Eine gefährdete Freundschaft

Die Korrespondenz zwischen Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Briefwechsel zu lesen kann eine zwiespältige Erfahrung sein. Es gibt das legitime Interesse der Nachwelt, das Lebensumfeld der Großen kennenzulernen, denn in diesem Umfeld, in diesen Konflikten, entstanden deren Werke. Es handelt sich also um ein Interesse, das auf schärfere Konturierung zielt - was ein Text ist, bestimmt sich nicht zuletzt durch die Abgrenzung davon, was sein Autor nicht wollte. Es gibt zudem die kulturgeschichtliche Neugier darauf, wie in einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kreis, kommuniziert wurde.

Darüber hinaus enthalten manche Briefe so Privates, dass sie auch eine Art niederer Neugier zu befriedigen geeignet sind - oder aber das schale Gefühl hinterlassen, gelesen zu haben, was nicht für einen bestimmt war. Der Briefwechsel, den Theodor W. Adorno und Siegfried Kracauer über mehr als vierzig Jahre führten, von 1923 bis zu Kracauers Tod 1966, reicht zuweilen in diesen Bereich hinein. Dies liegt weniger daran, dass in der Frühzeit dieser Korrespondenz homoerotische Motive mehr als deutlich anklingen - der Skandalwert solcher Erfahrungen hat sich mittlerweile abgeschliffen, selbst wenn es um eine Beziehung des erwachsenen Mannes Kracauer zu dem vierzehn Jahre jüngeren, nach damaligen Recht zu Beginn des Briefwechsels noch nicht volljährigen Adorno handelt.

Viel schärfer aber berührt das Verzweifelte dieser Zuneigung, das Kracauer gleich im ersten überlieferten Brief ausdrückt: "Verzeih, daß ich Dir so aufgewühlt schreibe, so hinbegehre nach unserem Zusammensein, aber es ist mir eben so ums Herz, ich bin ja ganz haltlos innerlich, ein kleines Federchen bringt mich auseinander, fegt mich weg, wie viel mehr die Angst vor unserer Trennung, die Angst davor, daß Du nicht unser Verhältnis so ausschließlich und ewig im Sinne hältst wie ich."

Zwei Jahre später sollte die Trennung real werden, zumindest in räumlicher Hinsicht: Adorno siedelte für Frühjahr und Sommer 1925 nach Wien über, vor allem, um bei Alban Berg Kompositionsunterricht zu nehmen. Seine Briefe aus Wien berichten von den neuen Eindrücken, sind aber vor allem Rechtfertigung: Rechtfertigung gegenüber den Vorwürfen des älteren Freundes, ihn zu vernachlässigen.

Dies ist vor allem aus Adornos Briefen zu rekonstruieren - die Mehrzahl der Briefe Kracauers, bis in die frühen Jahre der Emigration, ist verloren, so dass von einem Briefwechsel im engeren Sinn erst für die Nachkriegszeit zu reden ist. Es mag an der Überlieferungslage liegen, dass Adornos Position als die nachvollziehbarere erscheint. Sicher - er inszeniert sich als vereinsamten Melancholiker, während das gleichwohl getreu notierte Faktische doch Monate voller Anregungen und Erfolge zeigt. Doch ist auch dies, in jedem Brief, mit einer sprachlichen Präzision und Anschaulichkeit notiert, die unter den heute hochgelobten Schriftstellern kaum einer in einem Hauptwerk erreicht. Und was Vorschläge zur Organisation gemeinsamer Reisen im Sommer 1925 angeht, ist Adorno bis zur Selbstverleugnung flexibel.

Freilich kann man auch zu sehr rechthaben. Kracauers Vorwürfe in jedem der verlorenen Briefe dürften so sehr widerlegt worden sein wie die in dem einen erhaltenen aus dieser Zeit - und doch spürte der Ältere genau genug, dass der Jüngere sich eine eigene Sphäre erschloss, die ihn kaum mehr betraf. Nie mehr wurde der Ton so intim wie zu jener Zeit. Die große Schlacht der Ablösung war bald geschlagen - es folgten andere Schlachten, mit ähnlichem Muster.

Der "Komplex Entfremdung + Entfernung" - so Kracauer 1926 - wird noch einige Zeit diskutiert, und das Bemühen, persönliche Missverständnisse auszuräumen, bleibt eine Konstante bis in die letzten Jahre, doch mehr und mehr drängt sich Sachliches in den Vordergrund. Das gilt schon für die letzten Jahre der Weimarer Republik, in denen Kracauer als Berliner Korrespondent der "Frankfurter Zeitung" entfernt von Adorno lebte, und es verstärkt sich noch in den Jahren des Exils.

Kracauer, der, journalistisch zuvor exponiert, schon wenige Wochen nach der Machtübergabe an die Nazis floh, bekam zunächst von Adorno Nachrichten aus Deutschland. Aus heutiger Sicht finden sich da groteske Fehleinschätzungen: "Es herrscht völlige Ruhe und Ordnung", heißt es im April 1933, "ich glaube, die Verhältnisse werden sich konsolidieren", Kracauer solle zurückkehren. Das Politische überhaupt ist überraschend abwesend in dieser Korrespondenz zweier Intellektueller, die zur Soziologie der deutschen Gesellschaft Wichtiges beigetragen haben. Der Blick auf die Gesellschaft scheint ganz vom Philosophischen - bei Adorno - und ganz von der Wahrnehmung des Einzelnen - bei Kracauer - bestimmt zu sein. Dies erspart beiden Wunschdenken wie auch falsche Ideologisierungen, doch macht es sie unempfänglich für die pragmatische Trivialität, wie sie der praktischen Politik aller Parteien nun einmal zu Eigen ist.

Adorno kam, dank seiner Verbindungen mit dem Institut für Sozialforschung, vergleichsweise problemlos in die USA und setzte sich energisch mit Arbeitsangeboten und Ratschlägen dafür ein, dass Kracauer sich vor der deutschen Gefahr aus Europa retten konnte. Nach dem Krieg kehrte Adorno nach Frankfurt zurück und gab Kracauer nützliche Informationen über den Stand der Diskussionen in Deutschland und über deutsche Verlage. Auch auf sein Bemühen ist zurückzuführen, dass Kracauer, der in der USA blieb, mit Suhrkamp einen Verlag fand, der sein Werk bis heute umfassend und zuverlässig ediert.

Es blieb über Jahrzehnte bei einer räumlichen Trennung. Adorno gelang 1938, nach einer Zwischenstation in Oxford, die Übersiedlung in die USA, Kracauer kam erst 1940 nach New York, als Adorno schon an der Westküste lebte. 1949 kehrte Adorno nach Frankfurt zurück. Kracauer blieb in den USA, reiste aber fast jährlich nach Europa, wo er häufig auch Adorno traf.

In dieser Zeit gab es Phasen größerer Nähe, aber auch Jahre mit nur vereinzelten Kontakten. Als Kracauer noch auf eine Möglichkeit zur Flucht aus Europa wartete, versorgte Adorno den älteren Freund mit Ratschlägen, wie der es anstellen könne, in den USA ein Forschungsprojekt und damit eine Einreisegenehmigung zu bekommen. Dem Bemühen scheint allerdings entgegenzustehen, dass sich Adorno gegenüber Mitarbeitern des Instituts für Sozialforschung sehr distanziert über den Wert von Kracauers Arbeiten äußerte und von einer ausführlichen Studie Kracauers zur Propaganda in Deutschland und Italien eine Kurzfassung erstellte, die dieser entsetzt so kommentierte: "Ich muß Dir gestehen, daß mir eine Bearbeitung, die so jedem legitimen Usus zuwiderläuft, in meiner ganzen literarischen Laufbahn nicht zu Gesicht gekommen ist." Und: "Du hast in Wahrheit mein Manuskript nicht redigiert, sondern es als Unterlage für eine eigene Arbeit benutzt."

Schon im Jahr 1937 hatte Adorno mit einer vernichtenden Kritik an Kracauers Buch über Jacques Offenbach die Freundschaft auf eine harte Probe gestellt. So sah er, außer mangelhafter musikalischer Begrifflichkeit, Konformismus und sprachlicher Nachlässigkeit, einen "leeren gesellschaftlichen Rahmen", der "mit Anekdoten aufgefüllt" worden sei. Grob fasste er grob zusammen, das Buch zeige eine "Menschenverachtung" des ",für euch Schweine schreib ich immer noch gut genug'" und "Zerstörungsdrang: gegen die Sprache und gegen alles, was Du selber je erkannt hast."

Das ist äußerst verletzend gegenüber jemandem, der, wie Adorno selbst als Problem seiner Kritik benennt, um sein Auskommen, ja: um sein Überleben bangen muss und gerade einmal hoffen kann, widrigen Umständen doch etwas abgerungen zu haben, was sowohl Wert hat als auch verkäuflich ist. Doch liegt in solcher Aufrichtigkeit auch eine Achtung, wie sie das oberflächliche Lob, das müheloser zu schreiben gewesen wäre, nicht bedeutet hätte. Die Differenz zuzuspitzen ist zwar auch Frage des Temperaments, vielleicht sogar der Freude daran, sich intellektuell als überlegen zu erweisen. Dass Adorno schreibt: "Wenn aber unsere Beziehung noch Gegenwart hat und nicht bloß vom Vergangenen zehrt, dann wäre es nicht zu verantworten, wenn ich schweigen wollte in einem Augeblick wie diesem", ist dennoch keine Phrase, sondern Bereitschaft zur und Forderung nach äußerster geistiger Anstrengung.

Auf lange Sicht schlug der Versuch allerdings fehl. In den Briefen der Nachkriegszeit legen Adorno und Kracauer noch unterschiedliche Meinungen dar, tauschen sie Argumente aus, doch fehlt das Drängende der früheren Jahrzehnte. Beide waren zu sehr mit universitären Pflichten belastet, um Streitfragen anders als pragmatisch behandeln zu können; auch waren im Lauf der Zeit die Differenzen zu groß geworden. Die einzige grundlegende Kritik aus dieser langen letzten Phase stammt von Kracauer, und sie findet sich bezeichnend genug in keinem Brief, sondern in Gesprächsnotizen aus dem Jahre 1960, die der Herausgeber Wolfgang Schopf dankenswerterweise in die Anmerkungen aufgenommen hat. Hier heißt es über Adorno: "To him, dialectics is a means of maintaining his superiority over all imaginable opinions, viewpoints, trends, happenings, by dissolving, condemning or again rescuing them, as he pleases. Thus he establishes himself as the master and controller of a world he has never absorbed."

Wenn trotz all dieser Konflikte die Freundschaft über Jahrzehnte erhalten blieb, so sicher nicht zuletzt, weil Adorno und Kracauer immer wieder gemeinsame Gegner fanden. Das waren natürlich, besonders in der Nachkriegszeit, Martin Heidegger und seine Gefolgsleute - alles, was am trüben existentialistischen Trend jener Jahrzehnte Anteil hatte. Doch auch gegen Personen, mit denen Kracauer oder Adorno zu anderen Zeiten durchaus engen Kontakt hatten oder sogar zusammenarbeiteten, finden sich Invektiven - "angesichts des Scheines von humaner Versöhnung, den jeder Satz des Schwindlers kitschig anstrahlt", will Adorno 1927 jede Milde gegen Thomas Mann vermieden wissen; und Ernst Bloch sei - so 1930 - nach dem Erscheinen von "Spuren" "als geistige Kraft erledigt und Märchenerzähler ist ja schließlich keine Existenz". Kracauer wiederum hat im selben Jahr bei theoretischen Gesprächen mit Bertolt Brecht "das Gefühl, sich mit einem Obertertianer zu unterhalten", und die "invertierte Romantik" von Brechts "Maßnahme", deren "Brutalität nur in einem nationalsozialistischen Lande möglich" sei, stößt ihn ab.

Nicht nur in solchen Bosheiten ergibt sich ein reiches Bild intellektueller Beziehungen von der Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik - wenn auch nicht zu leugnen ist, dass kritische Bemerkungen solche der Anerkennung bei weitem überwiegen. Die sorgsame und erhellende Kommentierung trägt das ihre dazu bei, dieses Geflecht von Zusammenarbeit und Abstoßung zu beleuchten. So ist man versucht zu sagen, dass die Edition ertragreich im Sachlichen, doch problematisch im Persönlichen ist. Doch würde man damit das Besondere verfehlen: wie der Briefwechsel die Geschichte einer enttäuschten Liebe darstellt, die in eine wie auch immer prekäre Freundschaft zu überführen gelang.


Titelbild

Theodor W. Adorno / Siegfried Kracauer: "Der Riß der Welt geht auch durch mich". Briefwechsel 1923-1966.
Herausgegeben von Wolfgang Schopf.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
770 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783518584965

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