Körpersäfte im Kaninchenbau

Über Anne Enrights Erfolgsroman "Das Familientreffen"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle kinderreichen Familien sind gleich", heißt es einmal bei Anne Enright. "Immer gibt es einen Trinker. Immer jemanden, der als Kind missbraucht wurde". Und häufig, so könnte man hinzufügen, entpuppt sich der Trinker auch als das Missbrauchsopfer.

Eine Überraschung ist es für den Leser von Enrights Erfolgsroman jedenfalls nicht, dass der trinkfreudige Liam, der sein Leben lang nichts auf die Reihe bekam und nun mit Steinen in den Hosentaschen bei Brighton aus dem Meer gefischt wurde, als Kind zu sexuellen Handlungen genötigt wurde. Eine Überraschung ist es allenfalls für seine Schwester Veronica. Die Erzählerin von Enrights Roman sitzt in den schlaflosen Nächten nach dem Tod ihres Lieblingsbruders voller Zorn und Trauer an ihrer Anklageschrift und nähert sich erst über viele Umwege ihren verschütteten Kindheitserinnerungen.

Veronica ist Ende dreißig, Mutter von zwei Töchtern und Ehefrau eines beruflich erfolgreichen Mannes. Vor allem aber ist Veronica eine Hegarty, und zwar "die siebte von oben, die fünfte von unten". Mit zwölf Kindern und sieben Fehlgeburten sind die Hegartys wohl selbst für irische Unterschichtsverhältnisse ein Sonderfall. Regelrecht überschwemmt von Wut- und Schamgefühlen wird Veronica bei ihrer Rückkehr ins Elternhaus, jenem verschachtelten "Kaninchenbau", in dem noch nach Jahrzehnten "unser Geruch" in den verstaubten Kinderzimmern hängt.

Der Vater ist längst tot, die halbdebile Mutter inzwischen so "konturlos", dass sie sich nicht einmal mehr selbst wahrnimmt, wie es heißt. "Sag's bloß nicht Mammy": So lautete schon zwanzig Jahre vorher unter den Hegarty-Kindern die Devise, wann immer etwas passiert war, was die stets schwangere oder im Kindbett liegende Mutter unnötig hätte aufregen können. Noch die erwachsene Veronica vermag kaum ihre Aggressionen zu kontrollieren bei der Erinnerung an all das häusliche Elend, das ihre Eltern verursachten, "die einfach hilflos waren und sich genauso natürlich fortpflanzten, wie sie schissen".

Nun hat sie als "die Umsichtige" der Familie auch noch Liams Bestattung zu regeln, muss erst den Leichnam von England nach Dublin überführen, dann die Trauerfeier mit dem im Wohnzimmer aufgebahrten Bruder überstehen, umgeben von den neugierigen Nachbarn und den aus aller Welt angereisten Geschwistern. "Das Familientreffen", 2007 mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet und inzwischen in 30 Sprachen übersetzt, trifft mit seiner schonungslosen Abrechnung mit Familie und Sexualität offenkundig einen Nerv. Und zwar erstaunlicherweise nicht nur im katholischen Irland, in dem erst seit den 1990er-Jahren öffentlich über Fälle von Kindesmissbrauch von Priestern und in Familien gesprochen wird, sondern auf der ganzen Welt, wie das Medien- und Publikumsinteresse an der irischen Autorin zeigt.

Zum Ereignis wird dieses Buch vor allem durch seine Erzählerin, die von ihren Emotionen nach Liams Selbstmord beinahe überwältigt wird. Von ihrem Schockzustand würde sie ihr "wartungsaufwändiger", zunehmend frustrierter Ehemann natürlich nur allzu gern und selbstverständlich uneigennützig erlösen, doch Veronica will nicht mehr, will nicht mehr funktionieren, will keinen Erwartungen mehr entsprechen, will vor allem keinen Sex mehr. Statt dessen arrangiert sie nachts ihre "hübschen, weißen Knochen" auf dem Papier, findet in einem Schreiben ein Ventil, das auf jegliche Rücksichtnahme verzichtet.

Wohl deshalb wirkt an dem Buch vieles klischeehaft und allzu dick aufgetragen: Vom Rotz bis zum Sperma fließen hier reichlich sämtliche Körpersäfte, und überhaupt sind bei Enright alle Männer verschwitzt und notgeil, als befinde man sich nicht in Dublin, sondern in einem Elfriede-Jelinek-Text. Dass sich Enright, wie sie jüngst in einem Interview bekannte, gerade für einen frisch übersetzten Bestseller aus Deutschland mit dem bizarren Titel "Wetlands" interessiert, wundert einen jedenfalls nicht.

Mit ihrer drastischen, spröden Sprache springt Enrights Erzählerin durch die Zeiten, rekonstruiert im Dialog mit einem imaginären Leser ein sich über mehrere Generationen erstreckendes Familiendrama, vermischt dabei Erinnerung und Fantasie, Wirklichkeit und Möglichkeit, ruft Gespenster zurück ins Leben: die rätselhafte Großmutter Ada Merriman, die einst Kleider für Schauspielerinnen näht, ihren freundlichen Mann Charly, den Ada nur aus Vernunftgründen geheiratet hat, und Lamb Nugent, den Hausfreund, der jeden Freitagnachmittag in Adas Wohnzimmer Tee trinkt und sich angesichts der zum Greifen nahen Liebe seines Lebens kaum noch beherrschen kann. Fürwahr, es ist "eine schwindelerregende Angelegenheit, einen Toten zu beerdigen".


Titelbild

Anne Enright: Das Familientreffen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Hans Christian Oeser.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2008.
344 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043702

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