Erlösung: Fehlanzeige

Andreas Maier schreibt mit "Sanssouci" einen Roman, der sein bisheriges Schaffen synthetisiert

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wo sind wir da hineingeraten? Ein prominenter westdeutscher Regisseur dreht in und über Potsdam eine Fernsehsoap und stirbt auf mysteriöse Weise. Ein minderjähriges Zwillingspaar von engelhaftem Aussehen irrlichtert durch die Havelstadt und erregt Begierde und Widerwillen zugleich. Ein deutsch-russischer sowie ein bulgarischer Gottsucher - Achtung, Letzterer zieht beim Gehen das linke Bein etwas nach! - setzen sich auf die Fährte der umtriebigen Geschwister, um sie oder sich oder am besten gleich alle zu erlösen. Derweil reden sich im Rathaus der Stadt die Kulturverantwortlichen um Kopf und Kragen, und auf einer Bank am Luisenplatz verkündet der einarmige Horst, auch Evangeliumshorst genannt: "Glaubt immer genau das Gegenteil von dem, was die Leute sagen...".

In der Tat: Andreas Maier hat mit seinem neuen Buch die Leser maximal verwirrt. Irgendwie erkennt man keinen roten Faden, und ob es sich bei der Geschichte um Scherz, Satire, Ironie oder tiefere Bedeutung handelt - darin sind sich die bis dato publizierten Einschätzungen keinesfalls einig. "Sanssouci" beginnt irgendwann ohne größere Notwendigkeit, und der Schluss, den es anbietet, könnte abrupter nicht sein. Dazwischen treiben im Erzählstrom rund ein Dutzend wenig realistisch anmutende Figuren mehr aneinander vorbei als auf ein gemeinsames Ziel zu. Ein Zehntel Schlüsselroman darf verifizieren, wer sich im Potsdamer Kulturbetrieb auskennt. Die anderen neun Zehntel sind für die einen Konkursmasse eines rasant scheiternden Erzählens, während andere darin ein urromantisches Konzept zu erkennen glauben, welches aktuelle Zivilisationskritik in einen Weg nach innen münden lässt und mit dem im Roman auftauchenden Begriff des "Insichvollendetseins" seine Leitvokabel präsentiert. Vielleicht hilft es bei dieser Lage der Dinge, sich noch einmal dessen zu vergewissern, was Andreas Maiers viertem und - nach eigener Aussage - vorerst letztem Roman vorausgegangen ist.

Da gab es zum Beispiel im Jahr 2004 den Streit um eine Stadtschreiberschaft für den Frankfurter Autor in Potsdam. Unterkunft und sechstausend Euro für vier Monate sollte die Ehrung noch nebenbei abwerfen. Weil sich aber die kulturell Zuständigen am Ort nicht einigen konnten, wo der Geehrte unterzubringen sei, endete das Ganze in einem Tohuwabohu. Letzten Endes zog sich Maier genervt zurück, kam später auf private Initiative aber doch noch an die Havel und hat - wie sich nun zeigt - fleißig Straßen- und Kneipennamen notiert, damit er den Tatort von "Sanssouci" auch geografisch korrekt beschreiben kann. Dann gärte es eine geraume Weile in ihm und, wie die "Potsdamer Neuesten Nachrichten" jüngst schrieben, rund um den Heiligen See wuchs die Furcht vor gemeiner Rachsucht.

Doch obwohl der Plan, die Stadt zu einem der Schauplätze seines neuen Romans zu machen, relativ früh entstand und im Laufe seiner Umsetzung auch deren Gewicht als Schauplatz - zunächst sollte nur ein Teil des Buches dort spielen - immer mehr zunahm, hat man es jetzt mit einem literarischen Ort zu tun, an dem Dinge geschehen, die nicht notwendig an Potsdam gekoppelt sein müssten. Indem sie es aber sind, erlauben sie Andreas Maier zwar die eine oder andere befreiende Stichelei, allein: Eine Generalabrechnung mit der Großmannssucht in Kleinstädten sieht anders aus. Und das Potsdam des Romans ist auch nicht die reale ehemalige preußische Residenzstadt mit ihren weithin berühmten Schlössern und Parks. Es ist nicht einmal die Provinz, die immer so gerne im Zusammenhang mit Andreas Maier ins Gespräch gebracht wird, sondern schlicht eine Probebühne, auf der der Autor grob typisierte Gestalten ein hochkomplexes Spiel um das richtige Leben in unserer heutigen Welt aufführen lässt. Ein Modell also - und damit Literatur.

Um diesen Deutungsansatz verstehen zu können sollte man noch einmal die drei ersten Prosawerke des Autors ins Auge zu fassen. Sowohl "Wäldchestag" (2000) - Maiers in den Konjunktiv vernarrtes und von der Kritik als Geniestreich gefeiertes Debüt -, als auch "Klausen" (2002), der schmalere Folgeroman, spielen abseits der Metropolen und demonstrieren, wie aus Reden Welt entsteht. Ihre Schauplätze, das hessische Nest Niederflorstädt und eine kleine Südtiroler Gemeinde an der Autobahn A 22, wimmeln nur so von Gerüchten und Mutmaßungen. Die Figuren, die Maier hierhin versetzt, kennzeichnet vor allem die Unermüdlichkeit, mit der sie ein nie ganz klar werdendes Ereignis, einmal die Testamentseröffnung eines Sonderlings ausgerechnet am Wäldchestag, Frankfurts "Nationalfeiertag", zum anderen einen nebulösen Terroranschlag in einem vor allem bei Deutschen beliebten Urlaubsidyll, so lange be- und zerreden, bis aus den vielfältigen Spekulationen von Stammtischbrüdern und -schwestern eine ganz eigene Form der Wahrheit entsteht.

Mit "Kirillow" (2005), Maiers im Frankfurter Studentenmilieu angesiedelten dritten Roman, wird die Ebene des kleinstädtischen Geschwätzes dann verlassen, obwohl sich auch in ihm - jetzt auf den Universitätscampus übertragen - noch genug Spuren davon finden. In den Vordergrund drängt aber die mit zunehmender Unerbittlichkeit gestellte Frage, wie falsches sich von wahrem Leben unterscheidet und was der Einzelne tun kann, um richtig im Sinne nicht jener Realität zu leben, die täglich als Extrakt aus den Medien aufsteigt, sondern in dem einer überzeitlichen, ja theologischen, mit Heilserwartungen ausgerüsteten Perspektive. Nur folgerichtig, dass zum Personal von "Kirillow" Russinnen und Russen gehören, existenzialistische Gottsucher von Dostojewski'schem Zuschnitt, die dieses Problem auf den Punkt zu bringen vermögen, obwohl man über deren Zeitgemäßheit natürlich trefflich streiten kann.

"Sanssouci" nun ist das Werk der Synthese des Vorausgegangenen. Die Bausteine, mit denen Maier seit seinem fulminanten literarischen Beginn arbeitet, hat er in ihm noch einmal alle aufeinandergestapelt. Sein literarischer Ort heißt jetzt Potsdam. Für das Geschwätz, welches Welten entstehen lässt, sorgen Stadtstreicher und ein halbes Dutzend frühreifer Schüler, die nette Nachbarin und der Lokalreporter, das Kulturdezernat und der Bürgermeister. An Dostojewski und das Manifest des Andrej Kirillow aus dem fernen Chabarowsk erinnert am meisten der Mönch Alexej Lipskij samt seiner gottesfürchtigen Lebensweise. Die großen und die kleinen Stammtische sind wieder da, wobei "der kleine Stammtisch restverwertete, was der große Stammtisch, die Medien, ihm an Material überantwortet hatte". Und so progressiv, politisch und ökologisch überkorrekt sich ein Großteil der auftretenden Figuren auch immer verhalten mag, im Grunde sind sie alle nicht mehr als "jung, schlank und extrem nett", was in diesem Roman wahrhaftig nichts Positives bezeichnet.

Denn Maier geht es, womit er, soweit ich sehe, in der gesamten deutschsprachigen Literatur unserer Tage singulär dasteht, um das Ganze. Und darunter versteht dieser Autor tatsächlich nicht mehr, aber auch nicht weniger als die heute richtige, unserer gegenwärtigen Welt gemäße Art zu leben. Diesem radikalen und eigentlich ganz und gar unmodernen Ansatz sind die vielen oberflächlichen Gutmenschen vom Schlage einer Merle Johannson, deren Sohn, weil ihr Name etwas nach Maria und Joseph klingt, natürlich Jesus heißen muss, nicht im Geringsten gewachsen. Sie alle haben nämlich ihre dunklen, verschwiegenen Seiten, so wie die im Tageslicht leuchtende Anlage von Schloss und Park inmitten der Stadt, die dem Roman zu seinem Titel verholfen hat, bei Andreas Maier von einem System dunkler Gänge und geheimnisvoller Räume unterlaufen ist, in welchen, wenn es Nacht wird in Brandenburgs Hauptstadt, Böses und Gottloses geschieht.

Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn das Ende des Romans vom Tod eines jungen Mädchens berichtet - und zwar aus dessen eigener, sich plötzlich verdunkelnder Perspektive -, das vorher durchaus Sympathien auf sich ziehen konnte. Einmal muss Schluss sein, warum also nicht die Gelegenheit nutzen? Zumal sich mit dem rigorosen Beenden eines Diskurses, der generell nicht aus den Handlungen der an ihm sich beteiligenden Personen zu verstehen ist, sondern nur aus der Gesamtheit einer Versuchsanordnung, die das Helle gegen das Dunkle, das Oberirdische gegen das Unterirdische, das Heil gegen das Unheil, die Hoffnung gegen die Verzweiflung, die Wahrheit gegen den Verrat am Leben stellt, auch die Chance ergibt, das Feld für die Leser zu räumen. Damit die sich selbst auf den Weg aus der Finsternis ans Licht machen können.


Titelbild

Andreas Maier: Sanssouci. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
300 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518420300

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