Christliche Aufklärung

Richard Schröder gelingt mit "Abschaffung der Religion" eine kenntnisreiche und wohltuend differenzierte Analyse der Problematik des Wissenschaftsfundamentalimus'

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Theologe und Philosoph Richard Schröder zählt zu den großen Intellektuellen unserer Zeit. Das hat er mit Richard Dawkins gemein. Sonst nichts. Das mag nicht weiter verwundern, denn Schröder ist bekennender evangelischer Christ, Dawkins ein bekennender Atheist, der im freidenkerischen Oxford Thesen zur Religion aufstellte, die nicht nur religionskritisch, sondern in Teilen hetzerisch, beleidigend und im großen Ganzen religionsphilosophisch substanzlos sind. Von verschiedenen Seiten ist der Naturwissenschaftler daher mit dem Ideologievorwurf konfrontiert gewesen. Harvard-Kollege Gingerich wirft ihm gar vor, er setze seine Reputation als Evolutionsbiologe dafür ein, seine Meinung zur Religion als eine "wissenschaftliche" zu verbreiten, obwohl sie genauso eine weltanschauliche sei wie die Meinung derer, gegen die er schreibt (siehe Literaturkritik.de 10/2008). Dass das Thema "Religion und Wissenschaft" ein hochbrisantes ist, davon zeugt auch die Diskussion zu meinen "wissenschaftstheoretischen Bemerkungen" im Rahmen des Darwin-Schwerpunkts.

Schröder wendet sich den "heiligen Schriften" des "neuen Atheismus" zu, Dawkins' populären Büchern "Das egoistische Gen" (eine evolutionistische Grundlage der Soziobiologie) und "Der Gotteswahn" (eine Art "Bibel" des "neuen Atheismus"), deren Kernthesen zum verbindlichen "Credo" jedes "neuen Atheisten" gehören, der was auf sich hält: Der Mensch ist ein Tier, Materie ist alles, was existiert, Wissenschaft hat "Allerklärungskompetenz" (Schröder), Religion ist Wahn, Religionsunterricht ist Kindesmissbrauch, Gott - der nur als Hirngespinst existiert - ist an allem Schuld, weil er Menschen zu stumpfsinnigen Bestien macht.

Wer solche Thesen aufstellt, muss begründen, warum dennoch über 90% der Menschen religiös sind, obwohl die WHO den Anteil der psychisch Kranken nur auf 10% schätzt. Dafür hat Dawkins eine naturwissenschaftliche Kulturtheorie entwickelt, die die Existenz so genannter "Meme" behauptet. Analog zu den Genen als Träger unserer körperlichen Eigenschaften sind "Meme" Träger geistiger Eigenschaften (Gedanken, Ideen, Vorstellungen), wie sie sich im sozialen, politischen, religiösen Kontext äußern, also in der menschlichen Kultur. Religiöse Vorstellungen (besonders die der Gewalttätigkeit, die "der" Religion angeblich inhärent ist) sind dabei krankhafte "Meme", die jedoch - den Viren gleich - besonders hartnäckig sind und besonders erfolgreich darin, ihr geistiges Erbgut zu verbreiten. Diese "Mem"-Theorie Dawkins' hält Schröder bereits im Ansatz für "grundverkehrt", denn: "Kultur lässt sich nicht naturwissenschaftlich verstehen". Umgekehrt wird ein Schuh daraus: "Naturwissenschaft ist ein Kulturphänomen".

Die kulturelle Welt ist weit komplizierter als uns die "Mem"-Theorie glauben macht. Das zeigt sich erst, "wenn wir nicht nur hinter Messgeräten Daten sammeln und auswerten oder, wie Dawkins, freihändig Thesen im Duzend billiger in die Welt setzen, sondern auch unsere eigenen, in der Selbstverständlichkeit sich verbergenden Verstehensbedingungen zu erhellen suchen". Schröder verdeutlicht, dass die Gen-Mem-Analogie an verschiedenen Stellen hinkt: "Der Unterschied zwischen der biologischen Vererbung und kulturellen Überlieferungsprozessen ist schlicht der, dass Menschen zu ihrer Kultur ein Verhältnis haben." Und: "Für Gene gilt: ausgestorben ist ausgestorben. Kulturelle Überlieferungen dagegen können, zumal schriftliche, wiederentdeckt und wiederbelebt werden." Und: "Gene können sich weder selbst korrigieren noch modifizieren. Menschen können das."

Warum aber diese verquere Analogie? Die Antwort: In unserer unübersichtlichen Welt wird der Wunsch nach Vereinfachung mächtig. Schröder: "Zwei Anbieter melden sich da zur Stelle: die fundamentalistischen Religionsvereinfacher und die fundamentalistischen Wissenschaftsvereinfacher. Dawkins ist so ein Vereinfacher." Das ist er deswegen, weil er die Wissenschaft nicht eingebettet sieht in den Kontext der Kultur, auf den Schröder hinweist. Mehr noch: Er räumt der Kultur ein Primat ein, indem er feststellt, dass es "eine Art von Wissen gibt, das mindestens insofern höheren Ranges ist als das naturwissenschaftliche Wissen, als es der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden Grenzen setzt".

Was für viele Wissenschaftsphilosophen ein alter Hut ist, provoziert jemanden, der mit seiner Wissenschaft dem Weltverständnis des Menschen die entscheidenden Impulse zu verleihen meint. Dawkins belässt es nicht dabei, ein derart von außen kritisch beobachteter Wissenschaftler zu sein, sondern beansprucht für seine Biologie selbst die Beobachterperspektive. Er vertritt also einen "Biologismus", mit dem dann so eigenartige Dinge wie "die" Religion erklärt werden. Bleibt er im Rahmen seiner "Mem"-Theorie deskriptiv beziehungsweise explikativ, geht seine Forderung nach Beseitigung "der" Religion weit darüber hinaus. Dieser normativen Ausweitung in Dawkins' Ansatz liegt der Übergang von Naturwissenschaft als einem möglichen Beschreibungskonzept des Menschen zum Szientismus, der die Naturwissenschaft als das einzig mögliche Beschreibungskonzept des Menschen sieht, im Rücken. Wo Naturwissenschaft allgemeines Deutungsmuster wird, wird Evolutionsbiologie zum "universalisierten Darwinismus", der sich anmaßt, vor jede Form der menschlichen Daseinsorientierung das Attribut "evolutionär" zu setzen, um dann die Exklusivität dieses Zugangs zu behaupten. Damit wird suggeriert: Im Paradigma der empirischen Forschung lässt sich jede Frage beantworten. Die Lösung aller Weltprobleme wird sich ergeben, ist der Darwinismus erst einmal "auf alles angewendet worden, dieser ,Kran', der das Komplexe aus dem Einfachen erklärt". Doch, so Schröder weiter, zum einen ist eine "Welt, in der es Verantwortung gibt, schlechterdings nicht mit den Methoden der Naturwissenschaft erfassbar", zum anderen "gibt es verschiedene Wissenschaften, die sich nicht zu einer Einheitswissenschaft vereinigen lassen", von der einst Rudolf Carnap & Co. träumten.

Es gibt eben nicht "die" Wissenschaft, so wie es nicht "die" Religion gibt - immer wieder stolpert Dawkins über seine simplifizierenden Singulare. Schröder weist darauf hin, und auch darauf, dass es letztlich auch gar nichts mehr mit Naturwissenschaft zu tun habe, was Dawkins an "naturwissenschaftlichen" Theorien fabriziert: "Mein hoher Respekt vor den Naturwissenschaften gilt der Sorgfalt, mit der sie unter streng definierten Voraussetzungen ihre Forschungen betreiben. Was Dawkins hier vorträgt, verdient solchen Respekt nicht. Das ist unreflektierte materialistische Pseudometaphysik und Pseudotheologie, und zwar eine inkonsistente". Und an anderer Stelle meint Schröder, Dawkins sei "ein Mythenerzähler, aber einer, der eine gepfefferte Mythenkritik verdient hat", ein "Priester der Wissenschaft", dessen anthropo- und technomorphe Metaphorik ihm den Verdacht einträgt, wider besseren Wissen Kompliziertes zu vereinfachen. Schröder nennt das den "modernen Priesterbetrug der Priester der Wissenschaft", die damit ihre monoperspektivische Weltanschauung durchboxen wollen und zugleich "vom Verneinten einfach nicht loskommen" und daher ganz gerne eine pseudoreligiöse Sprache wählen.

Obwohl sich Schröder bei seiner Kritik des wissenschaftlichen Fundamentalismus' im Wesentlichen auf die beiden angeführten Dawkins-Bücher stützt, lassen historische Bezüge erahnen, dass dieses Phänomen nicht ganz neu ist. Der methodologische Hauptfehler jedes Fundamentalismus', sei er wissenschaftlich oder religiös, ist ohnehin zeitlos: Die persönliche Sicht der Dinge zu verabsolutieren, ohne Rücksicht auf die eigenen weltanschaulichen Bedingtheiten und ohne Gespür für die Lebenszusammenhänge, die zu eben dieser Sicht beitragen.

Biografie und Bekenntnis prägen das Denken jedes Menschen, dessen ist Schröder sich bewusst. Er unterscheidet sich damit methodisch von den neuen Atheisten, die ihre Weltanschauung für eine "wissenschaftliche" (und damit überlegene, weil "objektive") halten. Während sie ihren Glauben beziehungsweise Unglauben als irrelevant für ihre Auffassung darstellen, sich durch und durch als "rational" verstehen, Lebensvollzüge insgesamt nur durch die wissenschaftliche Brille betrachten und damit die Grenzen von Wissenschaft und Weltanschauung verschleiern, bekennt sich Schröder freimütig zu den Voraussetzungen seiner Position und klärt damit sein erkenntnisleitendes Interesse: Bedingungen seiner Kritik an Dawkins ist zum einen sein christlicher Glaube, zum anderen seine Erfahrung mit atheistischer Religionskritik in der DDR, in der Schröder als Christ lebte.

Schröder spricht aus diesem Bewusstsein mögliche Folgen des "neuen Atheismus" an, was ihm zuzugestehen ist, schließlich musste er persönlich unten den Folgen des "alten Atheismus" leiden. Das Besondere, ja regelrecht Bewundernswerte ist, dass er dabei seinen scharfen Verstand nicht gegen das grobe Beil dessen eintauscht, der es dem Gegner heimzahlen will. Schröder gibt Übungseinheiten in Sachen Differenzierungsvermögen. Er verdeutlicht dabei, dass Dawkins nicht nur über alle Maße polemisiert und dazu unsachliche Zuspitzungen vornimmt, sondern dass er in vielen Punkt schlicht falsch liegt - auch wenn er dabei auf sachliche Fehler nicht weiter eingeht, da dies den Rahmen der Abhandlung gesprengt hätte - denn: "Dawkins Religionskenntnisse sind weniger als dürftig".

Er entlarvt zwei inhaltliche Grundfehler des "neuen Atheismus", die sich auf dessen Selbstbild und dessen Religionsverständnis beziehen.

1. Im Innenverhältnis diagnostiziert Schröder den Hang des "neuen Atheismus", sich aus der eigenen Tradition herauszunehmen, mit der Folge: "Dawkins hat den schmerzlichen Schritt zu einer kritischen Sicht der Geschichte des Atheismus noch vor sich". Die Korrumpierbarkeit des Atheismus erweist sich in totalitären Regimen, mit denen man als "neuer Atheist" verständlicherweise nichts zu tun haben will (und wohl auch mehrheitlich de facto nichts zu tun hat). Gleichzeitig wird den Religiösen diese Abgrenzung nicht zugebilligt, weil hier zwischen missbräuchlicher Instrumentalisierung von Religion und der Religion selbst nicht mehr unterschieden wird, was den Protestanten mit Blick auf die Kirchengeschichte besonders ärgert, weil dabei die theologische Kritik an bestimmten Formen von Religiosität (Ketzerverfolgung, Kreuzzüge), wie sie die Reformation anstieß, übersehen wird. Der evangelische Christ Schröder kann hier auch nicht mit Kirchenkritiker Luther auftrumpfen. Auch Luther fällt durchs Raster der guten, klugen und seelisch gesunden Menschen, denn: Luther war kein Atheist. Nur deren Zeugnis kann man ja trauen.

Der Trick besteht darin zu sagen, dass diejenigen, die im Namen des Atheismus Gräueltaten begingen, eben keine "echten Atheisten" waren, sondern Pseudoreligiöse (da hat man den Feind wieder vor der Flinte). Ein ähnliches "Vorgehen" der Christen im Blick auf die schon viel länger vergangene Vergangenheit wird natürlich nicht akzeptiert - zu Recht. Nur: Man sollte nicht mit zweierlei Maß messen. Alle sind für die jeweilige Geschichte verantwortlich, in der sie eingewoben sind. Man muss, wenn man überhaupt ein Bekenntnis ablegen will, dieses (ideen)historische Bewusstsein haben. Schröder hat es, Dawkins nicht. Allerdings distanziert sich auch der Protestant Schröder teilweise sehr deutlich von der Geschichte der römischen Kirche, mit der er soviel zu tun haben will wie Dawkins mit dem Sowjetkommunismus. Ganz so einfach ist es dann doch nicht - Kirchengeschichte ist zu drei Vierteln gemeinsame Geschichte von Katholiken und Protestanten.

Schröder wendet sich dann doch der Behauptung Dawkins' zu, das Christentum sei "die blutigste Religion aller Zeiten" und zeigt an der Trias Zwangsmission, Kreuzzüge, Hexenverfolgung, wie die Kirchengeschichte richtig gedeutet wird.

Er schickt Bemerkungen voraus, die der These vom "bösen Christentum" den Zahn ziehen: 1. "Die ersten Christen waren nicht Verfolger, sondern Verfolgte." Sie sind es übrigens auch heute noch. Über 100.000 Christen sterben jährlich für ihren Glauben. 80 Prozent aller Menschen, die aus religiösen Gründen verfolgt werden, sind Christen. Ihr Anteil an den Menschen, die wegen ihrer Religionszugehörigkeit ermordet werden, liegt bei weit über 90 Prozent. 2. "Wer von irgendetwas überzeugt ist, ist nicht deshalb schon intolerant, weil er seine Überzeugung anderen vermitteln will", vielmehr kommt es auf das Wie der Vermittlung an - für Christen bedeutet das: gewaltlos, zwanglos, liebevoll.

Wie kam es dann aber zur Ketzerverfolgung und zur Zwangsmission? Schröder erklärt: durch die weltliche Rolle, die der Kirche im sich auflösenden Römischen Reich zugedacht wurde. Es waren Kaiser und Könige, es waren ihre politischen Überlegungen, es waren staatliche Gesetze und Gerichte, die gegen "Ketzer", "Ungläubige" und "Andersdenkende" in Stellung gebracht wurden, um das Reich zu stabilisieren. Und es waren weltliche Herrscher beziehungsweise Päpste in ihrer Funktion als weltliche Herrscher, die Zwangsmissionen anordneten. Theologen haben dem stets widersprochen. Als Karl der Große die Sachsen vor die Alternative Taufe oder Tod stellte, war sein "Hoftheologe Alkuin entschieden dagegen". Als die "katholischen Könige" mit päpstlichem Mandat Amerika eroberten und die autochthone Bevölkerung von den Conquistadores gewaltsam christianisiert wurde (Mission war die Bedingung für die päpstliche Schenkung von 1493), stieß dies bei den Missionaren "auf massiven Widerspruch, für den vor allem der Dominikaner Las Casas steht". Schröder macht deutlich: Wäre das Christentum im Kern so verdorben, wie Dawkins den unbedarften Leser glauben machen will, hätte es diese Gegenbewegungen gar nicht geben können.

Und wie ist das mit den Kreuzzügen? Auch hier liegt die Ursache im Machtvakuum des Römischen Reiches, das seit dem 5. Jahrhundert dazu führte, dass der Papst als einzige konstante Institution der Okzidents in die weltliche Pflicht gedrängt wurde. In der Ostkirche gab es keine Kreuzzüge. Wie kann das sein, wenn doch beide christlich sind? Die Kreuzzüge selbst wurden als das angesehen, was wir heute "humanitäre Intervention" nennen. Maßgebend dafür war die Lehre vom gerechten Krieg, die Augustinus entwickelt hatte. Zu dem Vorliegen gerechter Kriegsgründe (etwa die Hilfsbedürftigkeit eines überfallenen christlichen Gebietes oder die Abriegelung von heiligen Stätten oder die Bedrohung von Pilgerrouten) muss eine innere Einstellung hinzutreten, die nicht von Grausamkeit und Rachsucht bestimmt ist, sondern von einer grundsätzlichen Bereitschaft zum Frieden, sobald die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist. Was man auch davon halten mag, der bellum iustum-Topos zeigt die eigentliche Einstellung des Christentums zur kriegerischen Gewalt: Krieg ist ein Übel, auf das nur nach Ausschöpfung aller friedlichen Mittel zurückgegriffen werden darf. Schröder grenzt davon den Islam ab: "Die christlichen Skrupel hinsichtlich der Legitimität des Krieges waren Mohammed fremd", was daran liege, dass "diese beiden Arten von ,Monotheismus' [Christentum und Islam, J.B.] durch ein fundamental anderes Verhältnis zur Gewalt charakterisiert werden, was mit ihren Entstehungsbedingungen zu tun hat." Alle über einen Kamm zu scheren, wird also der Sache nicht gerecht und scheitert schon, wenn man sich nur zwei Varianten des von Dawkins so gehassten Monotheismus vornimmt.

Und die Millionen von Frauen, die in Europa im Mittelalter als Hexen verbrannt wurden? Schröder zeigt, dass in dieser Frage vier Fehler stecken: 1. Der Schwerpunkt der Hexenverfolgung lag nicht nur in Europa, sie findet ihre Fortsetzung im heutigen Afrika: "Die intensivste Hexenverfolgung, von der ich weiß, fand 2001 statt", und zwar im "östlichen Kongo". Dort hat sie alles andere als "christliche" Gründe. 2. Die meisten Hexenverbrennungen gab es in Europa nicht im Mittelalter, sondern in der frühen Neuzeit; die letzte Hexe wurde in Deutschland 1775 verbrannt. 3. Die Opfer waren nur in Deutschland mehrheitlich Frauen, sonst war das Verhältnis mindestens ausgeglichen, zum Teil waren die Männer in der Mehrzahl; in Island waren 90%, in Estland 60% der Opfer Männer. 4. Es waren nicht "8 oder 9 Millionen Opfer", wie die "NS-Propaganda" vermutete, sondern "ca. 50.000". In 350 Jahren europäischer Hexenverfolgung (1430-1780). Interessant ist im Übrigen, wie der Hexenwahn in Europa sein Ende fand. Schröder: "Durch die Aufklärung, sagt man. Das stimmt so nicht. Er kam nämlich schon im 17. Jahrhundert weithin zum Erliegen." Es gab nämlich massiven Widerstand. "Die Gegner waren Theologen und Juristen, die sich als Christen verstanden." Ergo: "Dieser Kampf gehört in das Kapitel immanenter, also christlicher Kirchen- und Theologiekritik", die es eigentlich nach Dawkins nicht geben dürfte. Kritische Christen wie Friedrich Spee passen nicht in dessen enge Stirn. In der Fantasie des "neuen Atheismus" ist Christentum qua definitionem "gegenaufklärerisch". Es ist darum gut, dass es kompetente Theologen wie Richard Schröder gibt, die dem eine christliche Aufklärung entgegenstellen, die auf Fakten basiert und verdeutlicht: Die innerkirchliche Kritik war präsent, lange bevor es eine philosophische Kritik des Christentums gab.

2. Im Außenverhältnis entlarvt Schröder das fundamentalistische Schriftverständnis des "neuen Atheismus". Dawkins liest die Bibel, wie es selbst dem verstocktesten "Zeugen Jehovas" peinlich wäre: Entweder alles ist wortwörtlich wahr (ohne Unterscheidung der unterschiedlichen Textgattungen, ohne hermeneutische Einordnung der Erzählungen in einen historischen Kontext, ohne Berücksichtigung der Entwicklung innerhalb der Bibel) oder eben nichts. Das entspricht aber in keiner Weise dem Stand der zeitgenössischen Theologie, sondern mit dieser "Alles-oder-nichts-Hermeneutik" verschafft er sich bloß "ein sehr schlichtes Diskriminierungsinstrument". Nachdem er also "gezeigt" hat, was für einen "Unsinn" Christen wortwörtlich für wahr halten, folgt die Abwertung von Religion durch die Markierung der Grenze von Vernunft und Unvernunft anhand der Religiosität auf dem Fuße, bis hin zur Diskreditierung religiöser Menschen als "dumm", "wahnsinnig" oder "bösartig". Nicht die Vernunft ist Bedingung für den religiösen Glauben, sondern der religiöse Glaube ein Ausdruck von Unvernunft. Daraus folgt dann die "Enteignung der eigenen Erfahrungen" religiöser Menschen im Namen "der Wissenschaft".

Zudem braucht Dawkins künstliche Abstrakta - "der" Atheismus, "die" Wissenschaft und "die" Religion -, die es allesamt so in der realen Welt nicht gibt, wo man etwa 5.000 Religionen finden kann. Er braucht sie, so Schröder, um sein starres Freund-Feind-Schema durchzuhalten. Dawkins mache dabei, so Schröder, "nicht den geringsten Versuch, Überzeugungen anderer, die er für falsch hält, aus ihrer Sicht zu rekonstruieren". Eigentlich, so lernt es der Philosophiestudent im ersten Semester, ist die sorgfältige Rekonstruktion einer These beziehungsweise Meinung die Grundlage für deren Kritik. Von Sorgfalt ist bei Dawkins aber keine Spur. Schließlich braucht er seine eigenartige Lesart der Bibel, um damit seine Verderblichkeitsthese durchzusetzen. Nur wenn die Religionen (und ihre Vertreter) alle und insgesamt so wären, wie Dawkins "die" Religion beschreibt, hätte er Recht.

Dawkins sieht "die" Religion ausschließlich im Gewand einer deistischen Kosmologie, die mit "der" Wissenschaft konkurriert (Schröder nennt ihn daher konsequenterweise einen "A-Deisten"). Hinzu tritt die "der" Religion untergeschobene Behauptung, "dass man ohne Religion kein guter Mensch sein könne". Dem institutionalisierten Christentum lag es aber fern, die erste abgeschlossene Darstellung einer Moraltheorie, die "Nikomachische Ethik" des Aristoteles, etwa schon deshalb abzulehnen, weil Aristoteles kein Christ war. Im Gegenteil stützt sich Thomas von Aquin ausdrücklich auf "den Philosophen", die Kirche wiederum auf Thomas. Das wohl größte Missverständnis betrifft das Gotteskonzept: Für den Naturalisten muss Gott Teil der Welt sein, oder er kann gar nicht sein. Ist er Teil der Welt, muss er sich für uns mit den Mitteln unserer Weltdurchdringung, also sinnlich, erfahren lassen können. Gott wird damit dem Paradigma der Naturwissenschaften unterworfen. Schröder vollendet das Gottesbild Dawkins' in dem Satz: "Die Existenz Gottes ist erst dann bewiesen, wenn er unter Laborbedingungen hergestellt werden kann." Schröder hingegen differenziert. Zwischen Religion und Missbrauch von Religion, zwischen unterschiedlichen Dimensionen von Religiosität, zwischen lateinischer Kirche und Ostkirche, zwischen unterschiedlichen Formen des Atheismus.

Er gesteht den Religionen zu - auch denen mit einer schriftlichen Überlieferung - "lernfähige, zur Selbstkorrektur fähige Gebilde" zu sein, fasst dazu die Prinzipien der kritischen Exegese zusammen, weist auf die wirksame religiöse Religionskritik hin und prognostiziert für die Zukunft nicht weniger, sondern mehr "Religion": "Die großen Religionen werden gegenüber den Atheisten und Agnostikern aufgrund der ungleichen Verteilung der Bevölkerungszuwachsraten vermutlich an Mitgliedschaft wachsen". Die Daten der letzten Jahre scheinen ihm Recht zu geben.

Er gesteht den Nicht-Religiösen zu, dass nicht alle so sind wie ihre medienwirksamen Protagonisten. Er setzt große Hoffnung in den Dialog und die Zusammenarbeit. Schröder weiß, dass die Dialogperspektive des Küng'schen Weltethosprojekts, eine grundsätzliche Verständigungsbereitschaft von Menschen unterschiedlichen Glaubens voraussetzt, hierzulande also zunehmend von religiösen und nicht-religiösen Menschen. Sie kann wohl kaum aus einer Haltung heraus eingenommen werden, die den Anderen verachtet.

Und während Dawkins allzu oft dort, wo es spannend wird, zu Vermutungen neigt, hält Schröder mit Fakten dagegen. Mit historischer Kenntnis greift er den aus "Hochmut und Dünkel" erwachsenen "Absolutheitsanspruch" Dawkins' an, der in einer solchen Form von der Theologie nie erhoben wurde. Diese habe "nämlich nie bestritten, das Nichtchristen zu bewundernswerten Einsichten fähig sind, und deshalb die Werke der Philosophen eifrig studiert, auch wenn diese keine Christen waren." Das oben genannte Beispiel des Aristoteles ist dabei nur ein besonders prominentes.

Bleibt die Frage: Kapriziert sich Schröder auf einen extremen Fundamentalisten (wie Dawkins zweifellos einer ist), um leichtes Spiel zu haben? Macht er dabei den gleichen Fehler wie dieser, und sucht sich einen leichten Gegner aus, dem er Behauptungen in den Mund legt, die die Macht haben, zu entsetzen, die dieser aber so nie aufgestellt hat? Oder die dieser zwar aufgestellt hat, die aber 99% der Atheisten genauso ekeln wie ihn? Kurz: Setzt Schröder, wie Dawkins beim Thema "Religion", dort einen Singular, wo Pluralität blüht, indem er Dawkins' Atheismus für "den" Atheismus hält? Das wäre schlecht, ist aber, wie bereits angedeutet, beileibe nicht so. In einem der fünf Kapitel wendet er sich ausführlich und kenntnisreich der Geschichte und den Formen des Atheismus' zu, um deutlich zu machen, wo die Missverständnisse und Denkfehler der einzelnen Ansätze liegen - aber auch um Türen zu öffnen. Nicht jeder Religionskritiker ist für den Dialog und die Zusammenarbeit verloren, immer schon habe es "lagerübergreifende Koalitionen" gegeben und es gibt sie auch heute. Dazu erinnert er an die Leipziger Montagsdemonstrationen, zu denen sich Christen und Atheisten zusammenfanden, um gewaltlos das Ende der DDR herbeizuführen, was für Dawkins undenkbar zu sein scheint, denn welcher Atheist wollte schon gerne mit "wahnsinnigen Gewalttätern" wie den Betern aus der Nikolaikirche in einem Boot sitzen?

Schröder macht in diesem Kontext darauf aufmerksam, dass Dawkins vielfach "die" Religion nennt, aber nur Religiöse meinen kann, denn ohne Religiöse gibt es keine Religion. Umgekehrt gilt: Man kann "die Religion nicht bekämpfen, ohne leibhaftige Menschen zu treffen". Hier lauert in manchem leichtfertig Dahingeschriebenen ein ziemliches Potential an konkretem Unrecht, das über die Ebene von Beleidigungen weit hinausgeht.

Schröders Analyse streift hochaktuelle Themen, wie etwa die Auseinandersetzung um den Religionsunterricht, den Dawkins für "Kindesmissbrauch" hält. Der Berliner Schröder, der selbst erfuhr, wie Kindern eine Einheitsethik aufgedrückt wurde, hält dem entgegen: "Ideen vom Kindesentzug aus weltanschaulichen Gründen, wie sie Dawkins erwägt, kann ich gar nicht gut vertragen. Die Idee, Kinder im Status eines religiös unbeschriebenen Blattes zu halten, eröffnet ihnen nicht die große Freiheit der Wahl, sondern verhindert sie. Es ist wie bei den Sprachen: Nur wer früh genug eine Muttersprache gelernt hat, kann Fremdsprachen lernen und sogar die Muttersprache wechseln."

Statt der Theodizee, also der Frage nach der Existenz des Bösen angesichts eines guten Gottes (von Georg Büchner als "Fels des Atheismus" bezeichnet), stelle sich dem Atheisten, so Schröder schließlich, die Frage nach der Existenz des Guten angesichts "einer gott-losen Natur", die "dem unbarmherzigen Gesetz der Effektivität folgt". Dawkins Antwort (1. der Atheismus sei lebensbejahend und optimistisch, 2. der reine Altruismus müsse erschaffen werden) hält Schröder 1. für "Kitsch" und 2. für "Krampf". Fazit: "Ich bleibe lieber Christ."

Richard Schröder legt ein argumentativ dichtes und kenntnisreiches Buch gegen jedes Schwarz-Weiß-Denken vor. Es enthält wichtige Einsichten, man möchte fast jeden Satz unterstreichen. An den Seitenrändern wimmelt es nach der Lektüre nur so vor Ausrufungszeichen. Die entlarvende Analyse dürfte vielen religiösen Menschen wohl tun, die oft sprach- und hilflos sind, angesichts der neuen Welle von immer konkreter werdenden Anfeindungen und Gehässigkeiten (die Dawkins zumindest billigend in Kauf nimmt). Besonders die Lebenserfahrungen des Autors überzeugen in ihrer Authentizität. Der inhaltlich beachtliche Text ist zudem so verständlich geschrieben, dass er angenehm zu lesen ist; phasenweise ist er richtig unterhaltsam. Ein sehr gelungenes Buch, das informiert, auf der Basis von Fakten und Erfahrungen Partei ergreift und in seinem Duktus großes Vergnügen macht.


Titelbild

Richard Schröder: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen.
Herder Verlag, Freiburg 2008.
224 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783451298424

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