"Nazi nipples" und andere "Wiedergutmachungsfantasien"

Ruth Klügers Analysen des literarischen Antisemitismus finden in der Germanistik endlich Anklang

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht erst, seit Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" (1995) mit Kate Winslet in der Hauptrolle mit einem Oscar für die beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde, wird einem in Deutschland mit besonderer Mauligkeit begegnet, wenn man es in Alltagsgesprächen wagt, einmal Kritik an dem Stoff zu äußern. Bei den meisten Leuten überwiegen Rührung über den Plot und Mitgefühl gegenüber der Hauptfigur Hanna Schmitz - einer SS-Täterin, die an dem Tod jüdischer Frauen auf einem "Todesmarsch" mit schuldig ist, sich 'aber auch' bald als eine verdruckste Analphabetin entpuppt, die sich gerne aus den Meisterwerken der Literatur vorlesen lässt.

Schließlich wird die bemitleidenswert dargestellte Frau in dem Roman aufgrund ihres uneingestandenen Handicaps, das als Beweis dafür hätte dienen können, dass sie ein sie belastendes, angeblich von ihr selbst verfasstes Dokument gar nicht geschrieben haben konnte, auch noch lebenslänglich eingesperrt und nimmt sich in der Haft das Leben, am Vorabend ihrer Entlassung. Hinzu kommt die leidenschaftliche Liebesgeschichte Hannas mit dem Erzähler des Romans, dem zunächst erst 15jährigen Michael Berg. In der Verfilmung von Stephen Daldry wird diese vordergründige Attraktion der Geschichte durch entsprechende Nacktszenen mit Kate Winslet und David Kross noch verstärkt, was den Filmkritiker Cosmo Landesman in der "Sunday Times" bereits zu dem Ausfruf provozierte: "So, those in the back of the cinema, stop looking at Winslet's nipples! For God's sake, those are Nazi nipples - as the young Michael eventually discovers to his horror."

Doch wieso sollte das Publikum, das an der ganzen Sache gar keinen allzugroßen "Horror" mehr empfindet, sich von solchen ironisch zugespitzten Mahnungen seinen Lese- oder Kinogenuss auch verderben lassen? Was in der angloamerikanischen Presse an Kritik vielleicht noch einige Aufmerksamkeit zu erregen vermag, möchte man hierzulande gar nicht erst hören, zumal die Geschichte in Deutschland viel mehr Regressionspotential birgt, als sich die meisten offen eingestehen möchten. Allzu gerne lässt man sich von einer solchen tragischen Story erregen oder auch zum Weinen bringen - und nicht zuletzt spiegelt sie ja auch ein in deutschen Familien bis heute millionenfach erlebtes Dilemma: Dass da nämlich Menschen sind, die man tatsächlich liebt, von denen man aber auch weiß, dass sie einmal Teil einer Gesellschaft waren, die die Shoah verbrach - und dass diese Familienmitglieder damals vielleicht sogar mehr als bloße Mitläufer waren.

Wie so oft, wenn es um die deutsche "Vergangenheitsbewältigung" geht, musste auch an dem in vieler Hinsicht problematischen Schlink-Buch die Kritik erst im Ausland geäußert werden, bevor, sieben Jahre nach der Veröffentlichung des Romans, überhaupt einmal eine - allerdings bislang fast nur unter Philologen ausgetragene - Debatte über das Buch entstehen konnte. Der Leipziger Literaturwissenschaftler Hans-Joachim Hahn erinnert in seinem Artikel zu Schlinks Roman, den man in dem von Torben Fischer und Matthias N. Lorenz herausgegebenen "Lexikon der 'Vergangenheitsbewältigung' in Deutschland" nachlesen kann, daran, dass es zunächst empörte Leserbriefe im "Times Literary Supplement" waren, die der zaghaften deutschen Kontroverse vorausgingen. "If literature means anything, The Reader has no place in it", wetterte da Frederic Raphael, und Jeremy Adler, Sohn des Theresienstadt- und Auschwitzüberlebenden H. G. Adler, schrieb daran anknüpfend, die Story um die "virtuelle Heilige" Hanna, die "auf groteske Weise die Frage" verkörpere, warum "eine Kultur, die Goethe und Schiller hervorgebracht habe, der Barbarei verfallen sei" sei nichts als "Kulturpornographie". Adlers Leserbrief wurde dann auch in der "Süddeutschen Zeitung" abgedruckt, doch bis heute sind daran anknüpfende kritische Perspektiven auf Schlinks Roman - und nun auch auf die mit dem Oscar prämierte Verfilmung - im deutschen Feuilleton eher rar geblieben, wenn man einmal von einigen jetzt sogar in prominenteren Blättern veröffentlichten Verrissen absieht, die zuletzt über den Film zu lesen waren, etwa der von Thomas Assheuer in der "Zeit".

Das von Fischer und Lorenz 2007 herausgegebene Lexikon, das seinen Gegenstand, die deutsche "Vergangenheitsbewältigung", angesichts solcher Beobachtungen vorsichtshalber immer noch in Anführungszeichen setzt, kommt hier wie gerufen. Ähnlich wie der zitierte Artikel Hahns werfen auch die anderen knappen Texte des Bands kritische Blicke auf die spezifische "Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945" - eine geschichtspolitische Entwicklung, die noch lange nicht zuende ist, aber eines solchen bilanzierenden Überblicks dringend bedurfte. In diesem Lexikon findet man deshalb sachliche Informationen und ausgewählte Literaturhinweise zu allen wichtigen zeitgeschichtlichen Kontroversen seit 1945. So wird man etwa über die "Entnazifizierung", den Mythos der "Stunde Null", den Frankfurter Auschwitz-Prozess und die Filbinger-Affäre informiert, bis hin zu umstrittenen Ereignissen wie die Walser-Bubis-Debatte und die im Zusammenhang mit Schlinks Bestseller ebenfalls signifikanten Diskussionen um Erfolgsbücher wie Jörg Friedrichs "Der Brand" (2002) und Günter Grass' Novelle "Im Krebsgang" (ebenfalls 2002 erschienen).

Lexikon-Mitherausgeber Lorenz gehört seit seiner viel beachteten Dissertation über "Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser" (2005) zu den jüngeren Protagonisten der Erforschung des "Literarischen Antisemitismus nach Auschwitz". Zusammen mit Klaus-Michael Bogdal und Klaus Holz hat er, ebenfalls im Jahr 2007, den Sammelband zu einer Bielefelder Tagung zum Thema herausgegeben, der auch als eine der bislang wichtigsten deutschen Publikationen zum Thema bezeichnet werden darf - und übrigens auch einen ausgezeichneten kritischen Aufsatz von Lorenz über Schlink enthält. Dass die Bielefelder Antisemitismus-Tagung besonders bekannte und ausgewiesene Vorträger wie Jan Philipp Reemtsma aufbieten konnte, dürfte, zusammen mit der vorangegangenen Debatte um Lorenz' Dissertation, zu dem überdurchschnittlich großen Presseinteresse geführt haben, dass sie erfuhr und das in Artikeln der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", der "Zeit" und der "Frankfurter Rundschau" seine erfreuliche Resonanz fand.

Der bei Metzler erschienene Tagungsband verdient jedoch umso mehr Beachtung, könnte er doch zum Ausgangspunkt eines neuen - und in vielen Fällen in Deutschland in dieser Ausprägung erstmaligen - Forschungsinteresses am Phänomen des literarischen Antisemitismus werden. Auffallend ist an dem Buch, dass hier neben den Herausgebern und bekannteren Autoren wie Micha Brumlik oder dem Schriftsteller Robert Schindel auch einige Forscher zu Wort kommen, die entweder eher erst am Anfang ihrer Karriere stehen, oder aber mit ihren Arbeiten von etablierteren Germanisten bisher weniger beachtet wurden. Reemtsmas Bielefelder Vortrag etwa über die Frage, ob Max Frischs Theaterstück "Andorra" antisemitisch sei, ist in den Sammelband gar nicht aufgenommen worden - wohl aber einer von Ruth Klüger über die "Säkularisierung des Judenhasses" am "Beispiel von Wilhelm Raabes 'Der Hungerpastor'", der bei der Tagung noch überhaupt nicht im Programm war. Klüger, die selbst Auschwitz überlebte und bis heute im kalifornischen Irvine als Literaturprofessorin lehrt, hat mit provozierenden Texten vor allem auch über die Frage nach dem Antisemitismus in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur immer wieder auf einen 'blinden Fleck' im Forschungsinteresse der deutschen Germanistik hingewiesen. Dass Klüger wegen ihrer zum Bestseller avancierten Alters-Autobiografie "weiter leben. Eine Jugend" (1992) sowohl in dem "Lexikon der 'Vergangenheitsbewältigung'" mit einem Artikel bedacht wird als nun auch in dem Sammelband von Bogdal, Holz und Lorenz mit einem literaturwissenschaftlichen Aufsatz vertreten ist, ist kein Zufall. Vertrat sie doch schon lange jene "Außenperspektive", aus deren Blickwinkel die Deutschen erst einmal an jenes "Innerste" ihrer Gesellschaft und ihrer jüngsten Geschichte erinnert werden mussten, dass sie vor lauter literarischer "Wiedergutmachungsphantasien", die Klüger stets resolut als Kitsch entlarvt hat, 'vergaßen'.

Einer der hierzu wichtigsten Beiträge Klügers findet sich in ihrem immer noch außerordentlich lesenswerten und jetzt im Wallstein Verlag mit Ergänzungen wieder aufgelegten Band "Katastrophen. Über deutsche Literatur". Er stellt die Frage: "Gibt es ein 'Judenproblem' in der deutschen Nachkriegsliteratur?" Besonders anschaulich kann Klüger hierin, unter anderem anhand von Texten Alfred Anderschs, zeigen, wie Deutsche in der literarischen Fantasie vieler Nachkriegsautoren zu Protagonisten werden, die Juden im "Dritten Reich" mehr als alle "Anderen" helfen - also viel netter mit ihnen umgehen als etwa das umhergehende "Fleisch in Uniformen" (wie Andersch die SS-Männer in seinem Roman "Sansibar oder der letzte Grund" von 1957 nennt), aber auch zuvorkommender als "besoffene und vertrottelte" Schweden, wie es Klüger im gleichen Text beobachtet. Deutsche treten in solchen Werken, wie Klüger zeigt, plötzlich als die denkbar freundlichsten und altruistischsten Zeitgenossen auf, während böse und zwielichtige Menschen eher aus anderen Ländern kommen. Woher die "Anderen" allerdings stammen, wenn sie zufällig Nazis sind, wird in Anderschs "Sansibar oder der letzte Grund" weitgehend unerläutert gelassen: "Niemand ist ein Nazi, das Wort kommt nicht vor", stellt Klüger schlicht fest. "Dem Leser wird durch diese Ersatzbildungen für die vermiedenen Vokabeln nahegelegt, dass wir, die guten Deutschen, eben ganz anders waren als Jene, die Anderen, Fremde unter uns."

Hans-Joachim Hahn, der auch im Sammelband "Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz" vertreten ist, knüpft in seinem dortigen Beitrag an diese Beobachtung Klügers an und konstatiert weitere "Lektüreschwierigkeiten mit dem 'Judenproblem' in der deutschen Nachkriegsliteratur", und zwar bei Luise Rinser und Kurt Ziesel. Hahn zeigt in seinem Aufsatz auf frappierende Weise, wie offensichtlich die Texte Rinsers und Ziesels exakt jenem von Klüger kritisierten literarischen Konstrukt der "Wiedergutmachungsphantasie" entsprechen - und wie wenig dies bisher wahrgenommen wurde. So wurde Luise Rinser, eine Autorin, die im Nationalsozialismus ihre Schriftstellerkarriere als junge Frau mit einem begeisterten Hitler-Gedicht begann und in der Nachkriegszeit zu einer erfolgreichen Autorin wurde, die sich noch dazu als SPD-Wahlhelferin engagierte, von schwäbischen Lokalpolitikern als "Sympathisantin" des RAF-Terrorismus geschmäht wurde und sogar von den "Grünen" die Kandidatur für das Amt der Bundespräsidentschaft angetragen bekam, beispielsweise von Sigrid Weigel (1982) und auch noch in einem 2002 verfassten Nachruf von Thomas Anz, der diese Einzelheiten kolportiert, gewürdigt. Die nun von Hahn betont nüchtern konstatierten antisemitischen Motive in ihrer Erzählung "Jan Lobel aus Warschau" (1948) haben diese beiden Literaturwissenschaftler in Rinsers Text aber nicht berücksichtigt, wie der Leipziger Nachwuchskollege (Jahrgang 1967) trocken feststellt.

Besonders überzeugend wirkt Hahns Beitrag gerade deshalb, weil er, ähnlich wie in seinem eingangs zitierten Artikel im "Lexikon der 'Vergangenheitsbewältigung'" wegen solcher Befunde nicht etwa wild herumpolemisiert, sondern ebenso ruhig einräumt, welchen besonderen Schwierigkeiten sich eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema des Antisemitismus in den Texten von Autorinnen wie Rinser gegenüber sieht: Zwar stehe bei Rinser die "projektive Konstruktion der jüdischen Gestalt aus stereotypen Bildern außer Frage", ebenso aber auch "die Thematisierung wenigstens bestimmter Vorstellungen als antisemitisch". Literarische Figuren sind, das machen Hahns Beiträge deutlich, eben auch nicht einfach als bloße Alter-Egos ihrer Autoren begreifbar, und erzählperspektivische Tricks besonders auch in Schlinks "Vorleser" machen es in der Tat nicht gerade einfach, berechtigte ideologiekritische Vorwürfe in eine philologisch haltbare Argumentation zu integrieren.

Dass aber mittlerweile, wie auch die vielen anderen Beiträge in den hier besprochenen Büchern der um Hans-Michael Bogdal, Klaus Holz, Matthias N. Lorenz und Torben Fischer gescharten Autoren zeigen, eine neue Schule der literaturwissenschaftlichen Untersuchung des Antisemitismus entstanden ist, die diese Ambivalenzen überhaupt einmal kritisch thematisiert, ist mehr als begrüßenswert. Man wird an ihren Publikationen in Zukunft nicht mehr vorbeikommen.


Titelbild

Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hg.): Lexikon der "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945.
Transcript Verlag, Bielefeld 2007.
395 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783899427738

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2007.
400 Seiten, 49,95 EUR.
ISBN-13: 9783476022400

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Ruth Klüger: Katastrophen. Über deutsche Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2009.
254 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835304840

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch