"Mein Bauch gehört mir"

Essstörung oder göttliches Wunder? Formen weiblicher Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert

Von Ines HeiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ines Heiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Abnormes Essverhalten jeglicher Form ist ein Themengebiet, das von verschiedenen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere im Rahmen der Genderforschung, mit besonderem Interesse beobachtet, dokumentiert und interpretatorisch ausgewertet wird. Diese besondere Aufmerksamkeit mag in einigen wenigen Fällen durchaus einer gewissen Sensationsgier entspringen, im Wesentlichen ist die Auseinandersetzung mit dieser Thematik wissenschaftspragmatisch betrachtet aber durchaus angemessen und sinnvoll. Es gibt wenig andere Lebensbereiche, in denen die kulturell sehr verschiedene, bewusste Gestaltung der Befriedigung einer medizinisch-biologischen Notwendigkeit so genau zu beobachten ist.

Jeder Mensch muss sich - im Rahmen seiner ökonomischen Möglichkeiten - mit der Frage seiner Ernährung auseinandersetzen. In seiner Reaktion auf dieses elementare und universelle Ernährungsbedürfnis kann er über den Umgang mit dem eigenen Körper nonverbal verschiedene Signale an seine Umwelt übermitteln. Somit steht also die Ernährung in jeder Kultur als eine Art von "Sprache" zur Verfügung, die für die Kommunizierenden den Vorteil aufweist, dass sie in der Regel über deren Repertoire eine besonders umfassende Verfügungsgewalt besitzen, eben weil das Medium der eigene Körper ist und dass sich zudem das jeweilige Gegenüber den Botschaften nur schwer entziehen kann, da das Signal im Moment der Konfrontation stets direkt - "körperlich" - präsent ist. Damit werden persönliche Aussagen und gezielte Selbstinszenierung auch und gerade für solche Personenkreise möglich, denen sonst wenig Artikulationsspielraum eingeräumt wird.

Insofern greift Waltraud Pulz' Studie über mehrere Fälle behaupteter Totalabstinenz im 16. Jahrhundert ein durchaus relevantes Phänomen auf. Ausgehend von zeitgenössischen, meist illustrierten Flugblättern dokumentiert sie das Auftreten von sieben Frauen (Anna Laminit, Magareta Weiss, Anna Ulmer, Barbara Kremers, Catharina Binder, Eva Vliegen und Apollonia Schreier), die jeweils für sich in Anspruch nahmen, mehrere Jahre lang ohne Aufnahme konventioneller, "natürlicher" Nahrung und entsprechend auch ohne Körperausscheidungen gelebt zu haben.

Die Flugblätter ergänzt Pulz durch weitere Quellen, wie etwa Chronikauszüge, Berichte von Ärzten, die zur Überprüfung der Totalabstinenz herangezogen wurden, Briefwechsel der verschiedenen Obrigkeitsvertreter und - soweit vorhanden - um weiteres Bildmaterial, wie Porträts der betroffenen Frauen. Diese umfassende und durchweg gelungene Dokumentation ermöglicht einen differenzierten Blick auf den Einzelfall. Obwohl sie die Ähnlichkeiten strukturiert herausarbeitet, verweist Pulz ausdrücklich auch auf die großen Unterschiede, die zwischen den einzelnen Frauen festzustellen sind (so findet sich neben einer selbstbewusst agierenden Anna Laminit, die ihre Popularität in erster Linie politisch nutzte oder einer Catharina Binder, die ihre Rolle geschickt einsetzte, um ökonomische Vorteile zu erzielen, auch Apollonia Schreier, die insgesamt eher pathologisches und psychisch auffälliges Verhalten an den Tag legte). Die Autorin verschweigt ebenso keinesfalls, dass das angebliche Mirakel der Totalabstinenz im 16. Jahrhundert weit davon entfernt war, lediglich eine persönliche Entscheidung der Betroffenen zu bedeuten, dass es sich dabei vielmehr um ein Politikum erster Güte handelte, das von weltlicher und geistlicher Obrigkeit begierig aufgegriffen und instrumentalisiert wurde. Gerade die Auseinandersetzungen der verschiedenen Konfessionen um die Oberhoheit und die Verfügungsgewalt über solche "besonderen" Mitglieder werden - sehr anschaulich etwa im Fall der Anna Ulmer - dargestellt. Neben den durch die "lebenden Heiligen" ausgelösten konfessionellen Streitigkeiten thematisiert Pulz auch den sich langsam vollziehenden Paradigmenwechsel hin zu einem stärker von medizinisch-empirischen Gesichtspunkten geprägten Diskurs, der eine rein religiös-theologische Sichtweise allmählich weiter zurücktreten ließ, wiewohl sie zurecht davor warnt, die damaligen Ärzte bereits als eindeutige Vertreter einer aufgeklärt wissenschaftlichen Position zu verstehen.

Ist also der erste Teil - die Dokumentation der einzelnen Fälle angeblicher Totalabstinenz und der in einigen Fällen eingetretenen Entlarvung der Frauen als "Betrügerinnen" im Kontext des jeweiligen gesellschaftlichen Umfeldes - als sehr gelungen und umfassend informativ einzustufen, so enttäuscht der zweite Teil, in dem Pulz eine zusammenfassende Deutung des Phänomens unternimmt.

Hier findet sich lediglich einiges, das im Rahmen der Diskussion über genderbedingt verschiedene Auffassung und Inszenierung von Körpern bereits weitgehend bekannt ist. Pulz stellt fest, dass für Frauen andere Heiligkeitskriterien galten, beziehungsweise dass ihnen in der praktischen Ausgestaltung ihres Lebens ein anderer, geringerer Spielraum zur Verfügung stand als Männern und sie somit weitgehend - häufig sogar ausschließlich - auf ihren eigenen Körper zurückgeworfen waren, wenn sie sich von ihrem Umfeld abheben oder in besonderer Weise religiös artikulieren wollten.

Zudem - auch das ist auch anderen Kontexten bereits hinreichend bekannt - eröffnete ihnen allein die Wahl einer solchen alternativen Lebensform die Möglichkeit, den vorgezeichneten Lebensmustern als Ehefrau und Mutter zu entkommen und Bedeutung als Individuum wie auch Freiräume zur individuellen Gestaltung ihres Lebensumfeldes zu erlangen. Ungünstig ist, dass Pulz hier so konsequent bei ihrer zusammenfassenden Darstellungsweise bleibt - gerade dieser letzte Aspekt hätte anhand der genannten Beispiele weiter vertieft werden können, da besonders bei den Frauen, deren Totalabstinenz als Vorspiegelung falscher Tatsachen enttarnt wurde (Anna Laminit, Anna Ulmer, Barbara Kremers, Eva Vliegen), eine solche aktive Lebensgestaltung mit durchaus pragmatischer Zielsetzung als mögliche Form einer gewissen Emanzipation klarer herausgearbeitet werden könnte.

Schade ist auch, dass der im Vorwort evozierte Zusammenhang der (angeblichen) Nahrungsabstinenz dieser Frauen des 16. Jahrhunderts mit heutigen Formen abnormen Essverhaltens, insbesondere der Anorexia nervosa, nicht ausführlicher zur Sprache kommt. Pulz gibt zwar an, dass Ausgangspunkt der vorliegenden Studie ihre Auseinandersetzung mit Frauenkrankheiten wie Hysterie und Anorexie beziehungsweise Bulimie gewesen sei und grenzt im Vorwort diese Begriffe gegen den des Fastens beziehungsweise der Fastenwunder ab, ansonsten begnügt sie sich allerdings mit dem Hinweis darauf, dass abweichendes Essverhalten differenziert vor dem Hintergrund seiner jeweiligen historischen Gegebenheiten bewertet werden müsse und kritisiert Vorläuferstudien, die die nahrungsabstinenten Frauen des 16. Jahrhunderts ohne weitere Umstände der Diagnose der Anorexie zugeordnet hätten.

Diese Kritik ist selbstverständlich treffend, allerdings wäre zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen beiden Verhaltensmustern noch einiges zu sagen, die Frage nach Kontinuität oder Traditionsbruch wäre eindeutiger zu diskutieren: So fällt nicht nur ins Auge, dass es durchaus Gemeinsamkeiten gibt (die Frauen erhalten durch das abnorme Essverhalten besondere Aufmerksamkeit, teilweise auch positive Anerkennung, es eröffnet ihnen Artikulationsmöglichkeiten für ansonsten nicht Aussprechbares), dass aber die Unterschiede ebenfalls nicht von der Hand zu weisen sind.

So versuchen heutige Anorektiker beispielsweise in der Regel eher, ihr ungewöhnliches Essverhalten zu verschleiern, da es ihnen um die Konstruktion eines bestimmten - "natürlich" schlanken, attraktiven - Selbstbildes geht. Die Frauen des 16. Jahrhunderts betonten dagegen das abweichende Essverhalten (teilweise waren sie oder ihre eigenen Familien diejenigen, die die Flugblätter in Auftrag gaben); dazu kommt, dass im Zentrum der modernen Anorexie tatsächlich der Körper selbst steht, dem eine bestimmte Form gegeben werden soll, im Zentrum der Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhunderts sich allerdings in erster Linie gerade nicht der Körper befand, sondern eine bestimmte Geistes- oder Seelenverfassung, die Existenz "im Stand der Gnade", die nur über körperliche Mittel artikuliert und sichtbar gemacht werden sollte.

Grundsätzlich wäre insofern methodisch zunächst die Frage zu stellen, inwiefern die hier vorgestellten Frauen überhaupt in den Kontext einer "Anorexiegeschichte" einzuordnen sind: In der Mehrzahl der Fälle lag in Wahrheit überhaupt kein abweichendes Essverhalten vor; wie in den Untersuchungsberichten detailliert dargestellt ist, praktizierten die Protagonistinnen dieser Episoden eine zwar heimliche, ansonsten aber weitgehend "normale" Ernährung, die mit Unterstützung von Komplizinnen ebenso wie der Abtransport der Exkremente aufwändig und trickreich organisiert wurde: Dies kann nur so gedeutet werden, dass es den Frauen eben nicht um Nahrungsverweigerung ging, sondern - auch wenn dies etwas paradox erscheinen mag - allein darum, durch die Vorspiegelung von Nahrungsabstinenz für sich und ihre beteiligten Familien den Lebensunterhalt sicherzustellen. In einem weiteren Fall, dem der Apollonia Schreier, zeichnet sich dagegen noch eine weitere Variante ab: Ihr gestörtes Essverhalten inszenierte sie - wenigstens zu Beginn - als eine Art Hungerstreik, um damit den Kontakt zu einer verheirateten Nachbarin, in die sie sich laut Quellenlage "verliebt" hatte, zu erzwingen - vor diesem Hintergrund scheint es bei ihr nicht weniger problematisch, einen anorektischen Kontext zu konstruieren, als in den genannten Fällen, in denen das vorgebliche Hungern als eine Art Broterwerb betrieben wurde.

Es bleibt also festzustellen, dass die Studie zwar eine sehr detailreiche Dokumentation eines interessanten gesellschaftlichen Phänomens bietet - diese Dokumentation müsste allerdings um eine ebenso differenzierte Analyse ergänzt werden, innerhalb derer die persönlichen Beweggründe der angeblich totalabstinenten Protagonistinnen, die sich auf Basis der Quellen im Wesentlichen recht gut erschließen lassen, ernsthafter mit einzubeziehen wären. Ausdrücklicher zu berücksichtigen wäre dabei zusätzlich der maßgebliche Unterschied zwischen tatsächlich abnormem Essverhalten und der alleinigen Vorspiegelung solchen Verhaltens.

Es ist nicht abzustreiten, dass die Tatsache der großen Popularität weiblicher Totalabstinenz sowie die gesellschaftlichen und ökonomischen Vorteile, die die betroffenen Frauen damit erzielten, kulturgeschichtlich von einiger Relevanz sind, dennoch müssen die Ebenen in diesem Fall klar getrennt werden: Im Grunde erscheint gerade das Leben einer Anna Laminit, die sich - sehr geschickt auf den eigenen Vorteil bedacht - auch als Kupplerin und beim Erschwindeln von Alimenten durch Kindesunterschiebung hervortat und eben zeitweilig den größten Teil ihrer Einkünfte als angeblich totalabstinente "lebende Heilige" erwirtschaftete, ebenso wie das einer Anna Ulmer, die mit einer eigens angefertigten Bauchattrappe auftrat, als von gesundem, praktischen Menschenverstand und geschicktem Ausnutzen gesellschaftlicher Klischees geprägt. Abweichend wäre deren Essverhalten also nur insofern, als dass sie bereit waren und die notwendige Intelligenz dazu besaßen, auch mit unorthodoxen Mitteln eine ausreichende Nahrungsgrundlage sicherzustellen - wären sie in heutigem Sinne anorektisch gewesen, hätten sie dieses Verhalten wohl nicht nötig gehabt.


Titelbild

Waltraud Pulz: Nüchternes Kalkül - Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert.
Böhlau Verlag, Köln 2007.
245 Seiten, 32,90 EUR.
ISBN-13: 9783412184063

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