Publikationsfreiheit und ihre Grenzen

Ein Gespräch über Open Access, Google, Raubdrucke und das Urheberrecht

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz und Albrecht Götz von OlenhusenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Albrecht Götz von Olenhusen

Albrecht Götz von Olenhusen gehört zu den Unterzeichnern des von Roland Reuß initiierten, von vielen Schriftstellern, Wissenschaftlern und Verlagen unterzeichneten Aufrufs "Für Publikationsfreiheit und die Wahrung der Urheberrechte". Götz von Olenhusen ist promovierter Jurist und Rechtsanwalt. Zu den Schwerpunkten der beruflichen Praxis in seiner Kanzlei und seiner Publikationen gehören das Urheber-, Verlags-, Presse- und Medienrecht. 2008 erschien sein Buch "Der Journalist im Arbeits- und Medienrecht". 1973 veröffentlichte er ein "Handbuch für Raubdrucke", das 2002 in erweiterter Auflage als CD-Rom erschien.

Thomas Anz: Der von Ihnen unterzeichnete Aufruf richtet sich sowohl gegen die privatwirtschaftlichen Praktiken von Google bei der massenhaften Digitalisierung von Büchern als auch gegen staatliche oder halbstaatliche Unterstützungen der Open-Access-Bewegung. Was von beidem stört Sie augenblicklich mehr?

Albrecht Götz von Olenhusen: Die privatwirtschaftlichen Praktiken von Google stören mich deswegen mehr, weil die massenweise Digitalisierung von Büchern, jetzt durch Zwangsvergleiche in den USA scheinlegalisiert, die sich auch auf Europa auswirken, dazu führt, dass die Interessen der Autoren und Verlage nicht hinreichend berücksichtigt werden, offenbar nicht von der Legislative im Ausland, aber auch nicht hinreichend von den Gerichten, ferner nicht von der Legislative im Inland. Und sie erfahren schließlich auch keine hinreichende Gegenwehr von den dazu primär berufenen Verwertungsgesellschaften. Dass ein einzelner Autor die in den USA ausgehandelten Zwangsvergleiche akzeptieren oder selbst und auf eigene Kosten und Risiken womöglich in den USA prozessieren soll, ist praktisch wie legaliter ein absolutes Unding.

Das trifft im Übrigen besonders auch die Verlage, die ja ihrerseits in ihren Verlags- und Nutzungsrechten betroffen sind. Hier sitzen also in der Tat Autoren und Verlage im gleichen Boot - und kentern.

Thomas Anz: Sie haben sich (wenn ich mich nicht täusche, sogar mit einiger Sympathie) über viele Jahre hinweg mit Raubdrucken befasst, mit denen in der linken Szene um 1968 das als "bürgerlich" etikettierte Urheberrecht unterlaufen wurde. Eines dieser damaligen Raubdruckunternehmen trat als "Verlag Zerschlagt das bürgerliche Copyright" auf. Ist das Digitalisierungsprojekt von Google eine Fortsetzung dieser Raubdruck-Tradition mit neuen Mitteln und in gigantischem Ausmaß?

Albrecht Götz von Olenhusen: Die damalige "Raubdruckbewegung", in ihren Anfängen Mitte der 1960er-Jahre bis in den 1970er-Jahre hinein, war eine aus meiner Sicht zum Teil legitime Reaktion auf das unübersehbare Defizit an bestimmten Werken der Sozialphilosophie, der Psychoanalyse, des Sozialismus, des Marxismus und diverser anderer Sparten. Dieses Defizit hatte verschiedene Ursachen: Der Nationalsozialismus und der Kalte Krieg hatten dazu geführt, dass die seit Mitte der 1960er-Jahren geführten Diskussionen bestimmte Werke wie die von Wilhelm Reich, Georg Lukács, von Max Horkheimer, Theodor W. Adorno oder Walter Benjamin zumeist gar nicht oder nur mühsam und allenfalls in vergleichsweise teuren Exemplaren zur Verfügung hatten. So motivierten sich bestimmte klandestine Raubdruckunternehmungen wie die, bei denen etwa die "Zeitschrift für Sozialforschung", das "Grünberg-Archiv" oder viele lange Jahre vergriffene oder kaum einmal in Bibliotheken oder nur langwierig durch Fernleihen erhältliche Bücher in kleinen handwerklichen Auflagen und zu billigen Preisen angeboten wurden. Auf diese Weise entstand eine Art "verlorene Bibliothek" (Walter Mehring), und sie war in diesen frühen Jahren selten einmal rein kommerziell motiviert oder jedenfalls nicht primär kommerziell. Sie war auf einen ganz bestimmten, ideologisch determinierten Bereich konzentriert: Kritische Theorie, Psychoanalyse, Sozialismus, Marxismus, kaum einmal Belletristik. Der Nachdruck des Buchmonsters "Zettel's Traum" von Arno Schmitt durch zwei afficionados im Jahre 1970 war also eine absolute Ausnahme - ohnehin eher außerhalb des Zusammenhangs, der dann von den sogenannten Literaturproduzenten und dem Verband des linken Buchhandelns (VLB) gebildet wurde. Google hingegen ist ein rein kommerzielles Unternehmen mit ganz anderem Hintergrund, mit anderen Motivationen und Implikationen.

Allerdings: Als in den Anfängen der damaligen Raubdruckbewegung von mir eine dem Musikbereich vergleichbare Zwangslizenzlösung auch für den Buchbereich, eine bessere Regelung der Informations- und Dokumentationsfreiheit gefordert wurde, stieß das auf taube Ohren. Letztlich war aber schon damals und dann in den späteren Jahren die schleichende Erosion des globalen Urheber- und Verlagsrechtssystems absehbar - und die Anhänger der Meinung, dass das gegenwärtige System schon durch Weiterentwicklung geeignet sei, auch den sogenannten Auswüchsen und Asymmetrien entgegenzusteuern, habe ich angesichts der weltweiten Entwicklungen nie verstanden. Volker Böhme-Neßler hat unlängst in einem hervorragenden rechtssoziologischen Werk zum "unscharfen Recht" die weitreichenden Folgen der Digitalisierung für alle Rechtsgebiete aufgezeigt. Die Raubdruckbewegung - mit ihrer Informations-, Diskussions-, Pfadfinder- sowie zum Teil auch Preisbrecher- Funktion - war ein Indikator für eine partielle Dysfunktion der Systeme. Die Verlage haben darauf mit neuen und besseren Auflage, mit billigen Editionen und einem Verständnis für andere Vertriebsmittel und -wege oft sinnvoll reagiert - übrigens zum Nutzen der Autoren, für die wieder Interesse geweckt wurde, zum Nutzen der Verlage, neuer Vertriebsformen und der Debatten.

Wenn heute, wie unlängst in einer bekannten Zeitschrift zu lesen war, umstandslos das Raubdruckerzeitalter der 1970er-Jahre zum Vergleich mit dem Digitalisierungsprojekt von Google angeführt wird, so werden meiner Ansicht nach historisch die völlig anderen Konstellationen nicht gesehen. So wie der Raubdruck der 1960er- und 1970er-Jahre des vorigen Jahrhunderts zu Unrecht mit dem Nach- und sogenannten Raubdruck des 18. Jahrhunderts verglichen worden ist, der wiederum ganz andere Ursachen und Voraussetzungen hatte.

Thomas Anz: Aber gibt es nicht doch auch Ähnlichkeiten? Im 18. Jahrhundert verhalfen die Nachdrucker den Schriften der Aufklärung zu einer weiteren Verbreitung. Um 1968 verdankte eine junge Generation den Raubdruckern, wie Sie ja sagten, den leichteren Zugang zu bislang kaum zugänglichen und zum Teil öffentlich verdrängten oder verfemten Wissenschaftstraditionen. Im 21. Jahrhundert nun verlocken das weitgehend mit Werbeeinnahmen finanzierte Google-Projekt und die weitgehend staatlich finanzierte Open-Access-Bewegung zur Realisierung einer ungemein anziehenden und den Traditionen der Aufklärung verbundenen Vision: den gesamten Wissensbestand der Menschheit, soweit er bislang in gedruckter Form fixiert ist, allen sehr viel leichter als bisher zugänglich zu machen. Ist das, von einigen rechtlichen Problemen abgesehen, die sich vielleicht noch beseitigen lassen, nicht eine ganz großartige Sache? Und sind die Vorbehalte dagegen, soweit sie nicht auf einem kruden, technikfeindlichen Kulturkonservativismus basieren, nicht vielfach von ähnlich eigennützigen Impulsen geprägt, wie sie an Google kritisiert werden?

Albrecht Götz von Olenhusen: Sie haben gewiss recht, dass die Nachdrucker im 18. Jahrhundert auch den Schriften der Aufklärung zu einer weiteren Verbreitung verhalfen. Wie den Arbeiten dazu etwa von Robert Darnton zu entnehmen ist, veröffentlichten allerdings zum Beispiel die schweizer Nachdrucker - wiewohl persönlich zum Teil Anhänger der Aufklärung - nur das, was sich profitabel vermarkten ließ, verbanden mit Ihren Verlagsprodukten keine aufklärerische Absicht oder Funktion. Sie waren Verleger und Händler, die sich eine Konjunktur, gleich welcher inhaltlicher Art, zunutze machten und von den Defiziten der nationalen und der Differenz der internationalen urheberrechtlichen Rechtslagen profitierten. Wir sind heute vielfach dankbar dafür, bestimmte Werke, auch in Deutschland, in Bibliotheken jedenfalls als Nachdrucke der Originale verfügbar sind. Und die Aufklärer wie etwa Knigge argumentierten ohnehin oft mit dem Argument, dass durch die Nachdrucke Bildung auch den ärmeren Ständen vermittelt werden könne. Die Raubdruckbewegung der 1960er- und beginnenden 1970er-Jahre war in ihren Anfangsjahren jedenfalls in ihrer Auswahl ideologisch verengt, hatte jedoch den primär aufklärerischen Impetus, an bislang wenig zugängliche Wissensschätze anzuknüpfen, sie zugänglich zu machen - bevor dann die überwiegend kommerzielleren Nachdrucker seit etwa Mitte der 1970er-Jahre sich vielfach an Bestsellerlisten orientierten und für ihren - gewiss eingeschränkten - Markt des Untergrunds und der Subkultur vor allem billigere Nachdrucke verbreiteten.

Das Google-Projekt und die Open-Access-Bewegung verfolgen ein im Prinzip begrüßenswertes Projekt, den gesamten Wissensbestand in einer Art modernen alexandrinischen Gesamtbibliothek verfügbar zu machen und Zugangseinschränkungen abzubauen. Die Vorbehalte gründen sich hier darauf, dass ein Bestand an Kultur- und Wissensschätzen nicht aus dem Nichts entstanden ist, sondern auf Leistungen anderer basiert, die - jedenfalls nach unseren rechtlichen und finanziellen Ordnungen - nur insoweit frei nutzbar sein können, als nicht Rechte Dritter tangiert werden. Ich würde also keineswegs eigennützige Impulse kritisieren, die ja durchaus zu nützlichen, gesamtgesellschaftlich begrüßenswerten Ergebnissen führen.

Hingegen scheint mir die Frage der damit verknüpften privaten und zugleich auch gesamtgesellschaftlich wirksamen Kosten nicht geklärt zu sein. Es sind damit eben für schöpferische Leistungsträger - wie ich sie einmal hier nennen möchte, um urheberrechtliche wie andere Leistungen insgesamt mit einzubeziehen - Verluste rechtlicher und vor allem ökonomischer Art verbunden. Solche Projekte können daher nicht isoliert gesehen werden. Wenn Georg Lukács angesichts der auch ihn betreffenden Raubdrucke vom "Kleinwiderspruch im Großkapitalismus" sprach, so haben die neuen Digitalisierungstechniken heute nach Qualität und Quantität viel weiter reichende, globale Auswirkungen. Wie sich die rechtlichen Probleme lösen lassen, ist bislang relativ ungeklärt. Die Auswirkungen finanzieller und anderer Art für Kommunikationsstrukturen, die mehr und mehr ins digitale Netzwerk geraten, sind kaum absehbar und jedenfalls nicht nur für einzelne, sondern für ganze Gruppen und Marktteilnehmer unter Umständen existenzbedrohend schädlich. Sie sehen mit einigem Recht ihren bisherigen Status nachhaltig gefährdet. Die vielleicht mit dem sogenannten 3. Korb geplante Urheberrechtsreform zu den Auswirkungen der Wissensgesellschaft wird vermutlich wieder einmal der Entwicklung hinterherhinken - wenn damit beim Bundesjustizministerium derzeit oder absehbar überhaupt zu rechnen sein sollte.

Thomas Anz: Bleiben wir zunächst bei Google. Sehen Sie Möglichkeiten, die urheberrechtlichen Probleme zu lösen? Bedarf es einer international verbindlichen Urheberrechtsordnung? Gibt es bereits Ansätze dazu? Sollten politische Initiativen darauf abzielen, das Projekt zu stoppen, bis eine solche geschaffen ist?

Albrecht Götz von Olenhusen: Die urheberrechtlichen Probleme lassen sich meines Erachtens lösen, indem Google sich verpflichtet, gegebenenfalls über eine Verwertungsgesellschaft, die angemessenen Honorare für Autoren, Verlage und sonstige Rechteinhaber zu zahlen. Das Problem wird die Angemessenheit der jeweiligen Lizenz sein - eine Zwangslizenz wäre da sinnvoll und eine Regelung, dass die Auskehrung der Honorare über eine neutrale Instanz erfolgt und Autoren wie Verlage beziehungsweise sonstige Nutzer sich von vornherein auf einen Prozentsatz der Verteilung einigen und nicht nachträglich Differenzen ausgetragen werden müssten. Eine international verbindliche Urheberrechtsordnung ist angesichts der Auswirkungen der Digitalisierung dringend notwendig, aber schwer durchsetzbar. Über die WIPO/OMPI könnte eine solche Ordnung mindestens im Ansatz implementiert werden. Wenn freilich das Projekt schon Fakten schafft, die hinterher nurmehr legalisiert werden sollen, ist erfahrungsgemäß ein Nachverhandeln immer schwierig. Politische Initiativen werden in den USA das Projekt schwerlich stoppen, auch wenn der Versuch nicht schaden und vielleicht einen Impuls für eine tragfähige generelle Lösung vermitteln könnte. Doch bedarf es dazu eben eines allgemeinen politischen und kräftigen Willens, den man, derzeit jedenfalls, nirgends so richtig zu erkennen vermag.

Thomas Anz: Widerspräche eine "Zwangslizenz" nicht den Intentionen des Heidelberger Aufrufs? Könnten Sie kurz erläutern, was die Einführung einer solchen Zwangslizenz bedeuten würde?

Albrecht Götz von Olenhusen: Es sind gewiss eine Reihe unterschiedlicher Lösungen denkbar. Die Intentionen des Heidelberger Aufrufs zu unterstützen ist die eine Sache - die andere ist, auf Ihre Frage hin darüber nachzudenken, welche unterschiedlichen Lösungswege denkbar sind. Im UrhG gibt es für die Herstellung von Tonträgern das Modell und die Norm der Zwangslizenz. Damit sollen Monopolstellungen einzelner Firmen vermieden werden. Hat sich der Komponist dafür entschieden, von seiner Komposition mit oder ohne Text eine Tonaufnahme erscheinen zu lassen, dann muss er auch Dritten eine Lizenz erteilen (§ 42a UrhG). Damit wird das exklusive Recht eingeschränkt. Die Zwangslizenz bedeutet: Der Tonträgerhersteller muss sich zuvor das Recht vom Urheber beschaffen, sich mit ihm über eine angemessene Vergütung verständigen oder auf Einräumung der Rechte klagen. Der Urheber unterliegt einem Kontrahierungszwang.

Allerdings: Diese beschränkende Wirkung der Zwangslizenz könnte kollidieren mit der EU-Richtlinie zur Informationsgesellschaft - Art. 5 Abs. 3 o. Diese Bedenken lassen sich aber ausräumen, wenn die Rechte in punkto Zwangslizenz kollektiv durch eine Verwertungsgesellschaft wahrgenommen werden. Das könnte gesetzlich geregelt werden wie beim Kabelweitersenderecht auch in Bezug auf digitale Nutzungen. Die Zwangslizenz unterscheidet sich von der sogennanten gesetzlichen Lizenz: Diese gestattet Nutzungen durch Gesetz. Der Nutzer muss sich dann keine Rechte übertragen lassen. Vielmehr muss er bei der gesetzlichen Lizenz nur die angemessene Vergütung zahlen. Deswegen ist meines Erachtens die Zwangslizenz, die über Verwertungsgesellschaften ausgehandelt und abgerechnet würde, vorzuziehen. Auch diese bedürfte aber einer gesetzlichen Regelung. Eine solche Regelung wäre meines Erachtens ebenfalls EG-konform auszugestalten und würde den EG-Interessen im Gemeinsamen Markt entsprechen können.

Nun bestehen gewiss zwischen dem Musikbereich, dem Printbereich und dem digitalen Bereich Unterschiede. Die Tonträgerregelung geht darauf zurück, dass es verschiedene Interpretationen und Versionen derselben musikalischen Werke geben soll. Dennoch ist die Interessenlage und die Situation nicht unähnlich. Da das Urheberrecht in meinem Verständnis auch ein Kommunikations- und Nutzungsrecht sein und keine bloßen Verbotsrechte zum Inhalt haben sollte, wird über eine Lösung nachzudenken sein, welche eine globale Neuordnung der Rechte, Pflichten, Schranken und Abgeltungslösungen anzielt. Diese muss auch Urheberpersönlichkeitsrechte berücksichtigen. Denn es gibt sicherlich auch Interessen daran, nicht mit einem bestimmten Nutzer etwas zu tun haben zu wollen. Es gibt aber vor allem auch Interessen, nicht über derartige Schrankenregelungen finanzielle Abgeltungen zu erhalten, die nur ein Minimum erreichen oder sozusagen auf dem kleinsten denkbaren Nenner sich einpendeln. Das wäre aber durch Tarifregelungen einer zuständigen Verwertungsgesellschaft zu steuern. Wie eine Regelung aussehen könnte - das ist Aufgabe einer Gesetzgebung, die nicht von der normativen Kraft des Faktischen oder von der Stärke des jeweiligen Lobbyismus determiniert ist, auch keine Gesetzgebung, die, wie das neuerdings geschieht, befristete Regelungen einführt, "um mal zu sehen, was passiert". Die Temporalisierung von Normsetzung und die sich selbst bestätigende Evaluierung der Normen durch den Gesetzgeber selbst - ein neuerdings ganz beliebtes Modell und Verfahren - kann meiner Ansicht nach nicht Aufgabe eines vorausschauenden Normgebers sein. Dass die Urheberrechtsreformen bislang nicht hinreichend auf Herausforderungen der Digitalisierung reagiert haben, dürfte unbestritten sein. Mir scheint, dass die Kapitulation vor den ökonomischen Interessenten einerseits, vor den Fakten schaffenden Open-Access-Bewegungen andererseits nicht gerade ein begrüßenswertes Rezept sein kann. Ich bin weit davon entfernt, hier Allheilmittel zu erfinden oder zu präparieren. Dennoch muss es möglich sein, nach einer genauen ökonomischen Analyse der Lage und der Wirkungen irgendwelchen Lösungen wenigstens näherzutreten, anstatt die Dinge den Entwicklungen der Technik und Ökonomie zu überlassen.

Thomas Anz: Hinkte die Urhebergesetzgebung nicht immer neuen Entwicklungen der Medientechnik hinterher? Zwischen der Etablierung des Buchdrucks und der Schaffung eines einigermaßen einheitlichen und überterritorialen Verlags- und Urheberrechts in Deutschland liegen mehr als 300 Jahre. Der gesellschaftliche Bedarf nach einem solchen Recht wurde forciert durch die Praxis des Nachdrucks auf Kosten der Originalverleger und der Autoren im 18. Jahrhundert. Kann man heute Google und der von Forschungsorganisationen gestützten Open-Access-Bewegung das vielleicht zweifelhafte Verdienst bescheinigen, auf Lücken und Anachronismen der Gesetzgebung angesichts rasant veränderter Kommunikationstechnologien und -bedürfnisse aufmerksam zu machen und die gesetzgebenden Instanzen dazu zu bewegen, auf sie rascher und flexibler zu reagieren? Wie lange wird das Ihrer Einschätzung nach dauern? Oder ist die Gesetzgebung bei dieser Veränderungsdynamik auf längere Zeit hin zwangsläufig dazu verurteilt, erst einmal "zu sehen, was passiert"?

Albrecht Götz von Olenhusen: Gewiss hinkte die Gesetzgebung, historisch und über längere Zeiträume hinweg betrachtet, oftmals der Medientechnik, den sich entwickelnden Verbreitungsmöglichkeiten und -wegen hinterher. Gleichwohl hat es zu unterschiedlichen Zeiten und Räumen auch vergleichsweise moderne Regelungen, zuweilen mit vorausschauender Kraft und Fantasie, gegeben. Ein Wort des Rechtslehrers Kohler aus dem 19. Jahrhundert hat einmal sinngemäß hervorgehoben, dass das Recht dort entsteht, wo das größte Interesse sich bekundet. Er bezog sich dabei auf Überlegungen zur Genese von Recht, auch im Urheberrecht. Der Nachdruck hat im 18. Jahrhundert zweifellos einen entscheidenden Beitrag geleistet zur Ablösung des Privilegiensystems, zur schrittweisen Entwicklung eines modernen Urheberrechts. Er war also ein wesentliches Moment bei dem, was man heute auch "The Construction of Copyright" nennt.

Google nutzt eine gegenwärtige juristische Situation zum eigenen Nutzen mit durchaus auch gesellschaftlichen Nutzeffekten aus. Das ist legal, ob es in jeder Hinsicht legitim ist, bedarf der Diskussion. Ich habe da Zweifel auch hier schon formuliert. Gleichwohl verkenne ich nicht, dass derartige Entwicklungen auch ihre historischen Parallelen haben. Viele bedeutende Verlage sind etwa im 19. Jahrhundert dadurch groß geworden, dass sie Lücken des internationalen Rechtssystems für sich nutzten - ich denke an bedeutende Verlage, die etwa in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die nordeuropäische das heißt skandinavische Literatur in Übersetzungen erfolgreich verbreiteten, oft ohne die Autoren oder die Originalverleger zu vergüten. Denn diese Länder waren damals noch nicht Mitglied der Internationalen Urheberrechtsverträge.

Die Open-Access-Bewegung reagiert auch mit Recht auf Zugangsbeschränkungen, und so entsteht, vielleicht, ein begrüßenswerter Druck auf Instanzen, sich überholten Strukturen organisatorisch und normativ anzunehmen. Die Länge solcher Prozesse ist kaum abzuschätzen. Dass die Gesetzgebung angesichts einer Veränderungsdynamik dieser Qualität und Quantität erst einmal die Veränderungen zur Kenntnis nehmen muss, versteht sich fast wie von selbst. Es ist aber schon ein Problem, Normen zu erlassen, ohne deren Folgen abzuschätzen. Mit bloß befristeten Versuchsanordnungen ist es da meiner Ansicht nach nicht getan.

Wir haben bestimmte Trends: Erweiterungen von Schutzbereichen, niedrigere Untergrenzen bei den Schutzbereichen, zahlreiche neue Werkarten. Diese Expansion etwa der digitalen Rechtszuordnungen ist im gegenwärtigern System nicht hinreichend ausbalanciert - das heißt, das geht zu Lasten von Räumen, die von den einen als Freiräume, von anderen als monopolisierbare Geländegewinne definiert werden sollen. Neu zu diskutieren ist also auch, was unter "public domain" künftig zu verstehen sein wird. In diesem Feld von Rechtspositionen, ökonomischen, sozialen und gesellschaftlichen Interessen werden die bisherigen traditionellen Modelle des Interessenausgleichs, die Zuordnungen von Rechten und Leistungen und die Zugangs- und Schrankenregelungen nicht mehr funktional. Hier liegen Probleme, die allgemein gesprochen das Verhältnis von individueller Zuordnung und sozialer Bindung betreffen. Sie müssen sich auswirken auf Schutzumfang, Umfang von Nutzungsrechten, Schutzfristen, auf Zugangsregeln und Vergütungsmechanismen.

Dass der Gesetzgeber sich aus Schwäche oder aus anderen vorwiegend politischen Gründen darauf beschränkt, Abstinenz zu üben oder sich auf die Rolle eines mehr oder weniger beteiligten Beobachters zu begrenzen, würde auf eine Kapitulation vor den eigentlichen Aufgaben hinauslaufen. Sicher ist, dass sich Lösungen nur im internationalen Maßstab erreichen lassen. Denn die unterschiedlichen Systeme - des angloamerikanischen Copyrightsystems und des europäischen Urheberschutzsystems - werden sich angesichts der globalen technologischen Auswirkungen ohnehin weiter annähern müssen. Und der Prozess der Rechtsvereinheitlichung innerhalb der EG wird sich dadurch auch nur noch schneller zu vollziehen haben. Tabula-rasa-Lösungen, die einer Seite nur weitere Rechtspositionen zuweist und die andere Seite auf den Vertragsweg verweist, sind ebenso wenig geeignet wie Lösungen, die freien kostenlosen Zugang zu allem und jedem verlangen. Das traditionelle Regel-Ausnahme-Konzept, das Modell der vielfältigen Ausfächerungen von Schutzgütern und Rechten mit einigen nicht funktionalen Schrankenregelungen zu versehen, wird sich angesichts der völlig veränderten technologischen Entwicklungen nicht mehr halten lassen. Wer sich als ein wichtiges Rezept darauf kapriziert, in der Verlängerung von Schutzfristen etwa im sogenannten Leistungsschutz den Stein der Weisen zu erblicken, der entspricht vielleicht einem von der Musikindustrie und anderen Medien verfolgten Trend.

Dabei wird aber verkannt, dass diese Ausdehnungen mit fragwürdigen und wohl eher kurzfristigen Terraingewinnen verbunden sind. Bestimmte Branchen werden ohnehin angesichts der sich rasant verändernden Kommunikationsstrukturen auf ganz andere Geschäftsmodelle, welche die Digitalisierung erzwingt, umsteigen, andere Modelle erst noch entwickeln müssen. Dem Bedeutungszuwachs des immateriellen Eigentums in der Informationsgesellschaft verlangt nach Regelungsalternativen und neuen Ordnungen zwischen faktischen und normativen Rechtszuwächsen und notwendigen Freiräumen wie auch einer ganz neuen Justierung und Ausbalancierung. Eine solche hat im Übrigen auch den Umstand mit zu bedenken, dass heute etwa 85 bis 90 Prozent der Produktion sogenannten geistigen Eigentums im Rahmen von Dienst- und Arbeitsverhältnissen erfolgen und auch hier die geltenden normativen Ordnungen zunehmend dysfunktional geworden sind.

Thomas Anz: Da sprechen Sie am Ende ein weiteres brisantes Thema an. Es betrifft die unter anderem von der Allianz der Forschungsorganisationen (vgl. deren Stellungnahme zu dem Heidelberger Aufruf) und auch von einigen Universitäten zugunsten von Open Access in Frage gestellte Freiheit von Hochschullehrern, die Ergebnisse ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu publizieren, wie und wo sie wollen. Ich möchte Ihnen in diesem Rahmen nicht mehr zumuten, auch dazu noch Auskünfte zu geben, zumal die Probleme auch in meinem parallel geführten Gespräch mit Gerhard Lauer zur Sprache kommen. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bereitschaft, sich auf diesen Dialog einzulassen und ihn auch noch mit unseren Lesern fortzuführen.

Anmerkung der Redaktion: Thomas Anz und Albrecht Götz von Olenhusen laden dazu ein, den Dialog fortzusetzen, und beteiligen sich daran weiter, wenn Sie uns Einwände, Fragen oder zusätzliche Gesichtspunkte in Form eines Leserbriefs schicken. Klicken Sie dazu rechts unten auf dieser Seite auf "Leserbrief schreiben".