Passepartout

Nicolas Pethes und Silke Schicktanz geben einen Sammelband über Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekanntlich nimmt der Papst ultrakonservative Bruderschaften inklusive Holocaustleugner im gnädigen Schoß der katholischen Kirche auf, ohne sich viel dabei zu denken. Nicht mit allen ihren Schäfchen verfährt die katholische Kirche so gnädig. So exkommunizierte etwa der brasilianische Erzbischof José Cardoso Sobrinho im März diesen Jahres eine Mutter zusammen mit ihrer neunjährigen Tochter, weil diese abgetrieben hatte, nachdem sie ihr - geständiger - Stiefvater bei einer seiner zahlreichen Vergewaltigungen geschwängert hatte. Ob der Kirchenmann seinen Bannspruch auch auf ihn ausdehnte, ist nicht bekannt, aber eher unwahrscheinlich. Denn wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" meldete, versuchten "die Verantwortlichen der brasilianischen Kirche" die Entscheidung mit den Worten "Abtreiben ist schlimmer als Vergewaltigen" zu rechtfertigen. Ein Statement, das nicht so recht erstaunen kann, haben es Frauen in und mit der (katholischen) Kirche doch schon seit jeher schwerer als Männer. Konnten Kirchenmänner ihre gottesfürchtigen Herzen früher noch an den Scheiterhaufen der Hexenverbrennungen erwärmen, so müssen sie sich inzwischen immerhin darauf beschränken, die Verbreitung des Wissens heutiger Frauen nach besten Kräften einzuschränken. Etwa in dem sie als Vertreter des Stellvertreters Gottes Berufungen habilitierter Feministinnen auf Lehrstühle an katholischen Fakultäten staatlicher Universitäten unterbinden. Das ist ihnen ohne weiteres möglich, indem sie den Frauen die kirchliche Lehrbefugnis vorenthalten, woran einmal mehr zu sehen ist, wie gut hierzulande die Trennung von Staat und Kirche funktioniert.

Zu den Frauen, denen dieses Schicksal noch in den letzten Jahren widerfuhr, zählt hierzulande Regina Ammicht Quinn. Und zwar gleich zweimal. Zuletzt versagte ihr Anfang des Jahrzehnts der nach dem Kirchenrecht zuständige Trierer Bischof Reinhard Marx das für die Lehrbefugnis an theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten notwendige nihil obstat. Dass sie inzwischen dennoch universitäre Forschung und Leere betreibt, konnte die Kirche allerdings nicht verhindern. Heute hat Ammicht Quinn eine Professur am Interfakultären Zentrum für Ethik der Universität Tübingen inne. Zudem lassen sich die Erträge ihrer Forschungstätigkeit in diversen Publikationen nachlesen. So etwa in dem von Nicolas Pethes und Silke Schicktanz unter dem Titel "Sexualität als Experiment" herausgegebenen Sammelband über "Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction", zu dem Ammicht Quinn einen Aufsatz über die "Grenzen des ethischen Diskurses über Sexualität" beigesteuert hat.

Wie die katholischen Zensurmaßnahmen erwarten lassen, zeigt sich Ammicht Quinn kirchenkritisch und moniert die "lange Geschichte einer repressiven religiös fundierten Sexualmoral", die in der Bibel "überraschenderweise" jedoch "keine überzeugende Basis" habe. Auch der theologische Laie ist überrascht, fällt ihm doch sogleich das bedauernswerte Schicksal eines gewissen Onan ein. Doch Ammicht Quinn zufolge hat nicht der liebe Gott mit seinem in der Bibel zu Papier gebrachtem Wort die "christliche Tradition der Urangst vor der Triebstruktur des Menschen" verschuldet, sondern erst die Kirchenväter Origenes, Tertullian und Augustinus, die sicherlich auch tatsächlich das ihre dazu beigetragen haben, die Sexualfeindschaft der Christenheit und seiner religiösen Lehre(n) zu kanonisieren.

"Für das 20. Jahrhundert" - Ammicht Quinn meint offenbar: gegenwärtig - scheine "die Herauslösung der Sexualität" aus dieser zumindest dem Anspruch nach "umfassenden und repressiven Kontrollmacht" der Kirchen eine "moralische Notwendigkeit" zu sein. Allerdings stelle sich die Frage, "ob diese moralische Notwendigkeit zwangsläufig in die Befreiung der Sexualität von Moral überhaupt mündet". Man muss dies zweifellos verneinen. Denn ohne eine letztlich moralische Argumentation ließe sich nicht begründen, warum Vergewaltigungen, sexueller Missbrauch, Lustmorde und ähnliches mehr abzulehnen sind. Genauer gesagt sind es ethische - nicht moralische - Argumente, die hierzu unverzichtbar sind. Doch Ammicht Quinn unterscheidet zwischen Moral und Ethik nicht, sondern setzt beide gar mit "sittlichen" Erfordernissen gleich.

Zu einer Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Moral - beziehungsweise Ethik - und Sexualität gelangt Ammicht Quinn erst nach etlichen Seiten. Und die ist ungeachtet eines argumentativen Weges, auf dem man ihr nicht immer folgen mag, ohne weiteres konsensfähig: "Für den Bereich der Sexualität gelten die Normen und Werte, die das ganze Leben bestimmen - allen voran die Achtung der Würde des Menschen und die Verneinung von Gewalt". Genau so ist es. Eine gesonderte Sexualethik erübrigt sich.

Versuchen die Kirchen Sexualität unter religiösen Vorzeichen zu reglementieren, so steht die Sexualwissenschaft den HerausgeberInnen des Bandes zufolge "in westlichen Gesellschaften im Dienste politischer Regulierungsversuche". Dabei stützten diese sich "oft auf nur vermeintlich" wissenschaftliche Ergebnisse. Tatsächlich handele es sich aber vielmehr um "empirisch ungesicherte Sozialexperimente".

Dem mag so sein, doch stellt sich die Frage, ob und inwiefern das in nicht-westlichen Gesellschaften anders ist. Zwar schweigen Pethes und Schicktanz hierzu, doch ließe sich vermuten, dass die Sexualwissenschaft dort - sofern sie überhaupt betrieben wird - meist der Herrschaftssicherung dient. Zu Regulierungsversuchen dürfte sie jedenfalls nicht nur in 'westlichen Gesellschaften' heerangezogen werden. Es sei an dieser Stelle nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass Heiko Stoff im gleichen Band den Ausdruck "westliche Gesellschaften" vermeidet und lieber von "transatlantischen" spricht.

Folgt man den unter der Überschrift "Sexualität als Schlüssel zum Verständnis von Politik, Ethik und Kultur der modernen Lebenswissenschaften" stehenden "[e]inleitenden Bemerkungen" der HerausgeberInnen, könnte man den Eindruck gewinnen, Sexualität stelle geradezu einen (wissenschaftlichen) Passepartout dar. Und so verkehrt ist das auch gar nicht, bildet sie doch zumindest eine der "zentrale[n] Referenz[en] in biomedizinischer Praxis, sozial- und individualethischen Diskursen und kulturellen Deutungsmustern" und befindet sich somit "im Schnittfeld von science, society und fiction". Gerade die "gleichzeitige Spannung und Engführung zwischen 'science' und 'fiction' erlaubt eine neue Perspektive auf Sexualität als ein sozial und kulturell eingebettetes Wissensfeld".

Entsprechend interdisziplinär ist die Konzeption des vorliegenden Bands. Ausgehend davon, "dass Sexualität kein einheitliches oder zu vereinheitlichendes Konzept ist", fächert er ein breites Themenspektrum auf, das "Natur und Technik der Fortpflanzung" ebenso in den Blick nimmt, wie "körperliche Praktiken und deren moralische Regelung" oder die "Problematik der Identität einer Person oder Gruppe". Gerade weil Sexualität in diesen Bereichen ein Versuchsobjekt des Experimentierens, also "Gegenstand und Ziel verschiedener Transformationen, Erprobungen und Hypothesen" sei, könne sie eine "variable Referenz für Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur der Gegenwart" sein. Die Erörterung von "Sexualität als Experiment" ermögliche es somit, "einen integralen Blick auf wissenschaftshistorische, philosophische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen der Gegenwart zu werfen". Dabei betonen Pethes und Schicktanz, dass die "Manipulierbarkeit sexueller Identität" und die "Technologisierung sexueller Reproduktion" innerhalb der Sexualwissenschaft einen "starken Biologismus" forcieren. Gleichwohl erlaube die Sexualwissenschaft aber auch einen "präzisen Blick" auf "die soziale und politische Dimension des Umgangs mit Geschlechterdifferenzen, Geschlechterhierarchien und der Interpretation reproduktionsbiologischer Vorgänge".

Auf je eigene Weise machen die Beiträge des Buches deutlich, wie die drei "Begriffsvarianten des Experiments - wissenschaftliche Erprobung, (sozial-)philosophische Szenarien und mediale Fiktion - Konstellationen mit den drei semantischen Feldern der Sexualität - Identität, Lust, Reproduktion - ausbilden". Dabei wirken die Aufsätze, anders als bei manch anderem Sammelband, keineswegs bunt zusammengewürfelt. Ganz im Gegenteil: Gliederung und Aufbau sind schlüssig und folgerichtig. Denn die Beiträge sind in drei Gruppen - "Identität und Differenz", "Lust und Moral" sowie "Reproduktion und Gentechnologie" - zusammengefasst, die den drei "Semantiken des Sexuellen" entsprechen, wobei in jeder Konstellation die Relevanz aller drei Experimentkategorien deutlich wird.

Heiko Stoff eröffnet den ersten Teil des Bandes mit einem Text "[z]ur Diskursgeschichte der Sexualität zu Beginn des 21. Jahrhunderts". Eine "Geschichte der Geschlechter und Sexualtäten" bedürfe auch einer "Geschichte der Hormone, Gene und Zellen", erklärt Stoff. Wie er mit Karen Barad vorschlägt, müsste eine solche "Geschichte der Geschlechts-, Sexual- und Hormonkörper" die unterschiedlichen Performanzbegriffe Judith Butlers und Bruno Latours "zusammenbringen, um diskursive Praktiken und materielle Phänomene als Elemente der Historizität der prozessualen Stabilisierung von Dingen und Körpern zu analysieren".

Milton Diamond diskutiert in seinem Beitrag mit dem Titel "Regulierung von Sexualität" vier Beispiele für "komplexe soziale 'Experimente'", bei denen medizinische, soziale und politische Praktiken im Umgang mit Sexualität "ineinander greifen": chirurgische "Geschlechts(neu-)bestimmung[en]", die "Bandbreite von Geschlechterrollen und -wechseln", die "Diskussion um die Zensur von Pornographie" und schließlich "Sexualerziehung, die nur Abstinenz empfiehlt".

Uta Scheer wendet sich einmal mehr dem "Star Trek"-Universum zu, dessen Aliens, zumindest was ihre Geschlechter betrifft, so gar nicht dem Motto der im "Star Trek"-Universum als Logiker bekannten Vulkanier entsprechen ("Infinite Diversity in Infinite Combinations"), sondern kaum über Zweigeschlechtlichkeit im Verbund mit Heterosexualität hinauskommen. Scheer nutzt die populäre Serie, um am Beispiel der (Cy-)Borg-Figur Seven of Nine zu zeigen, "wie in einer populären Fernsehserie die Grenzen zwischen Technologie und Biologie entsprechend der Gender-Dichotomien auf einen weiblich definierten Körper bezogen werden und welche Handlungsoptionen und -restriktionen sich aufgrund dieses Prozesses für diese Figur ergeben". Hierzu interpretiert sie einige Episoden aus "Star Trek Voyager", in denen Seven of Nine im Mittelpunkt steht, unter ihnen die Episode "Retrospect". Hat Scheer diese Episode bereits in früheren Publikationen überzeugend als Positionierung im Sinne der "False Memory Syndrome Foundation" interpretiert, so hat sie ihre Argumentation nun noch weiter ausgefeilt.

Weniger überzeugend als Scheers Interpretation der Episode "Retrospect" fallen ihre Ausführungen zu dem vermeintlichen "Experiment" von Janeway, der Kapitänin des Raumschiffes Voyager, aus, das darauf abziele "die außergewöhnliche Cyborg in einen Menschen, genauer gesagt, eine Frau zu transformieren". Doch nimmt Janeway entgegen Scheers Auffassung kein Experiment an Seven of Nine vor, denn ein solches zielt auf Erkenntnisgewinn beziehungsweise auf die Bestätigung einer Hypothese oder vorgängiger Experimente. Doch darum geht es der sich als mütterliche Freundin Sevens verstehenden Janeway nicht. Vielmehr verfolgt sie ein ethisches Anliegen. Mit der langwierigen Rückverwandlung der Borg-Drohne Seven of Nine in den Menschen Annika Hansen will sie es dieser ermöglichen, sich aus fremdverschuldeter Unmündigkeit zu selbstbestimmter Individualität zu emanzipieren. Auch sticht Scheers vermeintlicher Trumpf nicht, dem zufolge der "Experiment-Charakter" von Janeways Verhalten gegenüber Seven "besonders deutlich" werde, wenn die Kapitänin der Voyager "dem Versuchsobjekt" den "eigenen Willen" abspricht beziehungsweise ihn "für irrelevant erklärt" und sich die "Forscherin" selbst "sämtliche Handlungs- und Definitionsmacht" zuspricht. Wenn dies tatsächlich den "Experiment-Charakter" von Janeways Handeln belegen würde, wären alle autoritären Erziehungsmaßnahmen ebenso wie jedes paternalistische Verhalten Experimente.

Auch werden Scheers Interpretationen immer wieder durch ihre offenkundige Abneigung gegen die Serie getrübt, die sie ein ums andere mal zu polemischen Ausfällen verleitet. Dass sie die "geschlechtliche Codierung" Sevens, schon zu Beginn ihrer Untersuchung, als "subtil und perfide" charakterisiert, mag man ihr zugestehen, auch wenn man ihre Ansicht, zumindest was den zweiten Teil betrifft, nicht teilt. Doch wenn sie am Ende ihres Beitrags ausführt, "[d]as letzte Bild, das die ZuschauerInnen von Seven of Nine - der ehemals unerschrockenen und starken Borg - in der die Serie abschließenden Doppelepisode 'Endgame' zu sehen bekommen", sei das einer "verzweifelt nach Hilfe schreienden Frau". Womit Janeways vermeintliches Experiment "als abgeschlossen und erfolgreich" betrachtet werden müsse, so kann man nur konstatieren, dass Scheer diese Szene frei erfunden hat. In der gesamten Doppelepisode schreit die Figur Seven nicht einmal verzweifelt um Hilfe. Und die letzten Szenen zeigen die Frau mit den anderen führenden Crew-Mitgliedern auf der Kommando-Brücke der Voyager im Glück über die endliche Heimkehr nach einer langjährigen Odyssee im Weltall vereint. Ganz abgesehen davon war die frühere "unerschrockene und starke Borg" Seven of Nine nur Teil des Borg-Kollektivs ohne individuelles Bewusstsein.

Ebenfalls einem visuellen Medium, doch einem ganz anderen Thema wendet sich Pascal Eitler zu. Sein Interesse gilt der "Produktivität der Pornographie" als "Visualisierung und Therapeutisierung der Sexualität nach 1968". Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive und unter Rückgriff auf Erkenntnisse von Judith Butler und Michel Foucault betrachtet er Sexualität nicht etwa als "biologische Notwendigkeit" oder "anthropologische Konstante", sondern als "soziale Konstruktion im historischen Wandel". Denn sie "vollstreckt" Eitler zufolge keineswegs ein "vermeintlich unhintergehbares natürliches Gesetz". Vielmehr "verkörpert" sie eine allerdings "beeindruckend erfolgreiche kulturelle Norm", die auf eine sich beständig ändernde Weise ein "Zentralmoment der Subjektkonstitution" des Menschen bezeichne.

Ohne zu definieren, was er selbst unter Pornografie versteht, befasst er sich mit einem Phänomen der späten 1960er- und der frühen 1970er-Jahre, das zeitgenössisch als solche "bezeichnet und beschrieben, begrüßt oder beklagt" wurde. Denn es ist ihm "weniger um eine theoretische Reflexion als um eine empirische Analyse" zu tun. Dabei teilt er die postfeministische Kritik an Anti-Pornografie-Kampagnen früherer Jahre, ohne allerdings die feministische Kritik an Pornografie zu ignorieren oder sie denunzieren zu wollen. So stellt Eitler denn auch keineswegs in Frage, dass Pornografie gesellschaftliche und kulturelle "Effekte zeitigt". Doch sieht er weniger die Geschlechteridentitäten von diesen Effekten betroffen, sondern vor allem die Körpertechniken. So versucht Eitler "feministische Argumente und postfeministische Gegenargumente zu verknüpfen".

Konkret nimmt sein Beitrag die "Therapeutisierung der Sexualität" am Beispiel dreier seinerzeit "international erfolgreicher hard core Filme" der 1970er-Jahre in den Blick: "Deep Throat" (1972), "The Devil in Miss Jones" (1973) und "Penetration" (1974).

Anders als die in der damaligen Frauenbewegung in der Minderheit befindlichen feministischen Verteidigerinnen und misogyne Kritiker von "Deep Throat", konzentriert sich Eitler nicht auf die tatsächliche oder vermeintliche emanzipatorische Botschaft, von der es seinerzeit hieß, sie bestehe unter anderem darin, dass der Film das Recht der Frau auf einen Orgasmus propagiere, der zudem nicht vaginal, sondern klitoral zu erreichen sei. Es muss hier vielleicht daran erinnert werden, dass die Frage des klitoralen Orgasmus damals heftig umstritten war. Man denke nur an die Erfindung des sogenannten G-Punktes, die Argumente dafür liefern sollte, dass die Penetration der Frau für deren Befriedigung unerlässlich sei. "A woman seeing this film may think it is perfectly healthy, perfectly normal if you have a clitoral orgasm. That is all the woman needs. She is wrong. She is wrong. ... and this film will strengthen her in her irgnorance", ereiferte sich ein Anklagevertreter im Verbotsprozess gegen den Film. Woraufhin sich der Richter erst einmal erkundigen musste, was denn eine Klitoris und ein klitoraler Orgasmus überhaupt seien.

Jenseits dieser schon lange entschiedenen Kontroverse um den klitoralen Orgasmus weist Eitler daraufhin, dass "[d]ie vom Arzt konzipierte Lösung für das [Orgasmus-]Problem der Frau" in "Deep Throat" nur eine "technische" ist. Der Geschlechtsverkehr muss einfach nur 'richtig' (das heißt in der 'Logik' des Films, nach der die weibliche Protagonistin ihre Klitoris in der Kehle hat, als Fellatio) ausgeführt werden. Im Anschluss an Foucault rekonstruiert Eitler diese "technische Lösung" als "Disziplinierung von Sexualität". Nicht nur Männer, auch Frauen sind nunmehr "an ihre 'Lust' gekettet."

Nicht weniger luzide ist der von Ulrike Klöppel verfasste Beitrag, der sich dem in der nature/nurture-Debatte berühmt-berüchtigten John/Joan-Fall zuwendet. Von zwei Mitte der 1960er-Jahren geborenen männlichen Zwillingen war einer bei der Vorhautbeschneidung am Penis verletzt worden. Der Psychologe und Sexologe John Money 'feminisierte' ihn daraufhin durch einen chirurgischen Eingriff und das Kind wurde als Mädchen erzogen. Money, der beweisen wollte, dass genetisch-hormonelle Faktoren für die Psychosexualität bedeutungslos sind, sondern von der Erziehung während der ersten beiden Lebensjahre des Kindes abhängen, stellte den Verlauf des Experimentes über etliche Jahre hinweg als erfolgreich dar. Nachdem schließlich allerdings bekannt wurde, dass es entgegen der Darstellung Moneys gescheitert war und 'Joan' sich tatsächlich stets als Junge empfand, nahmen es VertreterInnen der nature-Position ihrerseits als Beweis für die genetisch-hormonelle Bedingtheit von Psychosexualität. Und noch in jüngster Zeit erscheinen immer wieder "Medienberichte, in denen der Sieg der nature-Position verkündet wird - wobei der John/Joan-Fall auch für dumpfe Pamphlete gegen gender mainstreaming-Programme herhalten muss". Klöppel verweist als Beispiel hierfür unter anderem auf Volker Zastrows berüchtigten FAZ-Artikel "Gender Mainstreaming" aus dem Jahre 2006.

In der wissenschaftlichen Debatte wird zwar differenzierter geurteilt und argumentiert, als Zastrow dies will oder kann, und medizinisch-psychologische Abhandlungen zum John/Joan-Fall beanspruchen Klöppel zufolge immer öfter "ein Interaktionsmodell zu vertreten, welches die nature/nurture-Opposition miteinander versöhne". Allerdings lasse sich zeigen, dass die meisten von ihnen letztlich doch der Biologie das Primat zusprechen.

Nachdem die Autorin die mit dem John/Joan-Fall "verwobene Geschichte des westlichen Behandlungs- und Forschungsprogramms bei Intersexualität/Hermaphroditismus" und die Art und Weise, wie beide Seiten der nature/nurture-Debatte den Fall jeweils für sich instrumentalisieren, nachgezeichnet hat, legt sie überzeugend dar, dass und warum die Geschlechterforschung statt die Kontroverse fortzuführen, lieber das der Debatte zugrunde liegende "normative Zwei-Geschlechter-System" kritisch hinterfragen sollte. Entgegen der Vorstellung noch der jüngsten Forschungen, lasse sich die psychosexuelle Entwicklung zudem weder "in elementare Ursache-Wirkungs-Beziehungen auflösen", noch sei die damit verbundene "Vision der Kontrollierbarkeit" zu teilen. Die "Kontingenz von gender" sei weder frei verfügbar noch für "individuelle Gestaltungsoptionen" offen. Diese Vorstellung entspringe vielmehr einem "reduktionistischen Verständnis sozialer Praktiken", "das die Macht-Wissensverhältnisse in Form von hegemonialen Diskursen sozioökonomischer und rechtlich-administrativer Institutionalisierung etc. ausblendet".

Klöppels Beitrag bildet eines der besonders strahlkräftigen Glanzlichter dieses insgesamt erhellenden Bandes, der zur Lektüre empfohlen sei.


Titelbild

Nicolas Pethes / Silke Schicktanz (Hg.): Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
417 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593386089

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