Balancieren zwischen Magie und Moderne

Voller Sprachkraft und nüchterner Poesie erzählt Louise Erdrich in "Solange Du lebst" eine vielschichtige, tragische Familienchronik um Schuld und Sühne

Von Luitgard KochRSS-Newsfeed neuer Artikel von Luitgard Koch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Ich denke mir so etwas nicht aus", verrät die amerikanische Schriftstellerin Louise Erdrich, "diese Geschichten gibt es irgendwo, ich höre nur zu". Schon immer erzählte die mehrfach preisgekrönte Autorin Indianergeschichten der etwas anderen Machart. Als Tochter eines deutschstämmigen Vaters und einer Halbindianerin, gilt die 54jährige mittlerweile als Aushängeschild der sogenannten modernen "Indianerliteratur". Doch diesmal gelingt der im Reservat aufgewachsenen Anthropologin, deren Großvater mütterlicherseits ein Indianer-Häuptling des Chippewa-Stammes war, ein sprachgewaltiges, ambitioniertes Meisterwerk.

In ihrem neuen Roman "Solange du lebst" erzählt die Mutter von vier Töchtern in einer virtuosen Mischung aus Sprachkraft und Poesie, Skepsis und Nüchternheit von einer rassistischen Bluttat und ihren traumatischen Folgen. Dieses brutale Verbrechen beherrscht das Leben einer Kleinstadt in North Dakota über Generationen hinweg auf düstere und geheimnisvolle Weise. Erdrichs facettenreiches Panorama mag auf den ersten Blick etwas langatmig wirken. Vor allem, weil sie das komplexe Geschehen chronologisch und in epischer Breite entwickelt. Trotzdem fesseln ihre teilweise subtil grotesken Episoden. Denn tatsächlich erinnert ihre Erzählweise mehr und mehr an den lateinamerikanischen magischen Realismus eines Gabriel García Márquez.

Die Geschichte beginnt 1911. Nachdem eine fünfköpfige weiße Farmerfamilie am Rande des Indianerreservats ermordet aufgefunden wird, greifen die weißen Nachbarn zur Selbstjustiz: Ohne jeden Beweis erklären sie eine Gruppe von Indianern, darunter einen 13-jährigen Jungen, für schuldig und hängen sie auf. Der wirkliche Mörder wird nie gefasst. Aber Täter und Opfer bleiben durch ihre Kinder und Kindeskinder tragisch miteinander verbunden. "Ich verfolgte die blutige Spur der Morde quer durch die Familien meiner Mitschüler und Freunde", verrät Evelina, die Enkelin des Indianers Mooshum, "bis ich ein kompliziertes Geflecht aus Linien und Doppelkreisen aufzeichnen konnte". Sie ist eine der vier Hauptfiguren des Romans, die aus ihrer je eigenen Perspektive die verzweigte Geschichte schildern. Die Autorin spart dabei die Trostlosigkeit in den Reservaten nicht aus. Doch sie verzichtet konsequent auf jede Larmoyanz. Evelinas Leben erinnert streckenweise an ihre eigene Biografie.

Einprägsam durchkomponiert beschreibt Erdrich das dunkle Schicksal der Nachfahren, deren Lebenslinien sich auf unterschiedlichste Weise verstricken. Dabei erwachen immer wieder die Geister der Vergangenheit. So verliebt sich etwa Mooshum, der einzige Überlebende der gelynchten Indianergruppe, in Junesse, eine Nachfahrin des selbsternannten Lynchmobs.

Wie auch in ihren anderen einzigartigen Werken - neben Kinderbüchern und Lyrikbänden sind elf Romane von ihr erschienen - ergibt sich die Grundspannung ihres Erzählreigens aus dem Gegen- und Ineinander von Amerikanisierung und indianischem Denken. Dabei spielt die Autorin souverän mit verschiedenen Genres: angefangen vom Liebesroman, über den Abenteuerroman bis hin zum Episodenroman - und verknüpft sie zu einem bewegenden Porträt der Generationen, geprägt von Trauma, Leidenschaft, Schuld und Sühne. Immer wieder kehrt sie in ihren Büchern, ob im Bestseller "Bingo Palast" oder in "Die Antilopenfrau", in die Welt ihrer Vorfahren zurück. Besonders die feine Balance zwischen indianischer Tradition und literarischer Moderne macht den Reiz der Lektüre aus. Mit ihrem neuen Roman beweist Louise Erdrich nicht zuletzt eindrucksvoll, dass sie für ihre ganz bemerkenswerte, herausragende Rolle in der amerikanischen Gegenwartsliteratur, ebenso wie 1993 etwa Toni Morrison, schlicht den Literatur-Nobelpreis verdient.


Titelbild

Louise Erdrich: Solange du lebst. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Chris Hirte.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
393 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458174264

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