Stromstöße des Social Beat

Boris Kerenskis und Sergiu Stefanescus Subkultur-Anthologie "Kaltland Beat"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Social Beat" lautete ein diffuses Schlagwort, das in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts durch den Untergrund geisterte: Eine anti-elitäre Literatur im Geiste von Brinkmann und Bukowski sollte mit bildungsbürgerlichem Phrasentum aufräumen und einer dissidenten Verbreitungs- und Aufführungspraxis von Dichtung zu ihrem Recht verhelfen. Mittlerweile findet in fast jeder Kleinstadt-Disko ein wöchentlicher Poetry Slam statt, bei dem sich neben viel versprechenden Autoren auch viele berufene Hobbylyriker zu Wort melden. Jeder kann auf der kleinen und meist offenen Bühne für 15 Minuten ein Star sein oder, wenn es schief geht, gnadenlos ausgepfiffen werden. Schön ist es anzuschauen, wie manche Akteure verzweifelt versuchen, durch verwegene Stilisierungen zum Untergrund-Poeten zu werden, ihre eigene klein- und gutbürgerliche Herkunft hinter sich zu lassen. Das macht im Prinzip Spaß, auch wenn es mit Literatur oft nicht so viel gemein hat. Die Szene mit all ihren verschiedenen literarischen Ansätzen war natürlich - trotz aller Peinlichkeiten, die so ein vermeintlicher Kahlschlag-Ansatz mit sich bringt - wichtig, und vielleicht wird sie auch noch eine Weile wichtig bleiben. Sie stellte den Anschluss zu früheren Untergrundbewegungen her und verhalf gerade durch ihre Frontstellung zum etablierten Literaturbetrieb diesem unfreiwillig zu ein paar neuen Stromstößen. Die jungen, größtenteils männlichen Schreiber wollten keine poetischen Schönheitswettbewerbe gewinnen oder ihre Texte bei Kaffeekränzchen in der Esoterik-Ecke einer alternativen Buchhandlung vorlesen, sondern sich an die soziale Wirklichkeit halten. Diese schonungslos und spontan durch die Gedichte und Prosastücke schillern zu lassen, war und ist das erklärte Ziel - "naturalismus pur, ungekuenstelter stil - praktisch nur das, was passiert", fordert der Trash-Dichter Enno Stahl.

Einen Überblick über die literarischen Formen, die Geschichte und Teilaspekte sowie einen Blick in die Zukunft des "Social Beat" bietet nun eine Anthologie: "Kaltland Beat - Neue deutsche Szene" heißt der dichtbedruckte Band, der von Boris Kerenski und Sergiu Stefanescu als repräsentativer Querschnitt herausgegeben wurde. In dieser Standortbestimmung finden sich neben zahlreichen Gedichten und Prosatexten von bekannteren und unbekannteren Autoren auch an die Avantgarden angelehnte Manifeste ("Heidelberger Trans-Realismus" von Olaf Bilius), theoretische Aufsätze zur Subkultur (Rolf Schwendter und Rolf Lindner) und zur einzelnen Dichtern (Ralf Bentz über Rolf Dieter Brinkmann). Rekonstruktionen der Geschichte der Szene (Thomas Nöske) fehlen ebenso wenig wie kritische Reflexionen zur Wirkkraft und literarischen Potenz der Schreiber (Marc Degens). Dass mit diesem gewichtigen Sampler nicht nur eine Bestandsaufnahme geleistet wird, sondern auch eine Erklärung der Bewegung mitgeliefert werden soll, deutet sich schon im Vorwort an: Das grundlegende Muster, das die Herausgeber in der Subkultur der 1990-er Jahre erkennen, ist die "Unübersichtlichkeit" - das "Symptom der Kreativität eines einfallslos geglaubten Jahrzehnts". Und vermutlich gilt diese Einschätzung ziemlich weit über die so genannte Untergrund-Literatur hinaus.

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Boris Kerenski / Sergiu Stefanescu (Hg.): Kaltland Beat: Neue deutsche Szene. Vorw. v. Peter O. Chotjewitz.
Ithaka Verlag Stuttgart, Stuttgart 1999.
392 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3933545072

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