Durch die Kantone

Der von Dirk Vaihinger herausgegebene Band "Die Schweizerreise" versammelt verschiedene Erzählungen

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Sommer 1983 gründeten Renate Nagel und Judith Kimche in Zürich einen Verlag, der sich bald zu einer der feineren Adressen für gute Schweizer Literatur entwickelte. Ende der 1990er-Jahre wurde Nagel & Kimche an den Münchner Hanser Verlag verkauft, und seit 1999 leitet Dirk Vaihinger die Geschicke des Hauses, das im vergangenen Herbst mit mehreren literarischen Festveranstaltungen sein 25-jähriges Jubiläum beging. Eine gediegene Anthologie, herausgegeben vom Verlagsleiter, durfte da nicht fehlen, und da Nagel & Kimche seit jeher herausragende Prosa aus allen Landesteilen präsentiert hat, versammelt "Die Schweizerreise" 25 Erzählungen aus (aufgerundet) 25 Kantonen, die in den letzten (abgerundet) 25 Jahren entstanden sind.

Der Kanton, schreibt Vaihinger in seiner Nachbemerkung, sei "das Bauelement der Schweiz", und wenn man die Beiträge nach den Heimat- oder Wohnkantonen ihrer Verfasser auswähle, entstehe ein Abbild der Binnendifferenzen des Landes. Außerdem ergebe es "ein poetisches Mosaik, eine narrative Landeskarte, einen Spiegel der literarischen Arbeit in der Schweiz". Zur Einschränkung weist der Herausgeber darauf hin, dass sein Unterfangen auch einen "spielerisch-experimentellen Charakter" habe und dass er abklären wolle, "wie weit ein Buch die literarische Confoederatio Helvetica, unser allgegenwärtiges CH in dichterischer Gestalt, überhaupt vor Augen rücken" könne. Ein apartes Projekt mit hohem Anspruch ist diese "Schweizerreise": Reisen wir los! Was gibt's zu lesen?

Schon nach drei Texten - Klaus Merz (Aargau), Helen Meier (Appenzell) und Adelheid Duvanel (Basel) - ist klar, was man von vornherein vermuten konnte: Die Prosastücke könnten unterschiedlicher kaum sein, und die Kantone spielen darin eine ganz untergeordnete Rolle. Oder doch nicht? Obwohl die anrührende Geschichte von Lukas Bärfuss (Bern), in der permanente Wohnungswechsel eine wichtige Rolle spielen, den Titel "Los Angeles" trägt, ist dort viel von der Schweiz und einigen ihrer Kantone die Rede. Marie-Claire Dewarrat (Freiburg) erzählt in "Die Totenwache" vom einem alten, in den Dörfern ihres Kantons einst gepflegten Brauch, und nach dem aus seinem ursprünglichen Kontext gerissenen Verlegenheitsbeitrag von Yvette Z'Graggen (Genf) folgen zwei der besten Geschichten des Bandes: "Zeit der Sanduhren" von Emil Zopfi (Glarus), eine kunstvoll gebrochen erzählte Erinnerung an eine Klettertour über dem Walensee, und "Die dunkle Seite des Mondes" von Silvio Huonder (Graubünden), eine eindrucksvolle Prosaskizze, die die Ereignislosigkeit einer Jugend in der Provinz um das Jahr 1970 herum brillant einfängt und zugleich, der Titel sagt es schon, eine Hommage an die Klangteppiche der Gruppe Pink Floyd ist: "Ticking away the moments that make up a dull day ...".

Den Zauber von Sils und Majola ruft Leo Tuor (Graubünden) herauf, eine traurige Bienengeschichte erzählt Alexandre Voisard (Jura), und eine Liebeserklärung an den rastlosen Onkel Ruedi, "der nie wohnen wollte", steuert Erwin Koch bei (Luzern). Für Neuenburg spricht Anne-Lise Grobéty, und für St. Gallen ist Vaihinger nichts Besseres eingefallen als fünf Seiten aus Peter Webers "Wettermacher"-Roman von 1993. Dafür entschädigen "Der Traum des Staatsanwaltes" von Isolde Schaad (Schaffhausen), "Eine Million Rosen aus Odessa" von Gertrud Leutenegger (Schwyz) und natürlich Peter Bichsels solothurnische Operette "Der Busant". Giovanni Orelli (Tessin) überzeugt ebenso wie Peter Stamm (Thurgau). Dominik Brun (Unterwalden) lässt den Tierarzt zu einer unglücklichen Bauersfrau kommen, Martin Stadler (Uri) erzählt eine tragische Geschichte vom Bau des Gotthard-Tunnels, Jacques Chessex (Waadt) skizziert eine leidenschaftliche Liebe am Abgrund, und Maurice Chappaz (Wallis) fasst das Glück des Wanderers in poetische Worte. Sehr vergnüglich zu lesen ist Thomas Hürlimanns (Zug) Schilderung der Schweizerreisen seiner Kindheit, mit Eltern, Geschwistern und einem alten Ford. Düster geht es zu in der höchst kunstvollen Geschichte von Ruth Schweikert (Zürich), und Charles Lewinsky (ebenfalls Zürich) bringt endlich auch die Vielsprachigkeit des Landes und sein nicht unproblematisches Verhältnis zum restlichen Europa zur Sprache. Trotz seines sehr lesenswerten Beitrags: Die interkulturelle Dimension heutiger Schweizer Literatur kommt in dieser Anthologie auffällig zu kurz.

Warum sind Prosakünstler wie Ilma Rakusa oder Dante Andrea Franzetti (beide Zürich), Zsuzsanna Gahse (Thurgau), Francesco Micieli (Bern) oder Irena Brežná (Basel) nicht vertreten? Zugegeben: Das Einfachste beim Herummäkeln an Anthologien, Handbüchern oder Lexika ist immer die verwunderte Nachfrage, warum der oder die nicht darin vorkommt. Doch richtig repräsentativ wäre so eine Schweizerreise erst, wenn ein wenig öfter und intensiver über Grenzen geschaut würde - vom Kanton aus, warum denn nicht? So aber bleibt das Buch eine recht heterogene, in der Zusammenstellung keinesfalls zwingende Sammlung von nicht ganz frischen, aber meistens gut lesbaren Erzählungen. Das ist auf jeden Fall mehr als nichts.


Titelbild

Dirk Vaihinger (Hg.): Die Schweizerreise. Erzählungen aus den Kantonen.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2008.
240 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783312004218

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