Enthüllungen

Mithu M. Sanyal schreibt in "Vulva" über "Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Bub, lug net auf den Kirschbaum, wenn ein Mädle oben sitzt, du wirst noch blind", lautet eine schwäbische Redensart. Was sich in der Vorstellung, beim Anblick einer nackten Frau die Sehkraft zu verlieren, äußert, ist nichts anderes als die männliche Kastrationsfurcht. Offensichtlicher zeigt sich diese in dem Mythos von der Vagina dentata, der mit Zähnen bewehrten Vulva - nur eine von vielen Dämonisierungen in der Geschichte des weiblichen Genitales.

Die Kulturgeschichte der Vulva, die die Journalistin Mithu M. Sanyal jetzt vorgelegt hat, ist zunächst die Geschichte einer jahrtausendelangen Denunziation, Verdrängung und Verhüllung. Wie Sanyals ebenso instruktives wie frech und provokant geschriebenes Buch nachweist, wurde "der Kampf um die Definitionsgewalt über den weiblichen Körper" vor allem am weiblichen Geschlechtsorgan ausgetragen. Von Augustinus bis zum französischen Analytiker Jacques Lacan konnte die Vulva einzig als Mangel begriffen werden, der schamhaft verborgen werden musste. Stellte das Fehlen eines Phallus aus kirchlicher Sicht ein ernstes Hindernis auf dem Weg ins Himmelreich dar, so hatte es für die Psychoanalyse "Penisneid" oder Hysterie zur Folge.

Symbolisch standen die Genitalien immer auch für Mund und Sprache: "Halt die Fotz'n", heißt es etwa bis heute in Wien, wenn jemand still sein soll. Wer keinen Phallus besitzt, ist kein Subjekt und hat demnach kein Recht, öffentlich zu sprechen, wie Sanyal an der paulinischen Ausgrenzung der Frau aus dem kirchlichen Lehramt zeigt. Medizinisch interessant am weiblichen Genitale war lange allein die Gebärmutter aufgrund ihrer Fortpflanzungsfunktion. Für das Übrige bürgerte sich neben der "Scham" der lateinische Begriff "Vagina" ein, die "Scheide" für das "Schwert" des Mannes.

Doch handelt es sich bei der Vagina nur um die Körperöffnung im engeren Sinne - für die Autorin eine historische Fehlbezeichnung mit weitreichenden Folgen: Bis heute sind selbst viele "Vagina-Monologe" haltende Feministinnen nicht in der Lage, ihr "Da unten" korrekt zu benennen, beklagt Sanyal; "Vulva" lässt viele Frauen höchstens an eine schwedische Automarke denken.

Gründlich in Vergessenheit geriet in diesem abendländischen Verhüllungsprozess, dass das weibliche Genitale einst als heilig verehrt wurde. "Cunt" beispielsweise, das englische Wort für "Fotze", ist etymologisch eng verwandt mit "Queen" und "Country" und bedeutete ursprünglich "heiliger Ort". Auffallend ist, dass sich in allen Kulturen Zeugnisse dafür finden, dass der schamlos-fröhlichen Zurschaustellung der Vulva einst magische Kraft zugeschrieben wurde. Schon in der griechischen Mythologie konnte Baubo, eine meist als alte Frau auftretende Figur, die griechische Fruchtbarkeitsgöttin Demeter von ihren Depressionen befreien, indem sie ihr lachend ihre Vulva präsentierte.

Frauen, die ihre Röcke hoben, konnten Bären vertreiben (Russland), Dämonen in die Flucht schlagen (Ägypten) und die See beruhigen (Katalonien). Selbst noch an vielen romanischen Kirchen im angelsächsischen Raum finden sich "Sheela-na-gigs", rätselhaft-bizarre Plastiken von grinsenden "Genitalbleckerinnen". Männer spielen in all diesen zwischen Magie und Scherz schwankenden Szenarien allenfalls eine untergeordnete Rolle. So überzeugt sind diese vor- oder parachristlichen Zeugnisse von den umfassenden Wirkungsmöglichkeiten einer schamlos präsentierten Vulva, dass man sich fast wünschte, es würden sich einmal ein paar beherzte Frauen an der Wall Street zusammentun, um fröhlich die Finanzkrise zu vertreiben.

Immerhin stand das vergangene Jahrhundert im Zeichen der selbstbewussten Wiederaneignung der Vulva durch die Frauen. Als bahnbrechend erwies sich vor allem Oscar Wildes Stück "Salome", das die exhibitionistische Lust an der Selbstentblößung feierte. Für Sanyal waren es weniger die Vorkämpferinnen des Feminismus als vielmehr Nackttänzerinnen und Stripteasekünstlerinnen, durch die die lachende Baubo endlich wieder auferstand: wie in der Weimarer Republik Anita Berber oder in den USA die Königin der intellektuellen Burlesque Gypsy Rose Lee. Ihnen folgten Performancekünstlerinnen wie Annie Sprinkle, die dazu einlud, mittels Spekulum und Taschenlampe öffentlich ihren Muttermund zu inspizieren, nicht zuletzt um zu "beweisen, dass es keine Zähne darin gibt."

Allerdings vermischt sich in Sanyals Ausführungen der Kampf um eine selbstbestimmte weibliche Sexualität mit dem sich allgemein verändernden Umgang mit Nacktheit. Ist ein erigierter Penis im Fernsehen heute nicht das größere Tabu als der Anblick einer Vulva? Dass die Selbst-Entblößung von Frauen nicht generell als subversiv zu bewerten ist, gesteht Sanyal selbst ein und erinnert an jene italienischen oder französischen Patriotinnen, die zu Weltkriegszeiten mit ihren nackten Brüsten die Truppenmoral stärken wollten.

Dessen ungeachtet zeigt der von Sanyal skizzierte historische Hintergrund, wie wenig revolutionär Bücher wie Charlotte Roches "Feuchtgebiete" oder der Provokationsfeminismus einer Lady Bitch Ray, die im Fernsehen schon mal ein Töpfchen "Fotzensekret" überreicht, in Wahrheit sind. Mehr noch als die "Designer-Vagina", der neueste Trend der Schönheitschirurgie, der verkleinerte Schamlippen ebenso ermöglicht wie eine "Re-Virginisierung", erscheint es da als echter Fortschritt, dass aus dem Mythos der Vagina dentata Realität wurde: In Südafrika bietet die Firma Rape-aXe ein Anti-Rape-Kondom an: Dringt der Penis eines Vergewaltigers ein, krallen sich sofort die kleinen, scharfen Widerhaken des Kondoms in seine Haut und können nur noch in einem Krankenhaus entfernt werden.


Titelbild

Mithu M. Sanyal: Vulva. Die Enthüllung des 'unsichtbaren Geschlechts'.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009.
236 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783803136299

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