Was auf Reisen schiefgeht, kann als Werk gelingen

Ein Sammelband beschäftigt sich mit der Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum ein Bahn- oder Flugreisender wird Oliver Lubrichs Festellung im Vorwort zu dem vorliegenden Band widersprechen: "Reisen und Scheitern liegen nahe beieinander". Die Feststellung wird an Beispielen aus der Literatur-, Kunst- und Musikgeschichte in fünfzehn Beiträgen untersucht, die in Form einer Festschrift zu Gert Mattenklotts 65. Geburtstag eingetroffen sind - hoffentlich auf geradem Wege.

Sie vollziehen längere und kürzere Reisen nach, die anders als geplant verlaufen sind, und gehen dabei vom konkreten Reiseerlebnis aus, das später ästhetisch geformt wurde. Der Begriff der Reise wird also nicht metaphorisch überstrapaziert; allenfalls so naheliegende Fragen wie diejenigen nach der übersetzerischen Begleitung des Reisenden, nach Art und Weise der Umformung und Adaption des Begegnenden und nach der Stabilität der Grenze zwischen Realität und Fiktion werden behandelt. Das Ganze bleibt anschaulich, so dass man den Beiträgern stets gern folgt.

Welche Faszination das Umherschweifen ausübt, lässt sich an Bernd Seidenstickers Beobachtung belegen, dass die Odyssee als "Synonym nicht etwa für eheliche Treue, für Heimkehr oder für die Sehnsucht nach Heimat steht, sondern für eine Irrfahrt", obwohl die anderen Möglichkeiten ebenfalls am Text festzumachen wären. Nicht einmal auf Ithaka selbst habe Odysseus direkt zum Palast gehen können, stellt Seidensticker fest. Er belegt im Weiteren überzeugend, dass an allen Wendepunkten des Epos der Ölbaum - mehr oder weniger deutlich - Athenes bestimmende Einflussnahme auf den Gang des Handelnden anzeigt.

Viktor Ottos Beitrag zu deutschen Siedlern in Nordamerika bringt den Zwiespalt zwischen gewollter oder ungewollter Umtriebigkeit und Sesshaftigkeits-Sehnsucht auf den Begriff der 'ambulanten Heimat'. Wo ich bin, ist Deutschland, und wo ein Weg ist, ist auch ein Wille. Ins Extrem weitergedacht hat das einst Ernst Jünger: "Wenn wir uns den Polen nähern, verschwinden die Echsen, die Insekten, sogar die Urtiere. Endlich besteht nur noch der Mensch, dank seiner Erfindungskraft."

Reiner Niehoff zitiert Entsprechendes aus Ernest Shackletons Tagebuch: dass man bei der gescheiterten Polarfahrt "zur nackten Seele des Menschen vorgestoßen" sei. Und das war natürlich weder angenehm noch Sinn der Sache. Niehoff kommentiert daher süffisant, dass die bedeutendste Leistung des Briten wohl darin bestehe, wieder "mit heiler Haut von dort zurückgekehrt zu sein, wohin man erst gar nicht gelangt ist". In seiner Untersuchung von Konrad Bayers "Kopf des Vitus Bering" weist Niehoff auf das spezifisch Moderne von Bayers Interpretation hin, der wortgewaltig Transgression und Ent-Eignung verteidigt.

An Übertritten interessiert war auch Faust, der in erster Linie ein Reisender sei - so lautet Bernd Blaschkes unmittelbar einleuchtende These, die er an verschiedenen Ausformungen des Fauststoffs verdeutlicht. Der Autor genießt es merklich, in seine detailreiche Analyse Begriffe wie Running Gag, Sightseeing und Lustreise einzubringen und Mephisto (und Helena) als Reiseunternehmer beziehungsweise -führer zu kennzeichnen - eben weil dies alles so einleuchtend ist. Der Leser würdigt, wie dicht die für das Reisen relevanten semantischen Felder sind, die Blaschke sichtbar macht. Blaschke berücksichtigt zeitgeschichtliche und biografische Entwicklungen (Montgolfiers Flüge, Goethes eigene Reisen) und bereitet den Boden für die angeforderte zusammenhängende Darstellung von Fausts Reisewegen und Verkehrsmitteln.

Karl Heinz Bohrers Studie zu Charles Baudelaire und Joseph Conrad spürt den Gründen nach, aus denen die literarischen Reisenden der "Fleurs du mal" und von "Heart of Darkness" enttäuscht werden. Die Unmöglichkeit authentischer, affirmativer Erfahrung werde in den untersuchten Werken weder sentimental noch metaphysisch noch mythologisch kompensiert; vielmehr werde Distanz zu Katalysator und "Metapher für die Subjektivität poetischer Stimmung", für ihre imaginative Kraft, Erhabenheit und Rätselhaftigkeit.

Andere Routen durch dieses Buch ließen sich vorstellen, etwa via Hans Christoph Buchs Anmerkungen zu Wilhelm Hauffs und Sindbads Totenschiffen zu Friederike Wißmanns sowohl kulturgeschichtlich eindrücklicher als auch materialnaher Untersuchung von zwei Händelopern (vor und in Italien). Andere Lesenswürdigkeiten ließen sich hervorheben, darunter die kleine Kulturgeschichten des Kraken, des ägyptischen Totenkultes, der preußischen Historienmalerei (Menzels etwas verloren dreinschauender Friedrich II. ohne Feindberührung) und der chinesischen Archäologie. In jedem Fall gilt: De gratulantibus nil nisi bene. Denn der Rezensent las "Umwege" - auf einer ungeplant langen transatlantischen Flugreise - als anregenden, bei aller Vielgestaltigkeit ungewöhnlich kohärenten und in vielen Details wegweisenden Sammelband.


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Bernd Blaschke / Rainer Falk / Oliver Lubrich / Friederike Wißmann / Volker Woltersdorff / Dirck Linck (Hg.): Umwege. Ästhetik und Poetik exzentrischer Reisen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
311 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783895287039

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