Schöne neue Welt?

Rüdiger Moczalls universalistisches Prinzip der "Vereinten Religionen" scheitert an seinen Voraussetzungen

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wir leben in einer Welt zunehmender Unübersichtlichkeit. Unsere Gesellschaft ist von tiefgreifender weltanschaulicher Fragmentierung und einer fast schon grotesken Individualisierung von Lebensentwürfen gezeichnet, in der sich die Politik national wie international darauf beschränken muss, die divergierenden Partikularinteressen in ein weitestgehend konfliktfreies Miteinander zu überführen, um das Überleben der Menschen zu sichern. Wer heute noch in unserer derart differenzierten Gesellschaft einer Gruppe angehört, in der sich die Mitglieder zu einer Sache einig werden, muss sich fragen lassen, was er falsch macht.

Wenn es ein Wort gibt, mit dem man den Zustand dieser Gesellschaft beschreiben könnte, dann wäre das wohl "Ich". Insbesondere in der Glaubensfrage setzt sich zunehmend das "Ich" des "Religionskomponisten" gegen das "Wir" kirchlicher Gemeinschaft durch. Und was in der Gesellschaft für Personen gilt, gilt in der Welt für Nationen: Separatistische Bewegungen befördern das Entstehen von Klein- und Kleinststaaten, deren Zahl sich im 21. Jahrhundert - trotz globaler Regime und einem Zusammenrücken der Weltgemeinschaft unter dem existenziellen Druck des Klimawandels - noch weiter erhöhen wird. Es gibt einige Experten, die damit rechnen, dass es am Ende dieses Jahrhunderts doppelt so viele Staaten gibt wie heute.

Diesen Sachverhalten mit einem universalistischen Rundumschlag begegnen zu wollen, der nicht weniger verspricht als die "geistige und materielle Existenzkrise" abzuwenden und der dabei der Übersichtlichkeit halber auf eine einzige Ursache dieser Krise zentriert bleibt (ein "veraltetes" Gottesverständnis), kann je nach Standpunkt kühn oder naiv genannt werden, spannend klingt er alle mal. Dass Rüdiger Moczalls "Leben in liebender Verantwortung. Wie ein neues Gottesverständnis die geistige und materielle Existenzkrise noch abwenden kann" dennoch enttäuscht, liegt an der Umsetzung seines Anliegens. Der bislang publizistisch nicht in Erscheinung getretene Moczall bringt seine Gedanken zwar flüssig und verständlich zu Papier, scheitert aber an der Komplexität der Thematik.

So richtig die Diagnose ("Unsere Gesellschaft ist an einem neuralgischen Punkt angekommen. Orientierungslosigkeit und Werteverfall bedrohenden geistigen Zusammenhalt und den gesellschaftlichen Frieden, während zugleich drängende Umweltprobleme und neue technologische Gefahren uns unsere Lebensgrundlage zu entziehen drohen."), so problematisch die Therapie, sucht der Autor die Lösung doch "in einem neuen Gottesverständnis" ("Gott ist die Summe aller Energien des Weltalls"), weil er sich davon "die Aussöhnung von Religion und Wissenschaft sowie der Religionen untereinander" verspricht und zudem erwartet, dass sich damit "eine Option bietet, die gemeinsamen Ursprünge der vielfältigen Bedrohungen unserer menschlichen Existenz zu begreifen und gezielt anzugehen". Versöhnung von Religion und Wissenschaft, interreligiöse Verständigung, dauerhafte Existenzsicherung der Menschheit - das sind gleich drei Wünsche auf einmal. Und wenn irgendwo eine gute Fee auftauchen sollte, dann wäre diese Liste sicher nicht die schlechteste Variante. Wer wollte das bestreiten.

Leider gelingt dem Autor die nachvollziehbare Überführung des Wünschenswerten in das Realisierbare nicht. Moczalls Lösung aller Weltprobleme erschöpft sich in sehr weitreichenden Behauptungen, die im Wesentlichen von der Kraft ihrer Prämissen leben, im Text jedoch nicht weiter substantiiert werden. Dabei geht das Erwünschte (das der Leser sicher in vielen Fällen auch als solches ansieht) mit der irritationslosen Diktion des Autors (die nicht jeder Leser immer wird teilen wollen) eine feste Verbindung ein, vor deren scheinbarer Klarheit sich jede Nachfrage erübrigt. Manchmal aber hätte man schon gerne gewusst, woher der Autor manches weiß, das er wie selbstverständlich in seine Argumentation einfließen lässt.

Der Autor verzichtet zugunsten seiner klaren Linie auf jede Diskussion, führt keine Belege an, zitiert nicht aus Texten, die sich mit dem Thema schon beschäftigt haben (so neu ist ja das "neue Gottesverständnis" samt der drei Wünsche nun auch nicht), und wenn er zitiert (etwa Hans Jonas), dann gibt er die Belegstelle nicht an. Allenfalls präsentiert er aus dem Zusammenhang gerissenen Zitate bekannter Persönlichkeiten (immer wieder Albert Einstein) zur Stützung seiner Thesen. Leider sind auch die eigenen poetischen Betrachtungen zu einzelnen Fragen des Menschheitsschicksals, die neben den Bonmots Konfuzius' und Mahatma Gandhis die Ideen des Autors lyrisch ausschmücken, nicht dazu geeignet, dem Text die sehnlichst erhoffte Substanz zu geben. Alles in allem bleiben nicht nur die Wünsche unerfüllt, sondern auch die Beschäftigung mit den Schlüsselthemen der Zeit lässt zu wünschen übrig. Wohlgemerkt: Eine Auseinandersetzung mit Zeitfragen muss nicht wissenschaftlich, sollte aber nachvollziehbar sein und sich auch mit möglichen Einwänden gegen eigene Ideen befassen. Sonst spiegeln sich in der glatten Oberfläche nur Banalitäten.

Für wen kann das Buch überhaupt geeignet sein? Es ergibt sich bei Moczall das Problem, das sich immer ergibt, wenn stark bekenntnis- und erfahrungsgeleitete Analysen mit sehr persönlicher Note dahingehend zu beurteilen sind. Für die, die dem Autor glauben wollen, braucht es die Erläuterung nicht und die, die angesprochen werden sollen, etwa weil sie sich der vom Autor gewünschten Einheitsreligion in den Weg stellen, werden die Ausführungen des Autors nicht glauben wollen.

Die "Einheitsreligion" ist der Schlüssel zu Moczalls schöner neuer Welt. Er meint das nicht in so schwammiger Liebesrhetorik wie einige "Kuschel-Christen" in Kirchentagsstimmung, und auch nicht bloß pantheistisch wie die "Mystik-Freunde" aller Religionen, sondern stellt sich konkret eine Organisation als Trägerin des energetischen Gotteskonzepts vor: die "Vereinten Religionen" (VR). Diese sind analog zu den Vereinten Nationen (VN) konzipiert, mit Generalsekretär und Kommissionen, die über Weltkrisen nicht auf völkerrechtlicher, sondern auf (gemeinsamer) "ethischer" Basis entscheiden. So sehr dies einerseits zum Scheitern verurteilt sein dürfte (Wenn schon 200 Nationen Probleme miteinander haben, wie sähe es wohl mit 5.000 Religionen aus? Wenn schon die Vereinten Nationen keinen interessieren, den es angeht, wen sollen dann die Vereinten Religionen beeindrucken?), so sehr stellt sich die Frage, ob dieser formale Weg überhaupt nötig ist, ob nicht vielmehr bestehende Kontakte informell ausgeweitet werden sollten. Leider geht der Autor weder auf historische noch auf aktuelle Bemühungen im interreligiösen Dialog ein, an denen sich Möglichkeiten, aber auch Grenzen des gemeinsamen Ringens um Verständigung gut zeigen ließen. Hans Küngs Weltethos-Projekt wird nur pflichtgemäß erwähnt, das dafür grundlegende "Parlament der Weltreligionen", das 1993 in Chicago tagte, gar nicht. Gerade dort zeigte sich die Schwierigkeit, zu gemeinsamen Positionen zu kommen, die über das hinaus gehen, was ohnehin Schnittmenge des Ethos' diverser religiöser Offenbarungen und Traditionen ist (man denke an die "Goldene Regel"). Für den minimalen Basiskonsens, der in sehr allgemeiner Weise Absichtserklärungen zu größtmöglicher Mitmenschlichkeit verbrieft, hätte man sich jedenfalls nicht extra zu treffen brauchen. Mit Rücksicht darauf käme man erst gar nicht zur Forderung nach monströsen Apparaten wie den Vereinten Religionen.

Weil Moczall einerseits meint, dass eine "einheitliche Definition von Gott" die "Mindestvoraussetzung" dafür sei, "dass sich die Religionen näher kommen können" und diese Einheitsdefinition seiner Ansicht nach den "Prozess hin zu den Vereinten Religionen unterstützen" wird, er aber andererseits nicht an dem Umstand vorbei kommt, dass die Religionen von einem Einheitsgottesbild weit entfernt sind (was unter anderem der Grund dafür ist, dass es überhaupt unterschiedliche Religionen gibt!), verwirft er nicht etwa seinen Plan, sondern tut so, als ließe sich seine "Gott ist Energie"-These reibungslos in das Gottesverständnis aller Religionen einpassen, bloß fehle es - etwa "der Kirche" - an "Einsicht" und dem "Willen", dieses Gottesbild anzuerkennen. Im Grunde sagt der Autor mit der These vom Einheitsgottesbild etwas sehr Wahres, das aber zugleich wenig zielführend ist: Die Aufgabe aller Besonderheiten muss irgendwann dazu führen, dass man sich angleicht. Mit einem solchen Kompromiss verlören aber die Religionen ihre Wesensbestimmung - und vor allem ihre Anhänger. Und ob sie, die Religionen im Gewand der Vereinten Religionen, damit die ihnen zukommende "Überwachungs- und Gestaltungsfunktion" gegenüber der Wissenschaft effektiver wahrnehmen könnten, wie der Autor behauptet, muss doch sehr in Frage gestellt werden. Deutlich wird vielmehr, dass der Dialog gerade nicht auf Vereinheitlichung der theologischen Differenzen gerichtet sein sollte, sondern auf einen möglichst breiten Konsens in Bezug auf die ethischen Argumentationen und damit schließlich auf die konkreten Folgen, die sich aus dem jeweiligen Glauben für die Moralität der Menschen und ihre Lebenspraxis ergeben. Es kann nur um die Vereinbarkeit der Konsequenzen aus den verschiedenen Religionen gehen, nicht aber um den Kern der Religiosität selbst, um das Gottesbild. Hinsichtlich der spezifischen Gottesvorstellungen müssen Disharmonien ausgehalten werden, alles andere hieße, dem Dialogpartner das Recht auf religiöse Identität abzusprechen, was den Dialog nicht ermöglichen und fördern, sondern sehr bald scheitern lassen würde.

Auch strukturell ist das Buch dürftig konzipiert. Der Darstellung fehlt es an Stringenz, die Kapitel behandeln in loser Abfolge Themen, die der Autor für sein "neues Gottesverständnis" als relevant erachtet. Detailfragen ("Was kann ein Talisman bewirken?") wechseln sich ab mit eher allgemeinen ("Wie stoppen wir die Gewaltbereitschaft?") sowie sehr allgemeinen Betrachtungen ("Was ist Gerechtigkeit?"), die dann auf ein paar Seiten abgehandelt werden - leider auch dort ohne Gespür für ideengeschichtliche Traditionen, selbst wenn die Thesen des Autors geradezu danach schreien, in jene eingebunden beziehungsweise vor deren Hintergrund reflektiert zu werden. Dazwischen immer wieder wohlfeile Politik- und Medienschelte, die bedauerlicherweise auch nur auf Höhe der Stammtischkante liegt.

Das wertvollste an dem Buch ist wohl das Vorhaben selbst, über die existentielle Krise des Menschen und ihre Symptome nachdenken und diesen etwas entgegensetzen zu wollen. Gut ist auch, dass es möglich ist, die Erträge des Nachdenkens als - formal recht ansprechendes - Buch zu veröffentlichen. Als Beitrag zur Fachdebatte über die adressierten Fragen kann der Text Moczalls jedoch nicht gelten, schon deshalb nicht, weil er auf diese leider gar keinen Bezug nimmt.


Titelbild

Rüdiger Moczall: Leben in liebender Verantwortung. Wie ein neues Gottesverständnis die geistige und materielle Existenzkrise noch abwenden kann.
Books on Demand, Norderstedt 2008.
170 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-13: 9783837047851

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