"Lebensberatung" im Nationalsozialismus

Die ideologischen Zugeständnisse des Ex-Expressionisten Friedrich Markus Huebner

Von Hubert RolandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hubert Roland

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der heutige Büchermarkt der "Lebensberatung" ist ein weites, vielfältiges sowie spannungsgeladenes Feld, wie ein schneller Blick auf die (englischsprachige) Wikipedia-Enzyklopädie, die sich auch dem Thema self-help widmet, belegt. Dort steht in der Tat als einleitende Vorwarnung, dass die Neutralität dieses Beitrags bestritten wird, dass er also von der Wikipedia-Gemeinschaft verbessert werden soll.

Die zur Zeit vorgeschlagene Gattungsdefinition ist aber konsensfähig: self-guided improvement - economically, intellectually or emotionally - most frequently with a substantial psychological or spiritual basis. Neben den zahlreichen Hilfsmitteln zum beruflichen Leben ("Sinn- und gewinnbringende Berufs- und Lebenskonzepte für Unternehmer, Führungskräfte und Selbständige", lautete eine Google-Anzeige, die lange auf der Homepage von literaturkritik.de zu lesen war), findet sich ein breites Angebot von Lektüren und Seminaren, die den Weg zur "Persönlichkeitsintegration" und zur mentalen und psychologischen Ausgeglichenheit zeigen sollen. Von esoterischen Verlagen wird andererseits die antike und orientalische Tradition der wisdom literature immer wieder aktualisiert.

Das Gebiet der Parapsychologie und der "Grenzwissenschaften" findet auch im Reichl Verlag - Der Leuchter (St. Goar) Platz. Ferner interessiert sich das Haus für relevante Werke der deutschen Kulturgeschichte, die in Vergessenheit geraten sind. So das neuverlegte "Reisetagebuch eines Philosophen" des Grafen Hermann Keyserling (1880-1946), einer Figur, die das geistige und intellektuelle Leben der Zwischenkriegszeit geprägt hat. 1920 hatte Keyserling in Darmstadt die "Schule der Weisheit", eine "Lebensschule" und Begegnungsstätte, gegründet. Seine Idee von einer praktischen Philosophie im Sinne der Erziehung des Menschen hat nicht wenige Zeitgenossen in Deutschland und in Europa (im Rahmen von Vortragsreihen) inspiriert. Zur gleichen Textkonstellation gehören die Schriften des in der gleichen Zeit aktiven, aber erheblich weniger erfolgreichen Schriftstellers und Kunsthistorikers Friedrich Markus Huebner (1886-1964), von dem Reichl jetzt vier "Schriften zur Lebensdeutung" als Nachdrucke neu ediert.

Angesichts des Überalterungsprozesses unserer westlichen Gesellschaften kann der Verlag hoffen, dass sich die 1.000 Exemplare von Huebners Spätschrift "Jungbleiben läßt sich lernen. Ratschläge für die zweite Lebenshälfte" (1957) absetzen lassen werden. In neun übersehbaren Kapiteln werden elementare Grundsätze für ein gesundes Verhalten nach der Lebensmitte gegeben und mit praktischen Hinweisen illustriert: Etwa "Die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen kommt niemals zum Stillstand" oder "Um unentwegt jung zu bleiben, muß man dem Älterwerden der zweiten Lebenshälfte willentlich zustimmen". Der gebildete Huebner weiß auch, seine Aussagen mit literarischen Zitaten zu illustrieren - so das einleitende Motto von Angelus Silesius: "Freund, so du etwas bist, / so bleib doch ja nicht stehen: / Man muß aus einem Licht / fort in das andere gehen". Solche literarische Vorbilder werden vermutlich ebenso dazu beitragen, dass dieses Büchlein auf ein gezieltes Publikum stoßen wird.

Schwieriger ist die Situation bei den drei anderen neuedierten Schriften Huebners. Sie wurden zwischen 1933 und 1936 erstveröffentlicht und tragen die weniger aussagekräftigen Titel "Zeichensprache der Seele", "Menschen als Arznei und Gift" und "Niemand ist einsam". Ein Verkaufserfolg ist auch nicht zu wünschen, solange diese Texte als bloße Neudrucke ohne grundlegende Einleitung und kritischen Kommentar verlegt werden. Denn sie wurden damals dem krassen opportunistischen Verhalten ihres Autors entsprechend, gleichgeschaltet. Den historischen und ideologischen Hintergrund dieser Veröffentlichungen hätte der Verlag auf jeden Fall wahrnehmen und berücksichtigen sollen (siehe auch die Studie des Rezensenten zum Thema).

Der Name Huebners ist der spezialisierten Expressionismus-Forschung ein Begriff. Sein Aufsatz von 1920 über den "Expressionismus in Deutschland" gilt als wichtiger Beitrag zum Selbstverständnis der Avantgarde. Der Fall Huebner trug andererseits zur Neuevaluierung des problematischen Verhältnisses des Expressionismus zum Kriegsgeschehen bei. Während die frühere Expressionismus-Forschung die "aktivistische", kriegsgegnerische Haltung der meisten Vertreter des literarischen Expressionismus ab 1916 in den Vordergrund gestellt hatte, wollten Thomas Anz und andere Ende der 1980er-Jahre auf die "utopistische Kriegsbegeisterung", die die gleichen Schriftsteller zu Kriegsanfang (und eigentlich schon vorher wie in der Dichtung Georg Heyms) als radikale Reaktion gegen die "verfaulte", langweilige wilhelminische Gesellschaft empfunden hatten, aufmerksam machen. Genau diesen Standpunkt vertraten Huebners Publikationen aus den ersten Kriegsmonaten (etwa in einem Aufsatz über "Krieg und Expressionismus"), die soweit gingen, das Erlebnis Krieg als Bestandteil des neuen "Zeitgefühls" zu definieren.

Doch danach haben sich die Wogen geglättet. Huebner distanzierte sich von dieser Position und wurde zum Anhänger eines europäisierenden, mit utopischen Vorstellungen einhergehenden Internationalismus, den er u.a. in der Broschüre "Weltpolitik mit geistigen Mitteln" (1920) auslegte. Er ließ sich unmittelbar nach dem Krieg in Den Haag nieder, wo er sich als einer der kompetentesten deutsch-niederländischen Kulturvermittler auszeichnete. Die 1920er-Jahre stellten eine "fortschrittliche" Phase dar, die durch ein offensichtliches Engagement im Dienste der deutsch-französischen Versöhnung geprägt wurde. Im autobiografischen Roman "Das andere Ich "(1927) berichtete Huebner über seine Begegnungen in Paris mit französischen Schriftstellern de bonne volonté wie André Germain und Jules Romains. Noch 1929 leitete er die Anthologie "Die Frau von morgen, wie wir sie wünschen", für die er Beiträge von angesehenen Schriftstellern, u.a. Stefan Zweig, Robert Musil, Max Brod, Otto Flake und Richard Huelsenbeck gewinnen konnte (sie wurde 1990 mit einem Vorwort von Silvia Bovenschen als Insel Taschenbuch neuveröffentlicht.).

Aber eine Schriftgattung lag Huebner besonders am Herzen und hilft der Exegese seiner gesamten Produktion. Im Jahre 1922 hatte er eine lange Reihe von noch kommenden "Schriften zur Lebensdeutung" mit der Aufsatzsammlung "Die Belebung des Nichts", die in der Reihe von Kasimir Edschmid "Tribüne der Kunst und Zeit" veröffentlicht worden war, initiiert. Allmählich pflegte er immer besser den aphoristischen Stil und fand mit "Zugang zur Welt. Magische Deutungen" (1929) eine gewisse Anerkennung, unter anderem in den Kreisen der naturlyrischen Schule um Martin Raschke in der Zeitschrift "Die Kolonne". Von konkreten Problemen ausgehend wie der von der Sprachkritik Fritz Mauthners inspirierten Fragestellung "Können wir die Welt durch Worte erfassen", drückt Huebner eine grundlegende Skepsis gegenüber der rationellen Denkweise der abendländischen Tradition aus und überlegt mögliche Alternativen.

Er plädiert vehement für eine andere Art Verstand, von der analytischen Logik befreit, der "statt trennend und ausschließend, einfühlend und summierend" vorgehen würde. Er richtet sich gegen den "Haupt- und Eckstein des ganzen logischen Denkgebäudes": "Eine Aussage kann nicht weder wahr noch falsch sein". Eine "andere Methode des Begreifens und Erklärens", liest man weiter, soll "die Möglichkeit von Aussagen, die das Weder-Noch von Wahr und Falsch offen lassen". Beispiele eines "intuitiven oder supralogischen Denkens, das nicht mit dem Gesetz von Ursachen und Wirkungen, nicht mit These und Antithese arbeitet" werden auch gegeben: "Die Methode wird nicht nur von den Völkern auf primitiver Kulturstufe, sie wird von der gesamten Philosophie Asiens und sie wird von Frauen aller Himmelsstriche geübt". Das mächtigste Gegenbeispiel der abendländisch-analytischen Logik liefere die "synthetische Logik" der Philosophie Chinas, des Taoismus, der "das Erlebnis der Gegensatzlosigkeit" ermögliche.

Solche "existenzphilosophischen" Schriften hatten eindeutig an einer Literatur der Innerlichkeit teil. Diese stellte eine Kulturreaktion gegen Fortschrittsgläubigkeit und Technikeuphorie dar und entsprach in diesen Krisenjahren einer weitverbreiteten Stimmung in Deutschland und Europa. Im Gegensatz zu Huebners späteren Schriften nach 1933 waren sie in ideologischer Hinsicht noch einwandfrei, so dass man sich wirklich fragt, warum der Reichl Verlag sich nicht eher für eine Neuausgabe von "Zugang zur Welt" entschieden hat. Sie bildeten einen Kontrast zu der Radikalisierung der Ideologien und vertraten eine andere Art Rationalität als die Literatur der Neuen Sachlichkeit. Neben dem schon erwähnten Keyserling gehörten auch zu dieser Konstellation Texte von Karl Jaspers, Martin Heidegger, Sigmund Freud ("Das Unbehagen in der Kultur" entstand auch in diesen Jahren) oder dem spanischen Kulturphilosophen Ortega y Gasset.

Was danach passierte, ist die rasche Gleichschaltung eines "freien Schriftstellers", der sich im Nationalsozialismus immer noch seine literarisch-publizistischen Publikationen als Haupttätigkeit wünschte. Obwohl er weiter in den Niederlanden lebte, war Huebner im deutschsprachigen Bereich tätig. Der Briefwechsel mit seinem damaligen Verleger, dem Darmstädter Gotthard Peschko, der im Hager Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie vorliegt, belegt reichlich, wie beide sich plötzlich im Frühling 1933 auf die Suche nach finanzieller Unterstützung vom Propagandaministerium befanden. Dafür bedurften aber die neuesten populärphilosophischen "Ratgeber für Lebensführung" stilistisch-rhetorischer Anpassungen im Dienste der "nationalen Notwendigkeiten". Schlichter Opportunismus kommt in Frage, denn berufliche Schwierigkeiten mit dem Ullstein-Verlag, für den er Pressekorrespondent gewesen war, hatten Huebner in eine prekäre materielle Situation gestürzt. Auf dem ideologischen Gebiet stellte sich Huebner übrigens als nicht wirklich zuverlässig heraus, wie aus dem lapidaren Urteil des Lektors der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums, Dr. Hellmuth Langenbucher, über das Manuskript "Arbeit als Sinn und Segen", hervorgeht: "Herr Huebner ist kein Nationalsozialist. Er ist durchaus Individualist". Er suche also "Medizin für müde Bürger, aber nicht für arbeitslose Arbeiter". So das Urteil vom 25. September 1933 für Autor und Verleger. Das Buch wird trotzdem erscheinen, unter dem Titel "Schaffen und Ruhen. Adel der Arbeit, Sinn der Erholung", der Huebners Denkweise besser entsprach.

Es vermehrten sich die pragmatischen Schriften dieser Art: "Aufbruch ins Unbekannte" (1933) auch bei Peschko, dann wechselte Huebner den Verlag und veröffentlichte bei Niels Kampmann (Kampen auf Sylt) die heute von Reichl neuverlegten "Zeichensprache der Seele" (1933), "Menschen als Arznei und Gift" (1934) und "Niemand ist einsam" (1936). Zu dieser Auswahl gehören weder "Die erkrankte Seele. Letzte Hintergründe bei geistigen Störungen" (1934), wo das Thema der Geisteskrankheit zum ersten Mal im Vordergrund stand, noch "Das Andere in uns" (1938, Kampmann in Berlin).

Nun lautet die entscheidende Frage, wie solche Schriften der nationalsozialistischen "Weltanschauung" angepasst wurden. Denn schließlich belegt die unbemerkte Neuerscheinung nachträglich die Tatsache, dass die Techniken der Gleichschaltung subtiler und listiger waren, als man sich vorstellt. Das Thema "Arbeit" beziehungsweise die ursprüngliche Kritik einer mechanistischen Auffassung der Arbeit in der industriellen Gesellschaft bot natürlich eine Möglichkeit der ideologischen Aneignung. "Schaffen und Ruhen. Adel der Arbeit, Sinn der Erholung" stellte in dieser Hinsicht eine (schlechte) Kompromisslösung zwischen Huebners Intention und den "deutschen Belangen" dar. Bis in die 1830er-Jahre, postuliert Huebner, stand die Arbeit zum Leben des Menschen in einer harmonischen, beigeordneten Beziehung. Danach geschah mit der intensiven Industrialisierung die sogenannte "Entartung der Arbeit", die ein völlig anderes Verhältnis des Menschen zur Arbeit zur Folge hatte: "Die Arbeit beanspruchte nun den Menschen bis zur Erschöpfung, sie saugte ihn aus, sie ließ am Wochenschluß einen ausgemergelten, schlaf- und betäubungshungrigen Roboter zurück, dem die Angst vor der Unzufriedenheit des Unternehmers, vor Entlassung, vor Lohnkürzung, den Genuß des Sonntags vergällte".

Um sich den Verhältnissen des neuen Deutschlands anzupassen, machte nun Huebner nachdrücklich den Marxismus für die Zertrümmerung der vorindustriellen Umstände verantwortlich. Marx habe "die Arbeit zum wichtigsten, ja zum überhaupt einziggültigen Wertbegriff und Wertmaßstab" erhoben, folglich "wurde diese aus dem Zusammenhang des bürgerlich natürlichen Schaltens und Waltens herausgelöst, wurde ihr eine Sonderstellung erteilt, wurde sie zu einem Zweck an sich eingesetzt".

Der (eigentlich von Huebner gegen ihren Verfasser erhobenen) Popularisierung von Marx' Thesen der Entfremdung des Menschen durch die Arbeit folgen Betrachtungen über die moralische Not des Arbeitslosen. Dann kommt es zum tatsächlichen Thema, das Huebner zu behandeln beabsichtigt: das ausgeglichene Verhältnis des Menschen zur Arbeit und zur Freizeit. Am Ende wird noch die Substanz der "Arbeit als Sinn und Segen" mit deutlichen Tönen gegen die "rein utilitaristische Zweckbedeutung" der "marxistischen Arbeitsmoral" zusammengefasst.

Auch wenn die kulturelle Reichspropaganda Huebners Auseinandersetzung mit dieser Thematik keinen Vorrang gab, wurde das Buch trotzdem im Sinne der nationalsozialistischen "Weltanschauung" von der offiziellen Presse rezensiert. Seine anti-modernistischen Tendenzen wurden in einer Rezension der "Kölnischen Zeitung" vom 18. Februar 1934 als eine Priorität der Regierung erklärt: "Ein jeder Mensch hatte das Gefühl: so kann es nicht bleiben; es ist alles mechanisiert, die Arbeit, die Geselligkeit, der Sport, alle Betätigungen des menschlichen Körpers - sogar die Muße. Die deutsche Regierung hat es erkannt, sie will dem deutschen Menschen den Feierabend wiedergeben, aber sie will gleichzeitig die Muße sinnvoll gestalten. Diese große und dankenswerte Aufgabe findet eine Unterstützung in dem neuesten Büchlein des bekannten Schriftstellers Friedrich Markus Huebner".

Trotz dieses etwas forcierten Bezugs zur Propaganda, wurde es also weiter in Werbeanzeigen für Huebners Schriften unter der Benennung "Bücher des neuen deutschen Menschen" angeführt - so im Anhang von Huebners nächster und heute wieder verfügbarer Publikation "Zeichensprache der Seele". Den Schwerpunkt bildete nun die Kritik der Experimentalpsychologie beziehunsgweise "Charakterkunde", wie sie (angeblich) an den Universitäten gelehrt wurde. Zweifelhaft sei ihre Aufgabe, die auf dem positivistischen Postulat basiere, der Mensch bliebe "in Art und Charakter stetig und wesensgleich". Wenn die Psychologie und die Psychiatrie in der Praxis mit solchen Phänomenen wie Bewusstseinspaltung oder anderen Störungszuständen konfrontiert werden, trachten sie danach, "dem erschütterten Nervenleben vor allem wieder jenen Mittelpunkt zu verleihen, den man das 'Ich' nennt". Diesen Mittelpunkt des inneren Gleichgewichts, an dem der Mensch mit sich selber übereinstimme, nennt Huebner eine "Ichfiktion", deren Vorteil für die Gesellschaft darin liegt, dass sie dem Menschen einen "festen Platz innerhalb seiner sozialen Umwelt" sichere. Mit anderen Worten wirken die Geisteswissenschaften im Sinne von positivistischen Exaktwissenschaften - diese beiden Termini werden von Huebner verwendet - und stellen sich in den Dienst der bürgerlichen Moral. Von ihnen werden die Leistungen des Charakters "immer nur im bürgerlichen Sinne, nach einem Schema des Sozialnützlichen und Sozialschädlichen" bewertet.

Huebners Interesse gilt der "Tiefenpsychologie", der er sich meist mit schwerfälligen Metaphern annähert. Die der sozialen Welt abgekehrte Seite des Menschen sei seine "magische Natur". Als umgekehrtes Spiegelbild der von Aristoteles inspirierten, "typisch europäischen" Charakterkunde gelte die "bei den primitiven Völkern, im ganzen Morgenland" verbreitete Überzeugung, "daß der Mensch durch ein Größeres bestimmt und eingerahmt wird als durch die Kennmale seiner Haar-, Haut- und Augenfarbe". Trotzdem stößt man später im Text auf einen unmissverständlich antisemitischen Abschnitt, der die Unfähigkeit der Juden zur Tiefenpsychologie belegen soll: "Es gibt Rassen, bei denen sich die Schemenhaftigkeit heutigen Menschenumgangs besonders zugespitzt hat. Was den Juden so abstrakt macht, ist dies, daß er weder bei sich noch bei seinem Gegenüber in die Tiefe dringt, in jene Tiefe nämlich, die jenseits bloßer Meinungsfabrikation liegt. Jüdisches Denken ist ein rein rabbulistisches [sic!] Denken, ein Manipulieren mit Worten, ein blitzschnell vorgenommener Ideenumsatz, bei dem aber zuletzt immer nur rationale Vorteile herauskommen. Meinungsaustausch zum Zwecke rationaler Vorteilswahrnehmung (wobei es sich keineswegs bloß um Gewinne geldlicher Art zu handeln braucht) ist die typische Mitteilungsform der Gegenwart, ein kalt-abstrakter Betrieb, bei dem es wichtig ist, rasch, umsichtig, geistesgegenwärtig denken zu können, bei dem aber der rein menschliche Rang der Unterredungspartner nicht in Betrachtung gezogen wird".

Wie hat der Reichl Verlag den gravierenden Fehler machen können, heute ein so ominöses Zitat ohne jegliche historische Kontextualisierung zu reproduzieren? Obwohl der Verfasser der Karikatur des geldgierigen Juden auszuweichen versucht, kann man diesen Beitrag zum herrschenden Antisemitismus nicht verharmlosen. Er argumentiert "rassenpsychologisch", setzt einen "jüdischen" Verstand im Dienste eines utilitaristischen Verhaltens der Verwendbarkeit und Zweckmäßigkeit voraus. Auch dieser anscheinend "gemäßigte" Antisemitismus in einer Buchpublikation, die sich an ein wahrscheinlich für eiskalte antisemitische Propaganda weniger empfängliches Publikum des Bildungsbürgerturms richtete, half dem Durchdringen der nationalsozialistischen Ideologie und erfüllte in dieser Hinsicht eine wichtige Funktion.

In den Jahren 1934-1936 hat dann die Auseinandersetzung mit dem Thema der geistigen Störungen Huebner beschäftigt. Während "Menschen als Arznei und Gift", schon von der Terminologie her ("gutartige" beziehungsweise "bösartige Aura", "irrationale Lebensfülle", "die Magnetkraft der Unendlichkeit") hauptsächlich esoterische Züge trug, strebte "Die erkrankte Seele. Letzte Hintergründe bei geistigen Störungen" quasi medizinische Ansprüche, die das größte Unbehagen hervorrufen, an. Glücklicherweise wurde diese Publikation wie gesagt von Reichl nicht neu verlegt.

Im 1936 erstveröffentlichten Band "Niemand ist einsam" beruhte die immer wieder neu definierte Zivilisationskritik Huebners auf der Polarität zwischen dem modernen Menschen der Großstadt und dem ländlichen Menschen, der gelegentlich noch zusammen mit den "Menschen auf sogenannter primitiver Kulturstufe" betrachtet wird. Wegen seines von der bürgerlichen Gesellschaftsordnung diktierten Individualitätsbewusstseins besitze der Großstadtbewohner "wenig oder nichts von jener sozusagen magnetischen Reichweite, die sich gemeinhin bei den Leuten vom Lande, bei Fischern, Dörflern und Gebirglern findet". Nicht nur ein besseres Verhältnis zu den höheren Kräften des Wandels und der Erneuerung (der Landschaft, den Jahreszeiten, des Wetters) sei erforderlich, sondern auch die Bildung einer Gemeinschaft, die den Menschen vor "Zerstückelung und Wirrwarr" hüte.

Das Motto "Niemand ist einsam" bedeutet, dass die "magisch-spirituale Reichweite" beziehungsweise die "Teilnahme und Teilhabe am Lebensganzen" in der Entdeckung der sogenannten "Anderheit" liege. Der "erleuchtete Mensch" soll tatsächlich auf sein Ichbewusstsein verzichten und seiner eigenen Gedanken enthoben werden. Wiederum hat Huebner diesen Diskurs grundsätzlich nicht im politischen Sinne konzipiert. Solche Augenblicke der Erleuchtung stellt er sich beispielsweise im Rahmen einer unio mystica, einer Erhellung oder Epiphanie vor. Nichts spricht aber gegen eine Anwendung des Leitspruchs der Unterwerfung des Ichs, seiner Aufhebung im Elan der Gemeinschaft im Bereich des Gesellschaftlich-Politischen in solchen Sätzen wie: "Der Mensch, eingestellt auf sein ungeheures Gegenüber, kann sich auf dieses verlassen. Er kann ihm Vertrauen entgegenbringen. Er kann aus seiner Hand getrost in Empfang nehmen alles, woran er hängt, sein Leben und sein Sterben, seine Sehnsucht und seinen Sinn".

Die suggerierte Annäherung in Huebners Terminologie zwischen der Daseinssphäre der Innerlichkeit und dem Lebensbereich des Politischen mag also befremden. Sie wird ja auch nicht explizit in "Niemand ist einsam" hervorgehoben. Im Gegenteil wird betont, dass "vor allem die religiösen, die philosophischen und die künstlerischen Leistungen" Offenbarungscharakter besitzen. Auf die aktuelle Aussagekraft solcher Schriften hat der Reichl Verlag mit dieser Neuausgabe spekuliert, leider unabhängig vom historischen Kontext ihrer ursprünglichen Erscheinung.

Nun sei es die Aufgabe der Kultur- und Literaturhistoriker, die Modalitäten ihrer Instrumentalisierung und Gleichschaltung zu untersuchen, ein wenig erforschter Bereich in der germanistischen Literaturwissenschaft. Für eine tiefer greifende Analyse würde sicherlich das Verlagsprogramm von Peschko und Kampmann weitere Materialien liefern und belegen, dass auch der Bereich der "Menschenkunde", beziehungsweise der "Lebensgestaltung" den Richtlinien der nationalsozialistischen "Weltanschauung" angepasst wurde. Von dieser Kategorie distanzierte sich Huebner danach und widmete sich weiteren Propagandaaufgaben in den Bereichen der Trivialliteratur und, mit größerem Erfolg, der Kunstgeschichtsschreibung der Niederlande, um deren kulturhistorische "germanische" Identität zu dokumentieren.


Titelbild

Friedrich M. Huebner: Jungbleiben lässt sich lernen.
Reichl Verlag, St. Goar 2007.
80 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783876672878

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Titelbild

Friedrich M. Huebner: Menschen als Arznei und Gift.
Reichl Verlag, St. Goar 2007.
55 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783876672717

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Titelbild

Friedrich M. Huebner: Niemand ist einsam.
Reichl Verlag, St. Goar 2007.
55 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783876672724

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Titelbild

Friedrich M. Huebner: Zeichensprache der Seele.
Reichl Verlag, St. Goar 2007.
59 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783876672731

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