Aller guten Dinge sind drei

Dieter Kühn und seine neuen, alten Geschichten über Geschichte

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn Dieter Kühn zur Feder greift, darf man grundsätzlich gespannt sein und Originelles und Geistreiches erwarten - und das schon seit über vier Jahrzehnten. Dass in einer solch langen Zeit und angesichts der dabei produzierten Textmenge bereits veröffentlichte Versuche überarbeitet, redigiert, revidiert oder teilweise umgestaltet werden, um dann in neuem Gewand einen zweiten Frühling zu erleben, ist weder ungewöhnlich noch ehrenrührig und darf ebenso neugierig machen wie ein wirklich neuer Text. Allerdings hat es ein aufbereitetes Werk per definitionem etwas schwerer, weil es nicht nur sich selbst beziehungsweise seine Wiederbelebung rechtfertigen muss, sondern auch, weil es in einer gewissen Konkurrenz steht zu seiner eigenen Vorlage und sich deshalb ein Vergleich mit jener geradezu aufdrängt.

Doch diese Vergleiche mag der interessierte Leser anstellen - die Rezensentin lässt die neuen, alten Texte ohne die Schatten der Vorgänger wirken und beschäftigt sich lieber mit dem Mit- und Gegeneinander von historischer Realität und Fiktion, das als zentrales Motiv der vorliegenden, drei Texte umfassenden Sammlung spitzbübisch und selbstbewusst innewohnt.

Das "Festspiel für Rothäute", die revidierte Fassung des bereits 1974 unter gleichem Titel erschienenen Textes, erzählt in der für Kühn typischen Fragmenttechnik von vier nordamerikanischen Irokesenhäuptlingen, die im Frühjahr 1710 von englischen Offizieren zu einem vermeintlichen Staatsbesuch nach London gebracht worden waren. Selbstverständlich hatten die findigen Gastgeber Hintergedanken: die Häuptlinge sollten sich nämlich durch diesen Besuch den Engländern gegenüber verpflichtet und verbündet fühlen und den späteren Grenzkrieg für die Engländer nicht nur führen, sondern auch gewinnen. Fast erübrigt es sich hinzuzufügen, dass gerade die Indianer schlussendlich die großen Verlierer auch dieses Krieges waren.

"Hoffmanns Tropfen für Goethe" basiert auf Kühns 1985 erschienener "Flaschenpost für Goethe". Von den ursprünglich vier an Goethe gerichteten Briefen wird hier der vierte zugrunde gelegt; darin schlägt ein Verlagsbuchhändler Goethe vor, eine Textauswahl einschließlich eines Vorworts über E. T. A. Hoffmann zusammenzustellen - ein Autor, den Goethe nicht eben schätzte. Kunstvoll, aber streckenweise auch etwas weitschweifig wird dieses Dokument in Kühns Fantasie zum Ausgangspunkt für allerlei geistreiche Abstecher in die verschlungenen Pfade der Literaturgeschichte.

Titelgebend für das Buch ist der Text "Ein Mozart in Galizien", der ein Interesse Kühns an Figur und Person des jüngeren der beiden Mozart-Söhne dokumentiert, das bereits bei früheren Gelegenheiten seinen Niederschlag gefunden hat. Diese historische Figur, ebenso interessant wie unbekannt, wird zum Dreh- und Angelpunkt einer dreigeteilten Werkstattschau, die hin- und herspringt zwischen Ansätzen und Überlegungen zum Verfassen eines historischen Romans und einer Biografie. Dazwischen - eingestreut, hinterfragt, kritisch beäugt, bestätigt und dementiert - blitzen immer wieder die biografischen Fragmente des verlorenen Sohnes hervor, dessen Lebensgeheimnis bereits mit der Frage nach seiner Herkunft beginnt: Ist Franz Xaver Mozart wirklich der Sohn von Wolfgang Amadeus Mozart (in dessen Todesjahr er geboren wurde) oder doch eher der Spross von Franz Xaver Süßmayr, seit 1790 im Hause Mozart beschäftigt? Eine immer wieder gern bemühte, nie bestätigte These, die seinerzeit schon durch den Mozart-Biografen Wolfgang Hildesheimer weite Verbreitung fand.

Das Wenige, was über den Mozart-Sohn bekannt ist, lässt sich in ebenso wenigen Zeilen zusammenfassen: 1808 geht er als Musiklehrer nach Galizien - ein Knick in seiner Biografie, wie Kühn meint, dem man mit allerlei Gedankenspielen und Spekulationen allerlei Wendungen und Bedeutungen geben könnte.

1813 lässt sich Franz Xaver nachgewiesenermaßen als Pädagoge und Komponist in Lemberg nieder, von wo aus er zwischen 1818 und 1821 eine ausgedehnte Konzertreise durch Europa unternimmt. Nach einem abschließenden Aufenthalt in Wien kehrt er 1822 nach Lemberg zurück, wo er sich auch als Mitbegründer des Musikvereins und eifriger Konzertveranstalter einen Namen macht. 1838 kehrt er schließlich nach Wien zurück und stirbt 1844 während eines Kuraufenthaltes in Karlsbad. Sein überschaubares, heute praktisch vergessenes Œuvre besteht aus einer Symphonie, zwei Klavierkonzerten, elf kammermusikalischen Kompositionen, 26 Liedern und drei sonstigen Gesangswerken.

Den sehr eigenen Stil Kühns - das Sich-Annähern an die Personen und Figuren seiner Texte, das Kreisen um Fakten, Fiktionen, Möglichkeiten, Spekulationen und Optionen, das distanzierende Fragmentieren von Handlung in kleine Handlungseinheiten, das Aufbrechen von chronologischer und räumlicher Kontinuität, das diskontinuierlich-verschriftlichte Nachdenken über Wege und Umwege in der Textgestaltung und die Omnipräsenz von Textwerkstatt inmitten von Historie und Fiktion - muss man allerdings mögen, um an diesem Buch bis zur letzten Seite Gefallen zu finden. Sonst kann es passieren, dass man sich verliert in diesem üppigen Textdschungel, in dem man einfach nur Geschichten über Geschichte nachlesen wollte.


Titelbild

Dieter Kühn: Ein Mozart in Galizien. Erzählte Geschichte.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
474 Seiten, 11,95 EUR.
ISBN-13: 9783596179145

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