Ehrenrettung

Heiner Feldhoffs Deussen-Biografie zeigt, dass der Indologe mehr war als nur "Nietzsches Freund"

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder finden selbst die schöpferischsten Menschen ihren Weg in die Kultur- und Geistesgeschichte nicht so sehr wegen ihrer eigenen Werke, sondern vor allem als Bekannte anderer Geistesgrößen. Um ein solches Schicksal zu erleiden, bedarf es nur einer Voraussetzung: Dieser Mensch muss weiblichen Geschlechts sein. So wird etwa Lou Andreas-Salomé als Freundin oder gar Muse 'großer Männer' wie Friedrich Nietzsche, Rainer Maria Rilke und Sigmund Freud herumgereicht. Dabei war sie nicht nur eine originelle Denkerin und Psychoanalytikerin, die eine eigenständige Sexualtheorie entwickelte, sondern auch Autorin zahlreicher heute noch lesenswerter Romane und Erzählungen, darunter etwa "Ruth" oder "Aus fremder Seele".

Dass ein eigenständiger Denker, in der Erinnerungsliteratur oder in Biografien vor allem als 'Freund von...' auftritt, ist hingegen ungleich seltener. In einer soeben erschienenen Biographie ist es aber einmal nicht Lou Andreas Salomé, die auf ihre Freundschaft mit Nietzsche reduziert wird. Heiner Feldhoff stellt vielmehr Paul Deussen als "Nietzsches Freund" vor. So lautet zumindest der Titel der dem Begründer der Indologie gewidmeten Biografie. Doch hält das Buch mehr, als sein Titel verspricht. Zwar stellt Feldhoff Deussen - soweit dies möglich ist - stets auch als "Nietzsches Freund" dar, und dass der Autor des "Zarathustra" bereits nach kaum mehr als der Hälfte des Buches im Wahnsinn versinkt, hat nur damit zu tun, dass Deussen zu diesem Zeitpunkt noch rund dreißig weitere Lebensjahre vergönnt waren, bevor er 1919 starb.

Doch um es gleich vorwegzunehmen - Feldhoff degradiert seinen Protagonisten nie zum Anhängsel des bramarbasierenden Philosophen. Ganz im Gegenteil: Er tritt ausdrücklich gegen die "Deussen-Karrikatur" an, "zu der die meisten Biographen Nietzsches neigen, indem sie ihn neben dem Genialen als behäbige, devote, komische Figur erschienen lassen". Und das Unternehmen der Ehrenrettung gelingt. Feldhoff zeichnet die "respektable Karriere", in deren Verlauf sich der einstige "Hinterwäldler" zum "vielversprechenden Kosmopoliten" entwickelte und der "Dorfbub" zum "Geheimrat" avancierte, als die eines durchaus eigenen Kopfes nach, zu dessen Œuvre neben einem Werk über "Das System der Vendânta" (1883) und Übersetzungen wichtiger Sanskrit-Texte auch philosophische Schriften wie "Die Elemente der Metaphysik" (1877) oder eine sechsbändige Philosophiegeschichte (1894-1917) zählen. Selbst an eine allerdings wenig geglückte Umformulierung des kantischen Imperativs wagte sich Deussen: "Handle nicht als Individuum mit individuellen Interessen, sondern handle überindividuell; handle, als wenn das große Ganze dein eigenes Ich wäre, handle wie der handeln würde, welcher als der moralische Gesetzgeber des Weltalls vor deiner Seele steht."

Schon als Schüler hatte der Anfang 1845 in der westerwäldischen Dreihundert-Seelen-Gemeinde Oberdreis geborene Sohn einer Pfarrersfamilie den ebenfalls aus einem Pfarrhaus stammenden Schüler Nietzsche kennen gelernt. Als der 14-jährige in Schulpforta eintraf, lebte der nur wenige Monate ältere Nietzsche bereits seit einem Jahr in dem Internat. Nicht nur dort musste Deussen immer wieder als "Nietzsches rhetorischer Prügelknabe" herhalten. Dennoch blieben beide eingedenk einiger Unterbrechungen bis an Nietzsches von geistiger Umnachtung verdunkeltes Ende in Verbindung. Anders als manch anderer besuchte Deussen den Patienten in dessen Wahnsinnsjahren gelegentlich noch am Krankenbett und ließ der Familie "Geld und gute Briefesworte zukommen". Ausführlich zitiert Feldhoff aus Deussens Bericht über seinen letzten Besuch im Hause Nietzsche: "Zuletzt sah ich ihn an seinem fünfzigsten Geburtstag am 15. Oktober 1894. Ich erschien in der Frühe, da ich bald abreisen musste. Seine Mutter führte ihn herein, ich wünschte ihm Glück, erzählte ihm, daß er heute fünfzig Jahre alt werde, und überreichte ihm einen Blumenstrauß. Von alle dem verstand er nichts. Nur die Blumen schienen einen Augenblick seine Teilnahme zu erregen, dann lagen auch sie unbeachtet da." Feldhoff versäumt hier nicht anzumerken, dass Thomas Mann den letzten Satz "wortwörtlich in die Beschreibung des geistig umnachteten Nietzsche-Leverkühn aufgenommen" hat.

Während Nietzsche nach Schulabschluss auf einen wohldotierten Professoren-Stuhl in Basel berufen worden war, führte Deussens persönlicher Werdegang zunächst zwar auch in die Schweiz, genauer gesagt nach Genf. Doch ungeachtet seiner - im übrigen wegen der geringen Promotionsgebühren in Marburg eingereichten Dissertation - "Commentatio de Platonis Sophistae", mit der er sich später in Genf sogar habilitierte, reichte es fürs erste nur zu einer Stelle als Hauslehrer des Sprösslings einer russischen Familie, der sich als ausgesprochen schwieriger Schüler erweisen sollte. Doch ermöglichten es die Einkünfte dem Schopenhauerianer, zu dem sich Deussen inzwischen dank Nietzsches Einfluss entwickelt hatte, seine Sanskritstudien als - wie er selbst schrieb - "Luxusstudium" und "literarische Feinschmeckerei" zu betreiben. Sie erlaubten ihm sogar mit der Übersetzung von Sanskrit-Texten zu beginnen. Und zwar ganz nach Maßgabe des Meisterpessimisten Schopenhauer höchst persönlich, nämlich "aus 'bloßer Liebe zur Wissenschaft und Erkenntniß' und nicht etwa zum 'Broderwerb'".

Hatte Deussen in der Philosophie Schopenhauers und wohl mehr noch in den indischen Veden eine bleibende geistige Heimat gefunden, so war der Suche des konservativen Mannes nach einer "Lebensgefährtin, die dem traditionellen Bild der Frau als Gehilfin an der Seite des Mannes entsprach, die ihr Genüge fand in Mutterschaft, Häuslichkeit und Gestaltung des Gesellschaftslebens", lange Zeit kein Erfolg beschieden. Doch im Herbst 1886 heiratete der bereits 41-Jährige schließlich die fast 20 Jahre jüngere Marie Henriette Volkmar.

"Sie passt zu mir, als wenn sie beim Schöpfer eigens für mich bestellt und nach Maß gefertigt worden wäre", freut sich der Frischvermählte. Und in seiner Autobiografie schwärmt Deussen Jahrzehnte später: "Nach der Verheiratung konzentrierten sich alle ihre Interessen um ihren Gatten. Im Grunde verlangte sie vom Leben nichts weiter, als bei mir und um mich zu sein, machte alles mit, wovon sie glaubte, daß es mir angenehm sei, hörte gern zu, wie ich gern sprach und war mir in jedem Sinne eine treue, anhängliche, anspruchslose, liebe Lebensgefährtin."

Opferte sich seine Frau geradezu für Deussen auf, so war er umgekehrt keineswegs immer für sie da, wie etwa die Tatsache verdeutlicht, dass er in der Ferne auf einem Orient-Kongress weilte, während sie zu Hause eine Fehlgeburt erlitt. Auch als sich ein zweites Mal Nachwuchs ankündigte, fuhr Deussen lieber auf einen Kongress als seiner Frau zur Seite zu stehen. Er glaubte das ohne Weiteres "verantworten zu können", hatte er doch seine Schwester Marie Braitmaier zur Betreuung der werdenden Mutter abgestellt. Deussen, der die Arbeit an seinem Werk "höher schätz[te]" als seine "Pflichten als Gatte oder Vater", sei "[a]ls Lebensgefährte in schlechten Tagen [...] denkbar ungeeignet" gewesen, konstatiert Feldhoff denn auch zurecht.

Wo bei all dem wohl nur der "dunkle, melancholische Grund ihres [Marie Deussens] Wesens" hergerührt haben mag, der Deussen öfter darüber Klagen ließ, dass "[s]ein Frauchen wieder einmal sehr elend" ist? Feldhoff sucht die Ursache für Marie Deussens Melancholie und spätere Depressionen, die zu mehreren Einweisungen in Sanatorien führten, allerdings nicht etwa in ihrer Rolle als aufopfernde Ehefrau und in dem weithin verständnislosen Ehemann, sondern hat eine andere Erklärung parat. Sie leide an "endogene[r] Depression", einer Erkrankung, die in ihrer Familie gelegen habe.

Zwei Kinder gebar Marie Deussen ihrem Gatten - so muss man wohl tatsächlich formulieren -, bevor sie 1914 starb. Kurz zuvor hatte er bereits einen anderen Verlust zu verschmerzen gehabt. Er mag ihn gar härter getroffen haben. Henriette Hertz war gestorben. In ihr, nicht in Deussens Frau, sieht Feldhoff die "große Seelenverwandte" des Gelehrten. Das Ehepaar Deussen hatte Hertz Ende des 19. Jahrhunderts auf der Rückreise aus Indien in Rom kennen gelernt. Deussen, führt Feldhoff aus, habe in Hertz die "kongeniale Gesprächspartnerin" gesehen, "die sich aus traditioneller weiblicher Unmündigkeit verabschiedet hatte" und Deussen "nahezu gleichaltrig, auf gleicher Augenhöhe, in milder Emanzipation als selbstbewußte Frau" begegnete. Dass Hertz nie heiratete, erklärt Deussen selbst damit, dass "der gewöhnliche Lebensweg der Frauen ihrer hochstrebenden Natur nicht genügte".

Macht Feldhoff für die Depressionen von Deussens Frau auch grundsätzlich eine ererbte Veranlagung verantwortlich, so überlegt er doch, ob nicht vielleicht - wie er allzu launig formuliert - auch "'Hertz'-Beschwerden zum Leiden Maries" beigetragen haben könnten.

Neben Hertz findet noch eine zweite weibliche Geistesgröße die Anerkennung Deussens. Von ihr war eingangs bereits die Rede. Lou Andreas-Salomé habe ihn zwar "nicht eben durch Schönheit" beeindruckt, schreibt Deussen, "aber durch einen scharfen, klaren Verstand". Während er in seinen Memoiren Andreas-Salomés Roman "Im Kampf um Gott" mit den Worten "[i]ch fand in dem Buch viel Geist, und in den Geist verliebte ich mich" lobt, hebt sie in ihrer Monografie "Nietzsche in seinen Werken," den Einfluss hervor, den Deussen auf dessen Denken ausübte.

Unterdessen schwärmt Feldhoff von der "Magie" der "ungewöhnlich charmante[n], intelligente[n] junge[n] Frau", der die Männer "ausnahmslos" erlegen seien, unter ihnen auch der Moralphilosoph Paul Rée, der "sich später als Psychologe einen eigenen Namen machen" sollte, dessen Leben aber "nach einer unglücklichen Ehe mit der kapriziösen russisch-deutschen Schriftstellerin Lou Salomé fehl[geschlagen]" sei. Wie sehr Feldhoff dem Klischee der Männer vernichtenden femme fatale anhängt und wie sehr er es Andreas-Salomé aufzuzwingen versucht, macht nicht nur seine Rede von der "Magie" des Weibes deutlich, sondern mehr noch, dass er Salomé Rées misslungenes Leben in die Schuhe schiebt und hierzu gleich noch eine Ehe erfindet.

Damit ist eine der Schwächen des vorliegenden Buches benannt. Eine zweite liegt darin, dass Feldhoff allzu oft Martin Heidegger bemüht, wobei der Bezug auch schon mal sehr konstruiert ist. Erwähnt er etwa eine Vorlesungsreihe Deussens über "Hauptfragen der Philosophie", so fügt er sogleich an, es sei damals "noch zu früh" gewesen, "um an einer Technischen Hochschule philosophisch die 'Frage nach der Technik' zu stellen, wie dies Mitte des 20. Jahrhunderts Heidegger tat."

Insgesamt aber schreibt Feldhoff lebendig; selbst dann noch, wenn es um eine Grablegung respektive eine Einäscherung geht. Dies trägt nicht wenig dazu bei, einem Paul Deussen nahe zu bringen, der mehr als nur der Freund eines kränkelnden, sich als Übermenschen gerierenden Aphoristikers war, nämlich ein Gelehrter im ursprünglichen Sinne des Wortes.


Titelbild

Heiner Feldhoff: Nietzsches Freund. Die Lebensgeschichte des Paul Deussen.
Böhlau Verlag, Köln 2008.
281 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783412201951

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