Die Entzauberung der Geschichtspolitik

Herfried Münkler schreibt über "Die Deutschen und ihre Mythen"

Von Sigrid GaisreiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Gaisreiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den vergangenen Jahren befassten sich mehrere Untersuchungen mit symbolischen Grundlagen politischer Gemeinwesen. So gab der Historiker Heinrich August Winkler eine Publikation zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland heraus, und Étienne François und Hagen Schulze widmeten sich deutschen Erinnerungsorten. Beide Arbeiten sind dem Münkler'schen Unternehmen benachbart, geht es doch dort wie hier um im kollektiven Gedächtnis eingelagertes symbolisches Kapital, das für politische Zwecke instrumentalisiert wird. Wissenschaftsintern waren dafür in aller Regel Historiker und Kulturwissenschaftler zuständig. Nun aber, abgesehen von zahlreichen Arbeiten zur symbolischen Politik im Nationalsozialismus, bereiten auch Politikwissenschaftler dieses Thema für ein breiteres Publikum auf. Herfried Münkler ist für diese Aufgabe mehr als prädestiniert, ist er doch in der Geschichte politischer Ideen und ihrer symbolischen Repräsentation zu Hause.

Dass Mythen als Sinnstifter politisch eingesetzt werden, ist nicht nur in der Politikwissenschaft bekannt. Relevant ist die Untersuchung von Münkler deshalb, weil er nochmals die alte Frage Max Webers aufnimmt, wie es sich in einer entzauberten Welt leben ließe. Die Arbeit von Münkler erscheint zu einem Zeitpunkt, da das postmoderne Credo vom Ende der Meta-Erzählungen zu einem Ende gekommen ist. Aus dem sich daran ausbreitenden Geschichten-Pluriversum wurde unter Odo Marquards Transzendentalbelletristik, die Anleitungen von Joachim Ritter und Hans Blumenberg miteinbezog, eine kompensatorische und lebenspraktische Verrechnung von Mythen für Modernisierungsschäden. Mit Blumenberg und gegen die Mythostheorien von Roland Barthes, Claude Lévi-Strauss und Ernst Cassirer ist Münkler der Auffassung, dass Mythen eine "überlebenssichernde Funktion" zukomme.

In seiner umfänglichen Einleitung entwickelt der Autor, in Auseinandersetzung mit relevanten Theoretikern, seinen Begriff vom Mythos. Nicht alle Zitierten werden bei dieser tour d'horizon explizit, wie Karl Marx, Jan Assmann oder Karl Mannheim, genannt. Münkler nimmt auch Anregungen von Reinhart Koselleck, Pierre Bourdieu, Maurice Halbwachs oder Helmut Schelsky auf. Die Einleitung dient nicht nur dazu, die eigene Position im Kreis von Wissenschaftskollegen zu verorten, sondern gibt auch methodische Hinweise und expliziert den zugrundegelegten Begriff.

Unter Mythen versteht Münkler, hier kommt Bourdieus Kapital-Theorie ins Spiel, die "Ansammlung symbolischen Kapitals" in einer Gesellschaft, trügen sie doch zur Ausgestaltung eines "kollektiven Gedächtnisses" bei. Politische Mythen sind nach Münkler "für die Identität politischer Gesellschaften von zentraler Bedeutung". Sie treten in Form von narrativen Gebilden, als Verbildlichung und als rituelle Inszenierung auf. Erst wenn alle drei Aspekte zusammenkommen, entfalten Mythen ihre größte Kraft. Diese Formen und deren Verhältnis zueinander diskutiert Münkler dann im nächsten Schritt.

Grundsätzlich konzipiert er Mythen als ein Gebilde ohne feste Konturen und grenzt sie nach zwei Seiten, hin zum Dogma und zur Kampagne, ab. Mythen unterliegen, durch spielerische Veränderung ihrer Bestandteile, einem ständigen Transformationsprozess, an dem sich alle Bevölkerungsgruppen durch permanentes Weiter- und Umerzählen beteiligen. Das unterscheidet sie vom Dogma. Sobald ein Mythos jedoch zum Dogma erstarre, so der Autor weiter, sei er "tot". Diese Gefahr sei aktuell gegeben, da das Ikonische, die Debatte wird unter dem Schlagwort iconic turn geführt, das Narrative heute dominiere. Letzteres aber sei mythentauglicher, da es für Variationen, durch die Vielfalt von Umerzählungen, offener sei als das Ikonische. Dieses zeichne sich dadurch aus, dass eine "einmal durchgesetzte Ikonik ein sehr viel größeres Beharrungsvermögen gegenüber Varianten" aufweise.

Im empirischen Teil seiner Untersuchung macht Münkler viele Proben aufs Exempel, welche Logiken der sakralen Aufladung ein politischer Mythos erfährt, wie er sich, vielfach variiert, behauptet und wie er seine Geltung verliert. Im ersten Fall eines Geltungsverlusts tritt ein äußeres Ereignis abrupt auf den Plan. Die Implosion der osteuropäischen Staaten und der DDR war ein solcher Fall, dem ein Prozess der Desakralisierung folgt, Denkmäler wurden geschleift und öffentliche Orte umbenannt.

Von der schleichenden Erosion der Symbolkraft von Mythen handelt der zweite Fall, sichtbar an der Vernachlässigung der Pflege von Denkmälern. Münkler spricht von einem "unmerklichen Dahinscheiden". Dieser Fall sei in Deutschland jedoch die Ausnahme, die Regel "waren heftige Kämpfe um politische Mythen". Mythen, auch politische, sind auch dann "tot", wenn deren "ideologischer Kern" sichtbar werde. Der Weg von der Mythen- zur Ideologiekritik ist daher kurz. Betrieben wird sie, so jedenfalls 1975 der Soziologe Helmut Schelsky, von einer "linksintellektuellen Reflexionselite".

Umgekehrt verortete der Politologe Kurt Lenk in seiner Untersuchung von 1989, "Deutscher Konservatismus", die Mythenerzähler auf seiten des politischen Konservatismus. Münkler entwindet sich geschickt aus dieser ideen- und parteipolitischen Zwickmühle. Als sozialen Akteur in der Mythenproduktion macht er, historisch gesehen, das Bildungsbürgertum aus. Seit dem 19. Jahrhundert jedoch sei es einem Niedergang ausgesetzt, so dass mit ihm auch "mythische Narrationen" an Relevanz verlören. Zunächst aber griff Deutschland, mangels nationalstaatlicher Einigung, bis 1871 auf Mythen und Symbole als Repräsentanz der Nation zurück. Dann war die Einheit da, nicht jedoch die politische Teilhabe des Bürgertums, so dass Mythen ihre Funktion als deren Ersatzbildung behielten.

Die politische Lage änderte sich in der Weimarer Republik grundlegend, jedoch war mit der Arbeiterschaft dem Bürgertum ein politischer Konkurrent erwachsen, politische Mythen dienten dem Bürgertum, das das politische Feld dem Konkurrenten überließ, dazu, die junge Republik zu "denunzieren". Auf die Mythenversessenheit von 1933 bis 1945 folgte danach, zumindest in Westdeutschland, eine politische Mythenvergessenheit. Als Sinnstift galten hier, so Münkler, "Konsummythen". Von diesen hatte Schelsky angenommen, dass sie sozialintegrativ wirken würden. An dieser Stelle geht Münkler vielleicht ein wenig schnell über innerwestdeutsche Deutungskämpfe hinweg. Am Ausgang des Buches kommt er auf die Brüchigkeit dieses Konstrukts nochmals zu sprechen, ohne Schelsky und die nachfolgende Entwicklung an der gründungsmythischen Debattenfront zu erwähnen.

Das mythische Defizit rief den Philosophen Marquard auf den Plan, der Narrationen als Kompensation für Modernisierungsschäden empfahl. Wie auch immer, durch die Technisierung der öffentlichen Kommunikation änderte sich nicht nur das mediale Umfeld, sondern auch Trägerschaft und Struktur politischer Narrationen und wuchs sich zu einer "mythenpolitischen Unterausstattung" Deutschlands aus, für die Münkler auch Intellektuelle verantwortlich macht. Zu Buche schlagen die Ablösung des Identifikationsobjekts "Deutsche Mark" durch den Euro, auch die Ausgestaltung der Hauptstadt Berlin konnte den mythenpolitischen Schaden nicht ausgleichen, den Jürgen Habermas mit der "diskurstheoretischen Ausdeutung des Verfassungspatriotismus" auf dem "Hochsitz der Kritik" angerichtet hatte, da Dolf Sternbergers Konzept eines solchen mythenpolitisch anschlussfähig gewesen wäre. Als letzte Vertreter des einstigen Bildungsbürgertums hätten Intellektuelle dieses Feld "Fernsehunterhaltern, Prominenten, Werbedesignern und Bildzeitungsredakteuren" überlassen, die die einstigen Mythen zu "Schlagzeilen" und "Kampagnen" verhäckselten. Diese Fragmente jedoch stellen für Münkler "keine wirklichen Funktionsäquivalente politischer Mythen" dar. Dazu seien sie zu kurzlebig und zu elitär, weil sie von einer kleinen Gruppe von "Kreativitätsspezialisten" hergestellt werden.

Politik bleibt, dies ist Ausgangs- und Endpunkt des Münkler'schen Passagenwerkes, an "Großerzählungen" gebunden. Damit konzipierte Münkler politische Mythen parteipolitisch neutral und offen: Sie können politische Handlungsspielräume eröffnen oder schließen und sie sind nicht per se antiaufklärerisch. Das Buch ist in fünf große Kapitel, die historisch und systematisch vorgehen, aufgeteilt. Das erste gilt deutschen Nationalmythen, im zweiten wird die Funktion von Mythen, Identität und Alterität zu konstruieren und zu konstituieren, aufgezeigt - und sodann, im dritten, die Sonderrolle Deutschlands, wie in den anderen Kapiteln, an vier Beispielen diskutiert.

Münkler, theoretisch stets à jour, nimmt im vierten Kapitel auf den spatial turn Bezug und verortet unter dem Titel "Burgen und Städte" vier deutsche Mythen. Das fünfte Kapitel behandelt den Zeitraum nach 1945, den Antifaschismus-Mythos (DDR) und den Gegenmythos des Wirtschaftswunders im Westen sowie die Ablösung des Mythos durch Schlagzeilen und Kampagnen.

Angestrebt ist, so in der Einleitung, nicht die Vollständigkeit, sondern die Beschreibung verschiedener Mythen-Konstellationen. Damit ist die Einpassung von Mythen in verschiedene Kontexte gemeint. Wie gut Münkler dieses Vorgehen beherrscht, zeigt sich schon am ersten Beispiel. Für Mythen gilt zunächst, dass ein mythisierbarer Kern literarischer Texte und historischer Ereignisse freigelegt werden muss, um im zweiten Schritt für ein Kollektiv ästhetisch und ethisch anschlussfähig aufbereitet zu werden - und dies bedeutet Reduktion von Komplexität. En détail spürt Münkler dann der Arbeit von Mythokraten nach. Interessant sind alle Fälle, da Münkler sehr schön zeigt, wie anstrengend diese Arbeit ob deren Mehrdeutigkeit ist. Gelegentlich, darauf geht Münkler aber nur am Rande ein, fällt ein ökonomischer Zusatznutzen ab. Die Wartburg, aber auch "Der Mythos des deutschen Bürgertums", Weimar und die "Deutsche Klassik" sind solche Fälle, da touristisch sehr beliebt.

Am Ende seiner Abhandlung wirkt Münkler ein wenig ratlos. Auf die Betonung der Bedeutung politischer Mythen folgt das Eingeständnis, dass der Verzicht darauf, die alte Bundesrepublik mit einem Gründungsmythos auszustatten, "vermutlich" die Voraussetzung für deren Liberalität sei.

Eine wichtige Frage hat Münkler mit seinem Buch aber auf jeden Fall auf die politische Agenda gehoben und damit allerhand Mythen entzaubert. Die Relevanz seiner Arbeit ist nicht zuletzt wissenschaftsintern gegeben, als Aufgabe der Politikwissenschaft, ein breites Publikum über die Grundlagen des Politischen zu unterrichten. Das tut er, wie immer, mit großer Sachkenntnis, mit stilistischer Brillanz und kreativen Ideen. Als Fortsetzung dieses Bandes zur symbolischen Politik folgt im Mai 2009 beim Campus Verlag vom gleichen Autor "Strategien der Visualisierung - Verbildlichung als Mittel politischer Kommunikation".


Titelbild

Herfried Münkler: Die Deutschen und ihre Mythen.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2009.
605 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783871346071

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