Der Untergang des Abendlandes?

In "Die Stunde der Stümper" attackiert Andrew Keen das Internet, trifft es aber nicht

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt eine alte und sehr lehrreiche journalistische Formel, mit der der Unterschied zwischen einer wirksamen öffentlichen Kritik und einer wirkungslosen ziemlich genau beschrieben werden kann: Wer sich (stilistisch) aufregt, bleibt wirkungslos, wer im Ton zurückhaltend agiert, lässt die Sache sprechen, den Skandal ebenso wie die neutrale Information. Publizisten tun also gut daran, ihre persönliche Empörung zurückzustellen, denn Polemiken mobilisieren vielleicht Polemiker, aber damit hat sichs dann auch schon. Mit anderen Worten, all denjenigen, die unter dem Internet leiden, wird Andrew Keens Polemik aus dem Herzen gesprochen haben. Eine sachliche, einigermaßen reflektierte Kritik am Netz bringt er in seinem Buch jedoch nicht zustande. Und gut 200 Seiten lang auf die Datenautobahn und ihre verderblichen Folgen zu schimpfen, ist nicht einmal eine kurzweilige Lektüre.

Keens Kritik am Netz lässt sich darauf konzentrieren, dass es die Sitten und die Jugend verderbe, eine Menge Arbeitsplätze und Einnahmen koste, professionelle Arbeit durch den Dilettantismus von Amateuren ersetze, die Wahrheit durch die Meinung und die Lüge in Zweifel ziehe, Karrieren, den guten Leumund einer Menge Leute und am Ende eine Welt zerstöre, wie wir sie kennen und lieben gelernt hätten. Das Internet liefere seine Nutzer an einige wenige mächtige und unkontrollierte Datensammler und -verwerter oder an eine ganze Menge Betrüger aus. Es enteigne Menschen und vernichte Werte, die unersetzbar seien.

Keinesfalls aber sei es, so Keen, ein Medium, das Demokratie, Meinungsvielfalt oder Selbstbestimmung befördere, in dem aber auch unterdrückte Informationen verbreitet werden könnten und in dem jeder Nutzer oder Konsument genau das finde, was er suche oder brauche. Das Netz sei nicht das umfassende Archiv des Weltwissens, sondern der Hort von Desinformation, Manipulation, Beliebigkeit und Diebstahl. Die Wiki-Bewegung zerstöre die ökonomische Basis des sach- und fachkundigen Spezialisten, die Internetshops zerstörten gewachsene Geschäftskulturen, der freie Austausch von Daten rühre an die Wirtschaftlichkeit von Film- und Plattenindustrie. Der freie Zugang zu den Publikationsforen und -formen im Netz fördere nicht die kritische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, sondern unterbinde jede rationale Diskussion und greife die Basis jeder sachlichen Information an.

Keen singt stattdessen das Hohelied des fachlich geschulten und erfahrenen Journalisten, des "Türhüters" der Wahrheit und korrekten Nachricht. Er weint den Platten- und Buchläden alter Provenienz nach, in denen das Stöbern noch Spaß gemacht, in denen begeistertes Personal sachkundig beraten habe (wo waren diese Leute, als ich da war?) und in dem man echte Entdeckungen habe machen können. Er lässt mit Genuss Revue passieren, wie viele Fachleute und - immer wieder gern genommen - Professoren, ja Nobelpreisträger, die "Encyclopaedia Britannica" beschäftige, wie viel Sachverstand hinter einer echten Zeitung auf Papier stecke (in jedem Fall immer ein kluger Kopf?). Er beklagt die wirtschaftlichen Verluste der historischen Industrien und die fehlenden beruflichen Alternativen, die die neue Netzkultur bereit halte. Ein Blog, der seinen Mann oder seine Frau ernährt? Im Leben nicht.

Die Kultur des "Umsonst-und-Runterladens", des kostenfreien und billigen Berichterstatters, Musik- und Filmproduzenten zerstöre die sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen einer sich selbst gewissen, wirtschaftlich, politisch und kulturell starken Gesellschaft.

Der Untergang des Abendlandes? In jedem Fall Untergang. Und das auch nicht zum ersten Mal.

Dass das Netz seine Schattenseiten hat, weiß jeder, der es nutzt. Spielsucht, Kinderpornografie, politisches Abenteurertum, Lug und Betrug, Blenderei und falsche Informationen, Blogs, die zu Hass und Terror aufrufen - alles, was schlecht ist, ist im Netz zu bekommen. Inhalte verantwortlich, professionell und gut recherchiert ins Netz zu stellen - dafür stehen nur selten die Mittel bereit. Soweit es sich um Waren handelt, ist das alles auch noch zu Preisen verfügbar, mit denen kein Ladenlokal mithalten kann. Und trotzdem, das Netz ist unverzichtbar, und die schöne, heile Welt, die Keen immer wieder dagegen ins Feld führt, hat so nie existiert.

Journalisten sind keineswegs die Hüter der Wahrheit gegen die Lüge oder Fiktion. Mag sein, dass sie besser ausgebildet sind als ihre Amateurkollegen und dass sie dafür (oft genug schlecht) bezahlt werden, was sie tun; das macht ihre Berichte aber nicht notwendig sachlicher, besser und zutreffender. Die Geschichte der politischen Presse hätte Keen eines Besseren belehren können. Auch die Seriosität von Informationsmitteln, die von Fachleuten zusammengestellt werden, ist nicht immer gegeben. Aus welchen Gründen auch immer - seien es fehlende Mittel oder mangelnde Systematik - stecken auch solche Nachschlagewerke voller Fehler.

Gegen die Verluste, die die Platten- und Filmindustrie durch den Datenklau im Netz macht, kommt man sicherlich nicht mit der Befürchtung an, es könnten künftig keine professionellen Produktionen mehr möglich sein, wenn keine ausreichenden Mittel mehr erwirtschaftet werden. Wenn es denn so geschieht, wer wollte es verhindern? Dass sich die Industrie oder besser gesagt: ein altes Medium an die neuen Medien anpassen muss, statt ihre Existenz zu beklagen, ist ein alter Hut der Mediengeschichte. Ebenso aber auch, dass Medienrevolutionen meist zu einer Erweiterung des Medienangebots führen und nicht zu seiner grundsätzlichen Verdrängung, wenn wir Archivierungsmedien wie Kassettenrecorder und Schallplatte einmal ausnehmen. Kein Unternehmen kann davon ausgehen, dass sein Geschäft auf Ewigkeit so weiter geht wie bisher. Ohne Anpassung und Weiterentwicklung kein Fortbestand. Auch das ist nicht neu.

Zweifelsohne ist das Netz heute zum Leitmedium avanciert, es ist ein grandioses Wissensarchiv und ein ungemein schnelles Kommunikationsmedium. Selbst in langsamen Bereichen wie der Literaturwissenschaft ist es zum ersten Anlaufpunkt für Informationen geworden. Niemand will mehr zu den Zeiten zurück, in denen jede biografische Information zu einem Autor einen Gang in die Bibliothek nötig machte, in denen Bibliografien über Zettelkästen zusammengestellt wurden und in denen Abkürzungen in dubiosen Nachschlagewerken gefunden werden mussten. Nichts gegen die großen Nachschlagewerke - die wir eigentlich auch nur als Konversationslexika benutzen - das Netz ist zurecht an ihre Stelle gerückt. Es ist schneller, dezentral, überall verfügbar und einigermaßen verlässlich. Und mit dem Generationenwechsel in den Wissenschaften wird es mehr und mehr auch Forschungsdebatten aufnehmen, also über schnelle Vorabinformationen hinausgehen.

Ladenketten oder Zeitungen gehen deshalb ein, weil das World Wide Web Bedürfnisse besser, effektiver, schneller und billiger befriedigt. Der berühmte Plattenladen, in dem man stöbern konnte? Ja, das gab es auch in Deutschland: Saturn in Köln war so ein Haus, bevor sich daraus eine Elektronik- und Medienkette entwickelte, die vor allem auf den schnellen Absatz aus war. Aber wer hat Saturn dazu gemacht? Die Spartenliebhaber sicherlich nicht, sondern ein Massenpublikum, dessen Geschmack bedient und dessen Bedürfnisse befriedigt werden sollten.

Wie man es auch dreht und wendet, das Internet ist nicht nur unübersehbar vorhanden und erfolgreich, es bietet darüber hinaus auch Möglichkeiten, die andere Medien so nicht bereit stellen. Das bedeutet freilich nicht, dass es nicht reflektiert und kritisch eingesetzt und genutzt werde sollte. Die Vertauschung von Fiktion, Fake und Sachinformation ist nicht tolerierbar, politische Hetze, Gewalt oder sexuelle Erniedrigung haben in keiner Gesellschaft und keinem Medium etwas verloren. Die Sorge um eine Generation, die mit dem neuen Medium aufwächst, ist nicht weniger gerechtfertigt als die Sorge um eine Generation, die mit Fastfood und Softdrinks aufwächst (von politischen Gefährdungen sei hier geschwiegen). Man muss sich eben drum kümmern.

Dass man den Missionaren des Web gegenüber misstrauisch sein soll - gegessen. Aber das in sich geschlossene Werk kann man nicht gegen die Assemblage, Fragmentierung und Kommentierung ausspielen. Beide Formen gab es schon vor dem Netz und sie werden auch im Internet ihren Platz haben. Dass eine Gesellschaft nur existieren kann, wenn sie Werte und damit auch Einkommen schafft, bedeutet eben nicht, dass man die Revenuen der Kulturindustrie oder Werbewirtschaft sichern muss. Dass solche Wirtschaftszweige unter dem Netz, unter sich ändernden Gewohnheiten und sich verschiebenden Geld- und Warenströmen und neuen Dienstleistungen leiden, ist nicht zu übersehen. Aber auch für diese Fälle gilt: In welcher Gesellschaft leben wir, in der eine ehemals schlechte Zeit zu einer guten, alten umgebogen wird? Wir erinnern uns an die heftigen kulturkritischen Attacken auf den Kapitalismus, zu dem ja eben auch Zeitungs-, Musik- und Filmindustrie gehörten. Und jetzt haben wir Mitleid mit ihnen, weil auf einmal die Amateure los sind? Die nicht Bob Dylan oder Jimi Hendrix heißen - die aber auch als Dilettanten angefangen haben, schlechte Produktionsbedingungen hatten und deren Kreativität nicht von der Musikindustrie abhing (auch wenn sie ihnen schließlich Möglichkeiten bot, die ihnen sonst nie zur Verfügung gestanden hätten). Problematisch ist das Netz auch ohne solche unsauberen Polarisierungen schon genug. Aber mit Keens grobschlächtigen Attacken wird das Ganze auch nicht besser.

Keine Frage - Regulierungen, Kontrollen und ein einigermaßen reflektierter Umgang mit dem Netz sind sinnvoll. Es wird uns weder den medialen Himmel auf Erden bringen noch das Reich des Bösen oder Falschen. Es ist einfach nur ein neues Medium, mit einigen Vorteilen und einigen Schattenseiten, mit einer Menge ernsthaft arbeitender Leute und doch einigen Scharlatanen und Betrügern. Das ist ein Grund, sich mit ihm zu beschäftigen (und es nicht nur zu nutzen) - aber kein Grund, den Untergang der Kultur zu beschreien.


Titelbild

Andrew Keen: Die Stunde der Stümper. Wie wir im Internet unsere Kultur zerstören.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Helmut Dierlamm.
Carl Hanser Verlag, München 2008.
247 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446415669

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