Die Wollust unterm Mikroskop

Der Philosoph Simon Blackburn präsentiert mit "Wollust" eine überaus lesenswerte Ideen- und Mythengeschichte über die schönste aller Todsünden

Von Thomas HummitzschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Hummitzsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über kaum ein Thema ist mehr geschrieben und weniger in Erfahrung gebracht worden, als über die Lust. Der Philosophieprofessor Simon Blackburn setzt sich in einem kleinen Büchlein mit der Geistesgeschichte der schönsten aller Todsünden, der Wollust, auseinander. Der im Verlag Klaus Wagenbach erschienene Band ist das Dokument der akademischen Tätigkeit seines Autors. In bisher einzigartiger Manier zeichnet Blackburn in dem als Vortrag konzipierten Skript die philosophische und zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit der Lust und der Begierde nach. Im Zentrum steht dabei die simple und doch kompliziert zu beantwortende Frage: "Kann Kopulation Sünde sein?" Wie schon in "Gut sein. Eine kurze Einführung in die Ethik" und "Wahrheit. Ein Wegweiser für Skeptiker" wählte der Professor aus Cambridge ein an Moralvorstellungen angelehntes Sujet, welches er dann hochintelligent, geistreich und gekonnt in seine historischen und aktuellen Bezüge einordnet und analysiert.

Für den philosophischen, literaturwissenschaftlichen, kunst- und gesellschaftskritischen Essay in siebzehn Akten bildeten zahlreiche Zeugnisse der Kunstgeschichte sowie deren Rezeption die materiellen Vorlagen für seine Erörterungen. Von Platon und dem Kirchenvater Augustinus von Hippo über William Shakespeare und Thomas Hobbes bis Oscar Wilde und Bertrand Russell; von Tizian über Sandro Boticelli und Henri de Toulouse-Lautrec zu Mick Jagger; von der chinesischen Han-Dynastie über die griechische Antike und das Mittelalter bis zur Hochmoderne der Fortpflanzungsgenetik - Blackburn spielt auf der gesamten geistesgeschichtlichen Klaviatur des sexuellen Verlangens. Wenn er anfangs einschränkt, unmöglich das "Panorama der menschlichen Wollust und des Umgangs der Menschen mit ihr [...] in einem kleinen Essay wie diesem hier" einfangen zu können, so kann man dies als professorales Understatement auffassen und schnell wieder vergessen. Denn natürlich musste Blackburn vieles von dem auslassen, was jemals über die Wollust geschrieben und gemalt wurde und was er sicher weiß. Aber eben weil er diese Kenntnis besitzt und seine Auswahl trifft, präsentiert er dem Leser mit seinem klugen Text eine aus der Geschichte gewonnene, geradezu heilige Essenz der fünften Todsünde. Eine Auslese der schönsten und wertvollsten Trauben, deren Saft nach fleischlichem Verlangen schmeckt.

Blackburn macht dabei deutlich, welche Entwicklung die Auseinandersetzung des Menschen mit der Wollust vollzogen hat. Den Idealzustand der Wollust sieht er in einem Verhältnis, das er als Hobbes'sche Einheit bezeichnet, in der es nicht nur zur körperlichen Befriedigung kommt, sondern zugleich eine geistige Erfüllung durch die Freude an dem Vergnügen des anderen eintritt. "Wollust ist hier wie gemeinsames Musizieren, wie eine harmonische Symphonie aus Freude und entsprechender Reaktion."

Blackburn zeigt in seinem Essay, wie weit sich der Mensch durch seinen Umgang mit den eigensten Bedürfnissen von diesem Idealzustand entfernt hat und warum er sich immer wieder selbst dabei im Weg steht. Er macht deutlich, warum Keuschheit lange Zeit Hochkonjunktur hatte und aus welchem Grund sexuelles Verlangen immer wieder als "schändlich" angesehen wurde. Und er veranschaulicht, warum der Umgang mit Sexualität in der postmodernen Gesellschaft aller Aufklärung zum Trotz immer wieder ein ambivalenter Tanz um die gesellschaftliche Schamgrenze ist. Doch zugleich findet Blackburn kluge Worte, um zu zeigen, dass die Wollust die "schönste" aller Sünden ist. Dabei liest sich Blackburns Buch wie ein guter Roman der nicht zu Ende gehen soll, denn es ist nicht nur voller Gehalt und Tiefe, sondern erstaunt in seiner Leichtigkeit und seinem Schwung.

Blackburns Ausführungen nähern sich ihrem jeweiligen Sujet von derart verschiedenen Seiten, so dass ein Jeder, der bisher zu meinen glaubte, dieses zu kennen, sich bei der Lektüre eingestehen muss, dass er sich in diesem Glauben getäuscht hat.


Titelbild

Simon Blackburn: Wollust. Die schönste Todsünde.
Übersetzt aus dem Englischen von Matthias Wolf.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008.
144 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-13: 9783803126016

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