Die Vernunft hat es immer schwer

Kurt Flasch schenkt uns mit seinem Buch "Kampfplätze der Philosophie" eine Philosophiegeschichte der besonderen Art

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Philosophiebüchern nimmt man ja meistens an, dass sie von einer gewissen Trockenheit sind. Ausnahmen gibt es wenige, Odo Marquard zum Beispiel mit seinen prägnanten und essayistischen Gedanken über die Philosophie als "Inkompetenzkompensationskompetenz", die nicht umsonst in der gelben Reclamreihe erscheinen. Eine andere Ausnahme ist Kurt Flasch. Auch ihm gelingt es, die Geistesgeschichte spannend darzustellen. Und dass das nicht mit einer Verflachung einhergehen muss, wie die behaupten, die nicht so gut schreiben können wie er, hat er jetzt in seinem neuen Buch "Kampfplätze der Philosophie" aufs Neue bewiesen - es ist eine Philosophiegeschichte der besonderen Art.

Seine Ausgangsthese ist, dass die Philosophie immer auch etwas mit der Gesellschaft zu tun hat, in der sie ausgeübt wird. Und das war schon im so lange als dunkel bezeichneten Mittelalter so: Auch da ging es nicht nur um den Austausch von Argumenten, die Interpretation von Schriften, die Möglichkeiten von Ideen. Sondern es ging auch um die Macht. Um die Deutungsmacht, aber auch um die persönliche oder sogar politische Macht.

"Kampfplätze" - das ist dabei ein großes Wort. Flasch aber zeigt in zwanzig "Duellen", dass es damals durchaus heftig zuging im geistig sehr wohl aufregenden Mittelalter. Denn Philosophie ist nie (nur) das Streben nach Wahrheit oder Weisheit, sondern es ist ein Kampf, ein Streit, ein Konflikt. Und das schon von Anfang an: Tausend Jahre Streitgeschichte, vom frühen Mittelalter bis zum Anfang der Moderne, vom Kirchenvater Augustin bis zum Aufklärer Voltaire, das zeigt uns jedenfalls Flasch.

Erster Duellplatz: um 400 nach unserer Zeitrechnung schlugen Augustinus von Hippo und sein inzwischen vergessener Gegner Bischof Julian von Aeclanum aufeinander ein. Es ging um das Dogma der Erbsünde, um den strafenden Gott und eigentlich auch um die Autorität Augustinus'. Der hatte dekretiert, dass es die Erbsünde gebe, dass Sex per se etwas Satanisches sei und dass deswegen jedes Kind, das sterbe, sofort in die Hölle komme, wenn es nicht getauft werde, weil es ein pures Produkt der Sünde sei. Logisch, oder? Gegen ihn verteidigte Julian die auch von Gott gegebene Vernunft und die Willensfreiheit. Und wurde mit Exil und jahrtausendelangem Vergessen bestraft. Nicht einmal im neuesten Brockhaus ist ein Eintrag über ihn zu finden. Dabei lieferten sie sich einen auch herrlich polemischen Streit, Augustin nannte Julian den "Patron der Esel", Julian beschimpfte Augustinus als "asthmatischen Greis". Bis in unsere Zeit wirkt der Streit zwischen "Natur oder Gnade", "Menschenwürde oder Allmachtstheologie" (Luther gegen Erasmus) nach. Aber Augustinus hatte erst einmal gesiegt: "Die intellektuelle Geschichte Europas war die geduldige und leidvolle Arbeit, die antike Idee von Verantwortlichkeit und Freiheit, die Augustin verdrängt hatte, zurückzugewinnen."

Fünfhundert Jahre später ging es noch einmal um Augustinus. Im Karolingischen Reich war der Gott der Strafe und Gnade allerdings nicht mehr so wichtig. Der Einzelne war für seine Taten wesentlich mehr verantwortlich, schließlich hatte man ein zivilisiertes Reich geschaffen, Baudenkmäler, eine Verwaltung, nach dem Vorbild der Römer. Dann aber kam Gottschalk, ein Mönch aus Sachsen, der im "Prädestinationsstreit des 9. Jahrhunderts" an Augustinus' Wort erinnerte, nach dem die Menschen nach "Gottes unerforschlichem Ratschluss" entweder dem Himmel oder der Hölle zugeschlagen werden. Das durfte nicht mehr sein, das war ja eine Generalverurteilung der ganzen Gesellschaft, die sich zum Teil aus eigener Kraft erschaffen hatte: Gottschalk wurde vor die Mainzer Synode geladen und öffentlich ausgepeitscht. "Alle gegen Gottschalk", da zeigte sich, wie lebensgefährlich Philosophie auch sein konnte.

Flasch streift Alkuins Politische Theologie, die Machtpolitik Karls des Großen gegen Byzanz, und kommt dann zum Kampf zwischen Berengar von Tours und Lanfrank von Bec. Denen ging es darum, was Jesus beim Letzten Abendmahl sagte, die berühmten Sätze: "Dies ist mein Leib" und "Dies ist mein Blut". Was heißt hier "ist"? Ist es eine "Wandlung der Substanz" und damit eine spirituelle Umkehr? Oder ging es eigentlich um Machtpolitik? Berengar stand dem Haus Anjou nahe, das dem Reich verbunden war, Lanfrank war Berater von Wilhelm dem Eroberer, dessen Normannen vom Papst unterstützt wurden, der schon damals ein aggressiver Mensch war. Etwas später zeigte sich das in den Kreuzzügen, mit denen die Päpste Europa aufhetzten, gegen Moslems und Juden, zu einem Eroberungskrieg. Flasch nennt das die "Machtergreifungstendenz der Kirche im 11. Jahrhundert", in der auch eine Rolle spielte, wer die Deutungsmacht innehatte.

Auf weiteren Kampfplätzen der Philosophie, die in jener Zeit fast immer auch Theologie bedeutete, tobte der Krieg zwischen Manegold von Lautenbach und Wolfhelm von Köln, zwischen Abälard und Bernhard von Clairvaux, zwischen Averroes und Al-Gazali, zwischen Albertus Magnus und Averroes und zwischen Thomas von Aquin, Dante und Marsilius von Padua, Lutterell und Ockham, Meister Eckhart und seinen Gegnern, Nikolaus von Kues und Johannes Wenck, Erasmus und Luther, Francesco Patrizi und die Peripatetiker, Leibniz und John Locke, Pierre Bayle, Voltaire und Pascal.

Es ist beeindruckend, was Flasch alles weiß. Aber nicht nur das. Es ist auch beeindruckend, wie er sein Wissen, seine Philosophiegeschichte darstellt. Sie ist spannend, vergnüglich und intellektuell absolut anregend. Geistvoll, wie es sonst nur englische Gelehrte können, beschreibt Flasch die großen Entwicklungslinien und präsentiert die vielen Einzelheiten, die nur aus einem jahrelangen Studium erwachsen können, fast nonchalant nebenbei. Sein Buch ist höchst anregend und ein weiterer kleiner Mosaikstein gegen das Verdikt der Renaissance, das Mittelalter sei dunkel gewesen. Aufregend war es, auch intellektuell, weil die Vernunft immer stärker wurde.

Nur das offizielle Christentum hatte immer seine Probleme mit der Vernunft. Denn für dieses stand immer seine Macht in Frage, wenn die eigenen Positionen angegriffen wurden. Und so verteidigten sie sich immer auch mit Machtmitteln. Beispielsweise gegen Abälard, der wie Julian ein Feind der augustinischen Gnadenlehre war, und meinte, dass Sex und Lust ganz natürlich sei - nur wer willentlich das Böse wähle, der sündige. Wie Abälard endete, weiß man. Aber auch viele Denker nach ihm ereilte ein böses Schicksal. Denn heimlich hatten sie an der Deutungsmacht der Kirche gekratzt. Und das ging nicht, so wie es noch heute nicht geht. Die Vernunft hat es immer schwer. Und auch für diese Erkenntnis sei Kurt Flasch gelobt.


Titelbild

Kurt Flasch: Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2008.
362 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783465040552

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