, die in ihrer Konzeption den Kapiteln in der oben genannten Monografie entsprach. Nach vier Aufführungen als reines Sprechstück in den Jahren 2004 bis 2007 wurde es auf der Münchener Musik-Biennale 2008 mit Instrumentalisten uraufgeführt. Die vorliegende Ausgabe stellt schließlich das Ergebnis der Erfahrungen der letzten Jahre dar.

Dabei steht für Assmann fest, dass keine andere Kultur bisher die altägyptischen Gegenbilder zu Sterben und Tod an Kühnheit und Farbigkeit übertroffen oder auch nur von ferne erreicht hätte. Entscheidend sei, dass sie die Erfahrung des Todes keineswegs verdrängen oder verleugnen, sondern ihr umfassend und schonungslos Ausdruck verleihen würden, um alternative Wege und Räume zu erschließen. So sollen viele der Sprüche dem Toten helfen, göttlich zu werden, ein Leben im Jenseits wie vorher im Diesseits führen zu können und sogar in die Beziehungen zwischen Göttern einzugreifen. Als Wunschziel des Toten gilt aber auch, im Jenseits Unsterblichkeit zu erlangen und sich in jedes beliebige Geschöpf verwandeln zu können. Gerade mit der Immortalität, so Assmann schließlich, hätte die ägyptische Totenreligion einen Weg zur Erlösung eröffnet, auf dem ihr die späteren "Erlösungsreligionen" gefolgt seien. Diese Vision als ästhetische Form für einen größeren Kreis als den der Wissenschaftler unmittelbar erfahrbar zu machen, sei das Bestreben von "Osiris".

Worum geht es im Einzelnen? Die von Assmann zusammengestellten Bilder sind so angeordnet, dass sie die zentralen Szenen des ägyptischen Totenrituals in der Abfolge der rituellen Logik deutlich machen: Sie behandeln die Mumifizierung des Leichnams, die "Rechtfertigung" im Totengericht und schließlich die Sarglegung. Es handelt sich um ein Ritual, das als szenische Handlung zwar fiktiv ist, aber aus originalen, bis auf das dritte und zweite vorchristliche Jahrtausend zurückgehenden Texten in wörtlicher Übersetzung besteht und in seinem Aufbau die Grundgedanken der altägyptischen Totenliturgien in ihrer ursprünglichen Ordnung wiedergibt.

Die Texte bewegen sich auf der Ebene des Mythos: Die handelnden Personen sind Götter. Das Ganze spielt in der Urzeit, als diese noch selbst die Herrschaft über die von ihnen geschaffene Welt ausübten. Im Mittelpunkt steht Osiris (übersetzt etwa "Sitz des Auges"), der König von Ägypten ist. Im ersten Bild beweinen Isis und Nephthys ihren von Seth erschlagenen Bruder, der anschließend von seinem Mörder zerstückelt und in seinen Einzelteilen in den Nil geworfen wird. Mit ihren Klagen, in denen sich ihre Einsamkeit und Sehnsucht nach dem verlorenen Bruder kundtut, gelingt es den beiden Frauen jedoch, den Herrscher so weit ins Leben zurückzurufen, dass Isis, die gleichzeitig seine Gemahlin ist, von ihm einen Sohn namens Horus empfangen kann. Dessen Rachefeldzug und Wiedereroberung des Throns werden im zweiten Bild dargstellt. Während also im ersten Bild Trauma und Trauer behandelt werden, thematisiert das zweite den Triumph über den Tod, der in Gestalt des Seth, übrigens eines Bruders des Osiris, vor Gericht gestellt und verurteilt wird.

Im dritten Bild versucht der Verstorbene seinen Sohn zu sich in die Unterwelt zu ziehen. Doch Horus widersteht dem Verlangen des Vaters, bleibt auf Erden und stellt die Ehre des Ermordeten und seinen Rang in der Götterwelt wieder her. Dabei empfindet Osiris anfangs noch Furcht vor dem unbekannten Reich der Finsternis und Entbehrung: "O Atum, was soll es, / daß ich zur Wüste des Totenreichs dahineilen soll? / Sie hat kein Wasser, sie hat keine Luft, / sie ist ganz tief, ganz finster, ganz unendlich!" Die Antwort des Schöpfers und Götterherrn jedoch tröstet ihn: "Ich habe Verklärtheit gegeben an die Stelle von Wasser, Luft und Wollust, / und Frieden des Herzens an die Stelle von Brot und Bier." Bei dem Ganzen handelt es sich um eine Passionsgeschichte, die an die anderer Gottheiten aus den antiken Mysterien erinnert. Ein Unterschied besteht freilich darin, dass in "Osiris" kein Einzuweihender, sondern ein Verstorbener in das Schicksal des Gottes nachvollziehend hinein genommen wird. Des Herrschers Passionsgeschichte wird also rituell als Totenritual begangen, das Totenritual sinnbildlich als Passionsgeschichte dargestellt.

Der Tote spielt dabei eine Doppelrolle: Er tritt als Osiris auf, aber auch als er selbst, der zu dem Herrscher der Unterwelt geführt wird. Im vierten Bild muss er sich einem Gericht stellen, das über seine Reinheit und Unschuld entscheidet. Doch bevor er dessen Halle betreten darf, ist er verpflichtet, an einem Initiationsverhör teilzunehmen, bei dem er seine Kenntnis der Mysterien unter Beweis stellen muss. Erst danach darf er den Richtern gegenübertreten. Um die Aufrichtigkeit seiner Aussagen zu prüfen, wird sein Herz von diesen auf die Waage gelegt. Die Sünden, die der Tote erklärt, nicht begangen zu haben, fügen sich dabei zu einem moralischen Codex, der aus der Bibel, vor allem aus dem 2. bis 5. Buch Mose vertraut ist. So heißt es gegen Ende der Aufzählung: "Ich habe kein Geschrei gemacht. / Ich war nicht aggressiv. / Ich habe niemanden belauscht. / Ich habe nicht unüberlegt geredet. / Ich habe keinen Schrecken erregt. / Ich habe keinen Schaden angerichtet. / [...] / Ich war nicht taub gegen die Worte der Wahrheit. / Ich habe keinen Streit angezettelt. / Ich habe niemandem zugeblinzelt. / Ich war nicht vergeßlich. / [...] / Ich war nicht jähzornig. / Ich habe meine Natur nicht überschritten und Gott nicht gelästert."

Das fünfte Bild schließlich behandelt die Sarglegung. Sie wird als eine Rückkehr in den Mutterschoß begangen, bei der der Sarg die Große Mutter, die Himmelsgöttin, darstellt, die den Toten als ihren Sohn in sich aufnimmt. So formt sich also die Lebensbahn zum Kreis, zum Geheimnis der kosmischen Erneuerung. Und damit ist erreicht, was die alten Ägypter anstreben: nicht aus der Kreisläufigkeit der Bahn und des kosmischen Lebens heraus zu fallen, um nämlich im Tod zum Ursprung zurückzukehren, das Ende mit dem Anfang zu verknüpfen und daraus die Kraft zu ewiger Erneuerung zu schöpfen.

Was also bedeutet es, mit den Toten zu reden? Es ist, mit anderen Worten, nicht nur eine Form, den Tod zu verarbeiten, indem die Angst durch ganz bestimmte Rituale, Zaubersprüche und Beschwörungsformeln sublimiert wird. Die altägyptischen Totenliturgien beinhalten für den Lebenden auch das Gebot, im Diesseits gerecht zu sein und damit für das Wohlergehen aller zu wirken. Deutlich wird das bei der Aufzählung der nicht begangenen Sünden: "Ich habe niemandem Schmerzen zugefügt und keinen hungern lassen, / ich habe keine Tränen verursacht. / Ich habe nicht getötet und keinen Befehl zum Töten gegeben. / Niemandem habe ich ein Leid angetan."

Rein soll also der Mensch sein und keine Angst vor dem Tod haben, der, so gesehen, lediglich einen Übergang zu "der anderen Seite" darstellt. In diesem Sinne ist auch ein Ausspruch von Osiris am Schluss des ersten Bildes zu verstehen, den er aus dem Inneren des Sarges an Isis richtet: "Warum muß denn die Einsamkeit schmerzlich für mich sein? / Werd ich denn fehlen dem Land? / Sind es denn Fremde, wohin ich gehe? / Ist denn die Vergangenheit abgesondert, die vor mir liegt, / und nicht vielmehr die Zukunft, die mir im Rücken liegt? / [...] Ich will gehen und alle Welt sehen in anderer Gestalt, / die man nicht wiedererkennen wird. / Siehe, die Erde - ich habe das Schauen ausgekostet auf ihr. / Nun setze ich ein Himmelsgewölbe als Grenze zwischen sie und mich."


Titelbild

Jan Assmann: Osiris. Mit den Toten reden Szenen aus dem Ägyptischen Totenbuch.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
77 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-13: 9783458193067

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