Oft ist das Denken dem Fühlen nur im Weg

Robert Seethaler folgt in "Die weiteren Aussichten" der Liebe zwischen einem langen, dünnen Mann und einer jungen, dicken Frau

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Da sich das Wetter ja nicht bloß auf das Gemüt des Menschen auswirkt, wird viel und gern darüber geredet. Und geschrieben natürlich. Der junge, in Wien lebende Autor Kurt Leutgeb widmet dem Thema sogar einen ganzen Roman. Und der (im Klagenfurter Sisyphus-Verlag erschienen) heißt dann noch so: "Das Wetter" nämlich.

Dieses laut Duden "zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort [...] in Erscheinung" tretende und "häufigen Veränderungen" unterworfene Phänomen übt auch auf den Handlungsverlauf von Robert Seethalers zweitem Roman einen nicht unwesentlichen Einfluss aus.

Bei einem Titel wie "Die weiteren Aussichten" denkt man außerdem sowieso genau daran und wird von dem Buch auch diesbezüglich nicht enttäuscht. Nur zeigt sich das Wetter in ihm halt eher von seiner extremeren Seite. Denn vom Früh- bis in den Spätsommer hinein (das ist der Zeitraum, in dem der Roman spielt) gibt es immer wieder den gleichen "drückend heißen, stickig schwülen Scheißtag, wo die Luft so schwer und unbeweglich herumsteht, dass man fast hineinbeißen möchte, wenn sie nicht so stinken würde".

Auf 310 von 317 Seiten ist es "heiß wie noch nie"! Kein Wunder also, dass der 27jährige Protagonist zeitweilig " ohne Schuhe und ohne Hemd" daherkommt beziehungsweise "unverhältnismäßig oft die falschen Sachen (anhat). Oder gar keine".

Sein Innenleben profitiert vom schweißtreibenden Wetter vorerst kaum. Hier scheint weniger Sonne. Ja, "manchmal gewittert es [...] ein bisschen" im Kopf. Und diese "Kopfgewitter" fordern jedes Mal einen zweitägigen "Erholungstiefschlaf", ehe sie ihn "wieder zurück ins Leben" lassen, wobei Leben das monotone Abspulen von Zeit in einer Tankstelle in der Provinz bedeutet. Mutter und Sohn betreiben sie gemeinsam: Sie hat "diesen Vollidioten von einem Fernseher", den sie jeden Abend viel zu laut laufen lässt; und er den Zierfisch Georg, der "in seinem kleinen runden Aquarium [...] mit der Schwanzflosse" herumfächelt oder "einfach reglos" dasteht und "ins Zimmer hinaus" schaut.

Sonst ist kaum etwas los. Erstens hat "das Tankstellengeschäft [...] bessere Zeiten gesehen", weil "Billig tanken bei Szevkos" als Werbeslogan über keine Zugkraft mehr verfügt, denn billig ist "heutzutage ohnehin fast alles und ziemlich jeder". Und zweitens gibt es wenig zu sagen, obwohl Mutter und Sohn natürlich schon miteinander reden und jeden Tag beim Frühstück auch damit beginnen. Aber sie reden eben nur "irgendwas, ein paar Sätze, ein paar Worte, und dann schauen sie in ihre Kaffeetassen hinein".

Nach glücklicher Familienidylle sieht das nicht aus. Vielmehr scheint es so, dass man sich mit dem, was ist, einfach abgefunden hat. Die Mutter ist immerhin schon alt, ihre Erwartung an das Leben "weggebröckelt mit den Jahren". Und der Sohn, den sie aus einem schlechten Gewissen heraus umsorgt, "ihn nicht hergeben, ihn nicht verlieren" will, fügt sich brav.

Überhaupt steht seine Existenz unter keinem guten Stern: Bei seiner Zeugung sind "Wein und Schnaps [...] im Spiel" gewesen, weshalb die Geburt von der Mutter als "Unfall" betrachtet wird. Als kleiner Bub sieht er "wie eine genetisch missratene, überlange gelbe Blume im Beet der Gutgewachsenen" aus. Und seine Handflächen sind "meistens glitschig verschwitzt", sodass ihm kein Kind die Hand geben will.

Selbst mit Geschenken gelingt es ihm nicht, Freunde zu finden. Im Zorn darüber will er nicht in die Schule, hockt sich "in die Waschanlage" und verbeißt sich "in den öligen Bürstenhaaren". Zu guter Letzt leidet er auch noch an Epilepsie, die er "wie ein Gewitter [...] im Kopf" empfindet.

Für die "Dörfler" ist er "der kranke Szevko-Bub". Und für jene mit Hang zum Drastischen ein "Verrückter, den es zu allen möglichen Gelegenheiten einfach so umhaut". Ein Rezept dagegen gibt es nicht. Denn "das Leben ist nämlich das Leben und keine Schlagermelodie". Da heißt es einsehen, dass sich Wünsche "praktisch immer zur falschen Gelegenheit oder zu spät" erfüllen.

Aber weil Herbert Szevko (dadurch, dass er "einen Schaden" hat, wie seine Mutter behauptet) "eigentlich gar nichts überlegt", bleibt er wenigstens davon verschont, "in diesem lächerlichen Trauerspiel namens Leben" verzweifeln zu müssen, obwohl reihenweise Grund dazu bestünde, schon was das eigene Aussehen anbelangt. Denn Herbert ist "wirklich nicht schön", dafür aber dünn und lang, und schüchtern. Deswegen hat er "noch nie einen Menschen gestreichelt" und muss, wenn ihn jemand länger anschaut, "gleich wegschauen".

Aber das (und vieles mehr) ändert sich in dem Moment, als die junge, dicke Hilde Matusovsky an der Tankstelle vorbeikommt. Da schaut Herbert nämlich nicht weg, sondern ganz lange und ganz genau hin. Und dabei "hat ihn was erwischt". "[...] Was das aber jetzt genau sein soll, das kann Herbert nicht sagen". Es führt allerdings dazu, dass der "Lebenshunger" erwacht, es ihm auf einmal "zu eng" ist: "Im Haus, im Zimmer, im Bett, in seinem Pyjamaleibchen und in ihm selber".

Es kommt Bewegung in sein Leben: Er springt, um "die neue Hallenbadputzfrau" Hilde zu beeindrucken, "vom Fünfmeterbrett"; trifft sich mit ihr am "großen Schlachtsaufest auf der Kirchwiese"; gerät in eine Rauferei; legt sich später, weil die Mutter nicht erlauben will, dass Hilde bei ihnen einzieht, auf die Fahrbahn; rennt dann im Adamskostüm die Landstraße entlang (um Hilde vor einem "besoffenen Kraftlackel" zu retten) und flüchtet anschließend mit ihr und Zierfisch Georg im "großen Marmeladeglas" per Klapprad Richtung Stadt. Von dort geht es mit der krebskranken Mutter im bequemeren Krankenwagen weiter.

Dieses Stakkato sich überschlagender Ereignisse passiert innerhalb kurzer Zeit. Glücklicherweise aber ist Herbert "einer, der den Weg weiß, ohne ihn zu kennen". Dieser Weg ist allerdings von leicht bizarrer Romantik: Es geht durch "eine Wand aus hohem Schilf"; weiter im Holzboot, das "alt und ein bisschen morsch" ist, "in der Mitte eines richtigen Flusses", der "duftet und stinkt"; und endet in einer "von Gottes Quadratlatschen flachgetrampelten, staubig leeren Drecksgegend, wo sich nicht einmal der dümmste Ackerbauer freiwillig hineinstellen würde". Wie Herbert Szevko da "verloren in der Einöde herumstolpert, hat er plötzlich Mitleid mit sich und mit seiner ganzen armseligen Existenz". Den Mut verliert er aber nicht, weil er eines sicher weiß: "Es findet sich immer was!" Am Ende ist es der angerostete, alte "Heurechen vom seligen Papa" und eine "blitzdurchfurchte Gewitterdunkelheit", die den Weg "in eine golden glänzende Zukunft" eröffnen.

In eine ähnliche Richtung dürfte auch die Schriftstellerkarriere des am Volkstheater in Wien ausgebildeten Schauspielers und Drehbuchautors Robert Seethaler führen. Denn sein rasant und spannend erzählter Roman bringt durch die ins Naiv-Infantile gehende Sprache nicht nur einen ganz eigenen Stil zur Wirkung, der dem Text komödiantische Schrägheit verleiht; seine 35 Kapitel, die so herrliche Überschriften tragen wie "Die schönsten Bilder brauchen keinen Blick" oder "Das Leben ist keine Schlagermelodie", bevölkern dann auch noch recht originelle Typen, aus denen ein "aufrechter Held" herausragt, der alles auf eine Karte setzt, um sich "von einer weichen, warmen Welle namens Hilde [...] fortspülen" zu lassen.

Der Roman ist reich an melodramatischem Witz, lapidarem Gleichmut, pointierter Komik, ruraler Deftigkeit und ironisch-kritischen Seitenhieben auf Entwicklungen wie die "Wirtschaftswucherung" in den 1970er-Jahren, das "Hineinsubventionieren" in kleine alte Bauernhöfe an "hinteren Dorfausgängen" oder andere "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" für "eine brauchbare Infrastruktur". Und er vermag auf feinfühlige Art zu zeigen, wie es durch die Kraft der wahren Liebe als von vornherein Stigmatisierter gelingt, sich aus den Zangen dörflicher Hierarchien und Vorurteile zu befreien, indem man spontanes, ehrliches Aus-dem-Bauch-heraus-Handeln anstelle von Denken setzt.

"Oft ist das Denken dem Fühlen nur im Weg", heißt es an einer turbulenten Stelle. Und weil es solche turbulenten Stellen in diesem Roman, der Kitsch und Konvention mit Spontaneität und Verrücktheit kunstvoll zu einem lustig-traurigen, wilden dörflichen Liebesmärchen zusammenzumischen versteht, ziemlich häufig gibt, hält die Lesefreude über sein Ende hinaus an.


Titelbild

Robert Seethaler: Die weiteren Aussichten. Roman.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2008.
315 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783036955254

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