Auf überwachsenen Pfaden zu einem großen Autor

Zum 150. Geburtstag von Knut Hamsun

Von Eckart LöhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eckart Löhr

Als der norwegische Autor Knut Hamsun, der am 4. August vor 150 Jahren geboren wurde und 1952 starb, für seinen Roman „Der Segen der Erde“ den Nobelpreis für Literatur bekam, veranlasste das Thomas Mann zu der Äußerung: „Die Wahl fiel nie auf einen Würdigeren“. Trotz dieses bedeutenden Votums ist der Name Knut Hamsun heute vielen nicht mehr geläufig – und die wenigsten können wohl behaupten, etwas von ihm gelesen zu haben.

Dabei war es gerade die deutsche Jugend, die ihn für seine frühen Romane liebte, ja geradezu verehrte, und nicht zuletzt diese Tatsache sollte diesem „Antidenker und Querschreiber“, wie ihn ein Biograf einmal nannte, zum Verhängnis werden.

Knut Hamsun, der eigentlich Knud Pedersen hieß, wurde am 4. August 1859 in Lom/Oppland geboren, wuchs in armen Verhältnissen auf, hatte eine harte, entbehrungsreiche Jugend und schlug sich vom Krämerlehrling, Hausierer, Schusterlehrling und Wanderlehrer bis zum Amtsgehilfen durch. 1882 versuchte er das erste Mal in Amerika Fuß zu fassen und arbeitete dort unter anderem als Erntearbeiter.

Nach Norwegen zurückgekehrt ist er bereits als freier Schriftsteller und Vortragsredner tätig. Von seinem zweiten Amerikaaufenthalt 1886-1888 kehrte er mit einem tiefen Hass auf die „seelenlose“ und technisierte amerikanische Kultur zurück, und zwei Jahre später erschien sein erster, stark autobiografisch gefärbter Roman „Sult“ („Hunger“), der seinen Ruhm als Schriftsteller begründete. Nochmals zwei Jahre später, im Jahr 1892, kam der Roman „Mysterier“ („Mysterien“) mit der Figur des Johan Nagel heraus, einem Exzentriker und „Ausländer des Daseins“ der durch sein seltsames Auftreten und seine provokanten Äußerungen seine Mitmenschen schockiert und schließlich den Freitod sucht.

In den folgenden Jahren reiste Hamsun nach Paris, wo er mit so bedeutenden Künstlern wie Paul Gauguin, Edvard Munch und Johan August Strindberg verkehrte, später nach Finnland, Russland, Persien und in die Türkei, um erst 1911 wieder in seine Heimat zurück zu kehren. 1917 erscheint sein großes Werk „Markens Gröde“ („Der Segen der Erde“), die Geschichte des Bauern Isak, der seinen Lebensraum mühsam der Natur abtrotzt.

Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht in Deutschland übernahmen und sich Hamsun zur kollaborierenden norwegischen Quisling-Bewegung bekannte, war es nicht zuletzt eben auch Dankbarkeit gegenüber der deutschen Jugend, die ihn die realen Verhältnisse in Deutschland verkennen und ihn zum Sympathisanten des Hitlerregimes werden ließ. Dies machte ihn politisch und damit leider auch literarisch unmöglich. Darüber hinaus war es aber auch der Blut- und Bodenmythos der Nazis, sowie die Irrationalität seines durch den Vitalismus beeinflussten Schreibens, die ihn für die nationalsozialistische Propaganda empfänglich machten. Die 1937/38 durch Georg Lukács ausgelöste „Expressionismusdebatte“ hat hier einiges zur Klärung dieser Sachverhalte beigetragen.

Seine 1935 gemachten Äußerungen zu Carl von Ossietzky, dem Herausgeber der Weltbühne und Friedensnobelpreisträger, der zu dieser Zeit im Konzentrationslager war und dort später an den Folgen seiner Folterungen starb („Wenn die Regierung zu dem Mittel gegriffen hat, Konzentrationslager einzurichten, sollten Sie und die Welt verstehen, dass das seine guten Gründe hat“) bleiben trotz aller Entschuldigungen für immer unverzeihlich.

Nachdem der mittlerweile Einundachtzigjährige auch noch die Okkupation Norwegens durch die Nationalsozialisten im April 1940 begrüßte und seine Landsleute aufforderte, keinen Widerstand zu leisten („NORWEGER! Werft das Gewehr weg und geht wieder nach Hause.“) war sein Ruf endgültig zerstört. Sein schriftlicher Nachruf auf Hitler war da nur noch der verstörende Abschluss eines politisch Verblendeten.

Nach der Befreiung Norwegens 1945 wird der mittlerweile Taube und Halbblinde wegen Landesverrats angeklagt, in Arrest genommen, psychiatrisch untersucht und auf Grund seines hohen Alters lediglich zu einer Geldstrafe verurteilt.

In seinem 1950 erschienenen autobiografischen Buch „Auf überwachsenen Pfaden“ schreibt er über diese für ihn äußerst schwierige Zeit, versucht aber auch, sich für sein Verhalten während des Krieges zu rechtfertigen. Nur zwischen den Zeilen lässt sich so etwas wie Schuldbewusstsein erkennen, etwa wenn sich der Schreiber an den „hoffnungsvollen Sohn“ erinnert, der er seinem Vater einst gewesen ist und – wenn auch in der ersten Person Plural – hinzufügt: „Aber wir, die wir enttäuscht haben, sollten nicht tragisch werden.“

Am 19. Februar 1952 starb dieser bis zuletzt politisch uneinsichtige Autor auf seinem mittlerweile völlig verwahrlosten Hof Nørholm und seine ihn bis zuletzt pflegende Frau Marie sollte später schreiben: „Das Leben, das er geliebt hatte, war oft hart zu ihm, aber der Tod, den er fürchtete, war mild.“

Schon in seinen ersten Romanen betrat „das unbändige Ich“, wie ihn einer seiner ersten Biografen 1929 nannte, literarisches Neuland und verwendete lange vor Arthur Schnitzler, Marcel Proust, James Joyce oder William Faulkner die „erlebte Rede“ und den „inneren Monolog“, um innere Bewusstseinsabläufe wiederzugeben. Daneben führte Hamsun den ständigen Tempuswechsel vom Imperfekt zum Präsens in die Literatur ein, um den Übergang von der äußeren Ereignis- zur inneren Erlebnisebene zu zeigen. Zusammen mit Fjodor Michailowitsch Dostojewskij, Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche war Knut Hamsun einer der großen Tiefenpsychologen der Literatur, noch bevor Sigmund Freud 1900 seine Traumdeutung veröffentlichte und damit die Literatur und Kunst überhaupt revolutionieren sollte. Er war ähnlich wie etwa Ernst Jünger oder auch Gottfried Benn – ohne diese Autoren sonst in irgendeiner Form vergleichen zu wollen – ein Aristokrat des Geistes, ein Verächter aller kleinbürgerlichen Konventionen, ein Romantiker und Revoluzzer, ein Verfechter des dionysischen Lebensgefühls (um einen Begriff Nietzsches zu strapazieren, von dem er beeinflusst war). Seine zivilisations- und kapitalismuskritischen Romane inspirierten Autoren wie Henry Miller, Thomas Mann oder Hermann Hesse.

Johann Wolfgang Goethe sagte 1827 zu Johann Peter Eckermann: „Je inkommensurabler und für den Verstand unfasslicher eine poetische Produktion, desto besser.“ Die Werke dieses großen, verfemten und zuletzt vor den Scherben seines Lebens stehenden Autors waren vor gut hundert Jahren inkommensurabel und sind es noch heute. Wer sich mit Literatur oder Kunst überhaupt ernsthaft beschäftigt, muss eines wissen: Das Kunstwerk steht grundsätzlich höher als der Künstler, der es geschaffen hat. Natürlich ist Hamsun persönlich wie politisch gescheitert und natürlich darf man nie vergessen, wie seine Haltung zu den Nazis war – und natürlich trauert man mit Kurt Tucholsky, der 1934 über ihn schrieb: „Konnte er nicht das Maul halten? Er weiß doch von diesen Dingen überhaupt nichts. Er kennt Deutschland kaum […] – er ist überhaupt kein Politiker. Himmelarsch- und zwirn. Viel Enttäuschungen können mir hienieden nicht mehr begegnen […] – aber das war eine, und sie hat gesessen. Ich hatte mir sein Altersbildnis besorgt, um es ins Schlafzimmer zu hängen – ich weiß nicht, ob ich das noch kann“. Und natürlich muss man als Leser auf der Hut sein, ob und wie viel von seiner falschen Gesinnung Eingang in seine Prosa gefunden hat, aber das Wichtigste: Natürlich muss man ihn wieder lesen!