Der zweitmoderne Gott

Ulrich Beck schreibt über die Friedensfähigkeit der Religionen

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Religion hat heute einen eigentümlichen Status. Zum einen ist es Mode geworden, von einer Wiederkehr des Religiösen zu sprechen. Allerlei Esoteriker, Papstfreunde oder vom Denken gelangweilte Theatermacher vermuten, man solle sich nicht rational über gesellschaftliche Werte verständigen, sondern sie im Glauben empfangen. Zur Behauptung, Religion habe auch dem modernen Menschen noch etwas zu sagen, gesellt sich die Furcht vor ihrem Gewaltpotential. Nicht nur muslimische Fundamentalisten sind berüchtigt, sondern auch christlichen Radikalen wird nicht zu Unrecht eine Verstrickung in die Exzesse der nun zum Glück überstandenen Bush-Regierung zugeschrieben.

Dieses Schwanken zwischen einer Hoffnung auf Sinnstiftung und der Angst vor dem Terror, den vermeintliche Vertreter einer Sinnordnung verbreiten können, charakterisiert auch Ulrich Becks Versuch, Religion nicht als Teil des Problems, sondern als Teil der Lösung zu sehen. Vorweg: Dies Buch zu rezensieren ist keine dankbare Aufgabe. Fast jeder denkbare Einwand gegen Becks Behauptungen steht irgendwo schon bei ihm - zuweilen nur um den Preis der Unentschlossenheit, zuweilen sogar um den Preis offener Widersprüche. So heißt es etwa zum Komplex von Wahrheitsanspruch und Friedensbereitschaft von Religionen an einer Stelle, kursiv hervorgehoben: "Inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann, entscheidet über die Fortexistenz der Menschheit." In einem Unterkapitel etwa dreißig Seiten später, das dann auch "Frieden statt Wahrheit" überschrieben ist, liest man dagegen: "Die Frage lautet daher nicht, inwieweit Wahrheit durch Frieden ersetzt werden kann (oder umgekehrt). Sie lautet: Wie wird Priorität von sowohl Wahrheit als auch Frieden möglich?"

Die paradoxe Formel charakterisiert Becks Denkstil gut: Es geht nicht um die Entscheidung für die eine oder für die andere Seite; es geht auch nicht darum, zwei Seiten in ein spannungsvolles Verhältnis zueinander zu setzen. Vielmehr reiht er eine gewagte These an die andere, wobei es ihn wenig kümmert, ob die zweite zur ersten passt. Wo indessen alles Priorität hat, ist am Ende nichts geklärt.

Dennoch sei versucht, ein wenig Ordnung in die Behauptungen des Buchs zu bringen. Was der titelgebende "eigene Gott" ist, versucht Beck eingangs anhand der niederländischen Jüdin Etty Hillesum, die 1943 von den Nazis deportiert und ermordet wurde, zu veranschaulichen. Es handelt sich um einen Gott, der durch keine Institution dogmatisch festgelegt ist, sondern, vom Individuum empfunden, im Dialog mit dem Individuum wirksam wird. Man mag sich an Becks anbiederndem Ton gegenüber der "lieben Etty", wie er sie in einem Pseudo-Brief anspricht, stören - dass es in fortgeschrittenen Weltgegenden modern geworden ist, sich unbekümmert um die Lehrmeinungen von Institutionen ein bequemes, scheinbar individuelles Gott-Gegenüber zu basteln, ist so richtig wie Becks Hinweis, dass dann tatsächlich die eigenen Götter recht gleichförmig ausfallen.

Eine gewisse Plausibilität besitzen auch die religionssoziologischen Überlegungen im zweiten Hauptkapitel. Es stimmt, dass durch Migrations- und Missionsbewegungen Religionen örtlich durchmischt werden und so in ein verschärftes Konkurrenzverhältnis zueinander treten. Es stimmt, dass das Christentum sich enteuropäisiert - als Institution in seinen früheren Kernländern an Bedeutung verliert, in der "Dritten Welt" hingegen an Bedeutung gewinnt. Die Unterscheidung zwischen "Religion" - als systematischer Ansatz - und "religiös" - als mehr oder minder vages, auf ein Übermenschliches gerichtetes Gefühl - ist wie alles, was Beck hier schreibt, zwar nicht neu. Doch kann es ja nie schaden, Richtiges zu wiederholen. Weiß Beck jedoch anfangs noch, dass religiöse Gefühle in Europa den Bedeutungsverfall der Religion nicht aufwiegen, so behauptet er später, der eigene Gott wiederlege auch in Europa herkömmliche Säkularisierungsthesen.

Das ist nicht stimmig, aber notwendig: denn angesichts einer globalen Akzentverschiebung von Religion versucht Beck ausgerechnet, Ansätze für die Friedensfähigkeit von Religion aus europäischen Entwicklungen herzuleiten. Man mag es sympathisch finden, dass er dies als Manko eingesteht - es ändert nichts daran, dass Unverzichtbares fehlt. Vom Buddhismus mit seiner Tradition, auf der einen Seite friedlich mit anderen religiösen Formen zusammenzuleben und seinem aggressiven Reinheitsfanatismus auf der anderen Seite ist sowenig die Rede wie von einer konflikthaften Gegend wie Nigeria, wo missionierendes Christentum und kämpferischer Islam aufeinanderstoßen. Becks bekannter Ansatz, globale Entwicklungen von Religion im Rahmen seiner These einer "zweiten" oder "reflexiven" Moderne zu betrachten, würde da offenkundig sinnlos, wo sich nicht einmal eine erste Moderne durchgesetzt hat. Man mag ja Beck gerne zugestehen: Alles, was heute geschieht, bezieht sich auf moderne Konflikte. Die Akteure nutzen moderne Mittel und zerstören selbst da die Tradition, wo sie deren Erhalt behaupten. Es gibt keinen Raum mehr, der von Globalisierung unberührt wäre. Aber die titelgebende Formulierung vom "eigenen Gott" ist doch zu allgemein. Was hat der deutsche Esoteriker, der auf spirituelle Rosinensuche geht, mit einem westafrikanischen Dorfgeistlichen gemeinsam, der defensiv und aggressiv zugleich dafür kämpft, die Scharia in der modernen Provinzgesetzgebung zu verankern? Und der wieder mit einem buddhistischen Mönch, der im industrialisierten Südkorea, der Tradition entgegen, sein Bergkloster verlässt, um einer übermächtigen christlichen Mission etwas entgegenzusetzen? Und der wieder mit dem charismatischen evangelikalen Pfingstprediger, der in Lateinamerika erfolgreich in innerchristliche Konkurrenz zum milderen, weil lebensweltlich verankerten Katholizismus tritt?

Auf derlei konkrete Feinheiten geht Beck nicht ein. Lieber legt er die Ambivalenz der monotheistischen Weltreligionen dar: dass sie einerseits über die Grenzen von Klasse, Rasse und Nation hinweg die Gläubigen in einer Gemeinschaft der Gleichen einschließen, um andererseits die Ungläubigen abzuwerten. Alle diese Religionen, erfahren wir, haben sowohl das Potential zur kriegerischen Zuspitzung als auch zur friedlichen Vereinigung der Gegensätze.

Das allerdings hätte man sich denken können. Ideologien, die über viele Jahrhunderte und über große geografische Räume hinweg erfolgreich sind, müssen eben imstande sein, sich an unterschiedlichste Lagen anzupassen. Die durchsetzungsstarken Religionen wollen sich von "Sekten" moralisierend nach gut oder böse unterscheiden. Eine bessere Differenzierung wäre, dass Sekten unflexibel auf ihrem Glaubensbestand beharren, während Religionen dadurch groß und mächtig werden, dass sie ihre Leitsätze jeder neuen Lage anzupassen vermögen und doch den Eindruck erwecken können, sie würden an irgendetwas Festes glauben.

Eine überlebensfähige Religion darf nicht unveränderlich sein - sie muss aber den Eindruck erwecken, sie wäre es. Dabei erhebt sie einen Wahrheitsanspruch, der zu harten Konflikten führen kann. Im Großteil seines Buchs beschäftigt sich Beck mit der Frage, wie sich solche Konflikte vermeiden oder doch eingrenzen lassen. Als Zentralbegriff dient ihm dabei der Kosmopolitismus. Dabei unterscheidet er an einer Stelle zwischen dem deskriptiven und dem normativen Gebrauch des Begriffs: Kosmopolitismus kann sowohl die Tatsache bezeichnen, dass verschiedene Religionen auf demselben Raum zusammenleben und sich dabei in ein Verhältnis zueinander setzen müssen als auch die Forderung, dass dies friedlich geschehen solle.

Leider bleibt Beck nicht bei dieser Unterscheidung. Unter der Hand ordnet er Strategien der Abgrenzung einer ersten Moderne zu, die auf starren Identitätskonzepten beruht habe. Er erkennt zwar die Gefahr, dass manche religiöse Gruppen das anders sehen - aber dann haben sie seiner Meinung nach die Forderungen der Gegenwart nicht begriffen. Die Einsicht, dass das Angebot einer fundamentalistischen religiösen Lebensorientierung im Wettbewerb der Religionen auch einen Vorteil bedeuten kann, kommt kurz vor, bleibt aber folgenlos.

Die angemessene Antwort auf die kosmopolitische Situation besteht für Beck weder in einem "antimodernen Fundamentalismus" noch in einer "postmodernen Religiosität", die Glaubensinhalte in völliger Beliebigkeit auflösen würde. Die "zweitmoderne Religiosität", die Beck an ihrer Stelle vorschlägt, respektiert die unterschiedlichen Glaubenskerne der Religionen, ohne daraus die Notwendigkeit zum Kampf herzuleiten. Dabei genügt ihm auch nicht die zähneknirschende Duldung, dass man nun mal mit den Andersgläubigen zusammen leben müsse. Darüber hinaus gehe es darum, die Andersheit der Anderen als Gewinn für das Eigene wahrzunehmen.

Der Vorschlag überzeugt nicht. Wenn man sich nicht wie Hans Küng auf ein breiiges, allen Religionen gemeinsames "Weltethos" zurückziehen möchte - was auch Beck ablehnt -, dann bleibt es dabei, dass wesentliche Glaubensinhalte der unterschiedlichen Religionen einander ausschließen. Aus der Sicht der einen Seite ist dann die Meinung der anderen falsch. Man kann dennoch begründen, weshalb es im allseitigen Interesse ist, sich trotzdem nicht totzuschlagen - Falsches aber kann kein Gewinn sein.

Überzeugender als Becks zweitmoderner Begriffszauber ist deshalb Habermas' Modell eines religionsneutralen Verfassungsstaats, der das Miteinander der verschiedenen Gruppen regelt. Beck schätzt dieses Modell nicht, denn es scheint ihm nicht neutral zu sein. Vielmehr handele es sich um eine veraltete Lösung, die sich noch im Rahmen bisheriger Erwartungen von einer fortschreitenden Säkularisierung bewege.

Das jedoch ist gerade ihr Vorzug - denn die These, Moderne bedeute Säkularisierung, ist keineswegs so leicht abzutun, wie Beck es an verschiedenen Stellen seines Buchs versucht. Um dies zu erkennen, braucht es aber einen Perspektivwechsel. Beck distanziert sich eingangs von der bisherigen Religionssoziologie, die sich vor allem mit Funktionen, nicht aber mit Inhalten der Religion beschäftigt habe. Sein Zugriff auf die Inhalte bleibt aber soziologisch ergebnislos: Am Ende des Buchs steht nicht viel mehr als die Erkenntnis, dass man nicht weiß, was die Zukunft bringt, und dass sich die Akteure doch bitte Becks zweitmodernen Blick zu eigen machen sollten.

Unter historischem und soziologischem Aspekt wäre dagegen die Frage produktiv gewesen, unter welchen Voraussetzungen sich Konflikte verschärft haben oder aber ein Zusammenleben gelungen ist. Aus der Analyse könnten sich Handlungsmöglichkeiten gewinnen lassen, von denen der letztlich nur moralische Appell keine Ahnung haben kann. Es ist das Weltliche, das darüber entscheidet, welche der Möglichkeiten einer Religion wirklich werden - und um dies zu verstehen, bleibt die traditionelle soziologische Frage nach der Funktion der Religion zentral. Becks Neuansatz dagegen bleibt abstrakt und vermag nicht zu überzeugen.


Titelbild

Ulrich Beck: Der eigene Gott. Friedensfähigkeit und Gewaltpotential der Religionen.
Verlag der Weltreligionen, Frankfurt a. M. 2007.
275 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783458710035

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