Nachtragend war Gott nicht

Über eine von Heiligen und Scheinheiligen überwachte Kindheit

Von Christiane HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch heute noch ist das Leben lebensgefährlich, doch wie muss es erst "vor aller Zeit" gewesen sein. So manches Mal fühlt man sich beim Lesen von Johannes hösles Buch an George Orwells "1984" erinnert, wenn ein allgegenwärtiger Überwachungsapparat von oben jede Handlung, ja sogar jeden Gedanken der mehr oder weniger braven Bürger im erzkatholischen Erolzheim registriert. Das Leben steckt voller Fallen, und selbst die geringste Sünde muss gesühnt werden, allerspätestens nach dem Tod. So gesehen kann die kleine Schwester des Ich-Erzählers wirklich von Glück sagen, ganz kurz nach ihrer Geburt gestorben zu sein, "weil sie zum Sündigen gar keine Zeit gehabt hatte".

Mit naiv-wachem Blick, dabei nüchtern und in der schlichten Sprache des Erolzheimer Kindes, enttarnt der Erzähler Verlogenheit und Widersprüche unzähliger unreflektierter Regeln, Rituale und Tabus einer von religiösen Ereignissen determinierten Welt. Man kommt um Mitgefühl nicht umhin, wenn die Angst vor göttlicher Bestrafung den kleinen Buben Tag und Nacht begleitet. Doch ist er nicht nur ängstlich: In zunehmendem Maße findet er seine Schlupflöcher im strengen Reglement, macht seine Geschäfte mit den Heiligen und wird so nebenher langsam erwachsen.

Das alles wird aus einer ironisch-gerührten Distanz geschildert, die uns besonders nahe an das Geschehen heranführt, so nah, als hätten wir ein Stück unserer eigenen Erinnerung wiedergefunden. Und vielleicht ist es wichtig, sich der Nähe dieser Vergangenheit bewusst zu sein. Auch deshalb, weil in eben dieser Zeit, und selbst in diesem streng katholischen Dorf, der Einfluss des aufkommenden Nationalsozialismus spürbar wird und für erste Risse im katholischen Machtgefüge sorgt. Für die Erolzheimer ist "mit der Hitlerei wieder eine Zeit der Christenverfolgung gekommen". Das Kind schlägt sich auf die Seite des Glaubens; die Nazis sind ihm nicht geheuer.

Es gibt noch vieles Anregende in diesem Buch: etwa die subtile Unterscheidung von lässlichen, Haupt- und Todsünden, die erbitterte Konkurrenz mit den "Evangelischen" und das Zusehen beim Schlachten einer Sau. Wir erfahren auch, dass die Grabsteininschrift "R.I.P." "Ruhe in Phrieden" heißt. Gegen kalte Füße hilft es hervorragend, sich ohne Schuhe und Strümpfe "in frisch geschissene Kuhfladen" zu stellen. Im übrigen ist Gott zwar ungeheuer streng, doch auch liebevoll, wie ein Vater eben. Und er straft nicht nur, sondern belohnt auch: So ist allgemein bekannt, dass die Zunge des Märtyrers Johannes Nepomuk "auch noch nach vielen Jahrhunderten ganz unverwest" ist, weil er lieber gestorben ist, als ein Beichtgeheimnis zu verraten.

Aber ist das alles wirklich "vor aller Zeit" geschehen, war es nicht erst gestern? Gewiss, eine solche Kindheit, ein solches Dorf sind heute nicht mehr denkbar, und doch haben sie Menschen hervorgebracht, die sich im 21. Jahrhundert mit wachem Blick zurechtfinden. Ganz so entfernt kann diese Welt also nicht sein.

Titelbild

Johannes Hösle: Vor aller Zeit.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
126 Seiten,
ISBN-10: 3406461026

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