Schizophrenie im Garten Eden

T. C. Boyle erzählt von den Anfängen der Psychoanalyse in Amerika

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaum hat Stanley McCormick der angehenden Biologin Katherine Dexter einen Heiratsantrag gemacht, da muß er ihr auch schon gestehen: "Ich bin für die Ehe nicht geeignet. Ich habe unreine Dinge getan." Katherine Dexter, in Kürze die "erste Absolventin des Massachusetts Institute of Technology", läßt sich von dieser Neuigkeit nicht entmutigen. Gewiß, es ist nicht schön, wenn sich der zukünftige Ehemann als Onanist outet, doch sie ist Wissenschaftlerin, die erste Frau Amerikas mit einem Diplom, und sie wird sich dieses "Prachtexemplar von einem Mann" nicht entgehen lassen. Entstammt er doch einer der angesehensten Dynastien des Landes, ist er Sohn des Mähdrescherkönigs Cyrus Hall McCormick, dazu gutaussehend - und märchenhaft reich.

Die Ehe wird geschlossen, aber vollzogen wird sie nicht. Es nützt nichts, daß Katherine die Initiative ergreift: ihr Mann reagiert panisch und wird gewalttätig - und sein Penis bleibt schlaff. Stanley beginnt, allerhand Symptome zwanghafter Natur auszubilden, etwa das Bein nachzuziehen, sich unangemessen oft und lange zu waschen, endlose Listen auf winzig kleinen Zetteln anzulegen, Rechnungen tausendmal nachzuprüfen, vor allem aber: auf Frauen zunehmend aggressiv zu reagieren. 1908, vier Jahre nach der Hochzeit, diagnostizieren die Ärzte Dementia praecox, also Schizophrenie mit fortschreitender Verblödung, und empfehlen, den Kranken zu internieren.

Es ist für beide Eheleute der Beginn einer langen Leidensgeschichte. Obwohl die McCormicks ihrer Schwiegertochter anbieten, die Ehe annullieren zu lassen und ihr die Scheidung zu versüßen, hält sie zu Stanley. Eine Dexter gibt nicht auf. Sie läßt ihren Mann nach Riven Rock in Montecito/Kalifornien schaffen, wo er - bis zu seinem Tod - in einem goldenen Käfig leben wird.

Kalifornien ist der Garten Edens Amerikas, das Land, wo die Orangen blühen, und Riven Rock ist ein luxuriöser, zur Festung ausgebauter Familiensitz der McCormicks. "Riven Rock" heißt er nach einem massiven, von einem Pflänzchen gespaltenen Sandsteinblock auf dem Grundstück: "Stanley legte die Hände verblüfft auf den Fels, der wuchtige Block war fast mannshoch und groß wie ein Leichenwagen, er faßte sich rauh an und strahlte leise Wärme ab. Aus so etwas waren die Gebeine der Erde gemacht, massiver Fels, undurchdringlich, undurchlässig, ein Symbol für alles Dauerhafte, und hier nun war er entzweigespalten, zerrissen wie eine Bahn billigen Tuches, und das von so einem kleinen, so heimtückischen Ding wie einer Eichel..."

In seinem neuen Roman schildert T. C. Boyle einen Adam nach dem Sündenfall und nach der Verbannung aller Frauen aus seinem Paradies. Die Bibel erzählt vom Kampf der Geschlechter, aber sie gibt nur eine Ahnung, was Mann und Frau einander antun können. Zwanzig Jahre lang wird Stanley keine Frau zu Gesicht bekommen, nicht einmal die eigene. Seine Ärzte befürchten Gewalttaten und Perversionen, wie sie Krafft-Ebing in seinem berühmten Werk Psychopathia sexualis (1886) beschrieben hat. Diese Ärzte, die Boyle uns schildert, sind allesamt Anhänger einer neuen Lehre, die mit den "Krauts" nach Amerika gekommen ist - der Psychoanalyse. Die noch junge Wissenschaft ist methodisch unentschieden, weiß nicht, ob sie im Einzelfall individualpsychologisch oder entartungstheoretisch argumentieren soll - gehören zur Vorgeschichte von Stanleys Demenz doch die geistigen Degenerationserscheinungen seiner älteren Schwester Mary Virginia. Für alle Fälle hält sich Dr. Hamilton, behandelnder Arzt und Freud-Schüler, eine Affenkolonie im Garten des Anwesens, um von deren Aktivitäten auf das sexuelle Normalverhalten anderer Hominiden zu schließen. Neben Freud ist Darwin diejenige Gestalt, die das zeitgenössische Weltbild revolutioniert hat, und Boyle geht es immer darum, im Erzählen auch die Einflüsse der großen Menschheitsideen mit abzubilden.

Boyle und die Affen - das ist fast selbst schon ein Kapitel in der Geschichte der Obsessionen. Es gibt keinen Roman, kaum eine Erzählung, wo diese Spezies nicht auftritt und all unsere Sinne herausfordern würde. An ihr demonstriert der Autor seinen trockenen, stilsicheren Witz, der sich häufig in gargantuesken Übertreibungen ergeht, sich aber auch mit der vornehm abgeklärten Ironie eines Thomas Mann zurückhalten kann. Den betäubenden Gestank eines Hominiden etwa umschreibt er mit den Worten: "... und auch olfaktorisch tat er seine Gegenwart kund."

Die Affenkolonie des Dr. Hamilton hat freilich noch eine andere Funktion: Anhand ihrer demonstriert Boyle die fragwürdigen Methoden der Psychopathologie um 1900. Das Pionierzeitalter der Psychoanalyse wird als ebenso hilflose wie grausame wie lächerliche Episode in der Geschichte einer zugleich fortschrittsgläubigen und hoffnungslos rückständigen puritanischen Gesellschaft dargestellt. Und es ist überhaupt eine Konstante in Boyles Werk, zu zeigen, daß jede neue Menschheitsidee bei ihrer Realisierung ihre Opfer fordert: Ob es um Religion oder Evolution, um Emanzipation oder Prohibition, um technische Innovation oder gesunde Ernährung, um Psychologie oder Ökologie geht - immer vergreift sich der Mensch in der Wahl seiner Mittel, immer hat er seine Ziele zu hoch gesteckt, immer stürzt er sich und andere in lebenslanges Unglück. In Riven Rock wird die Frage aufgeworfen, was die Psychologie als Geisteskrankheit erfaßt und was die Erziehung als abnormes Verhalten induziert. Boyle, selbst ein psychologisch glänzend versierter Autor, weil er seine Figuren von innen heraus entwickelt und für jede wichtige Figur eine eigene Perspektive gestaltet, beschreibt die stürmische Psychologisierung Amerikas als Fehlschlag und die Pathologisierung menschlicher Bedürfnisse als Absurdität.

"Riven Rock" ist, wie alle seine Romane, handlungsintensiv, spannend, abwechslungsreich, dynamisch, burlesk und sinnlich. Boyle nimmt seinen Leser an die Hand - läßt sich beim Arbeiten zuschauen: Er zeigt uns quasi "performativ", wie er seine Romane konstruiert, wie er Spannungsbögen baut, wie er die Handlung zuspitzt und in Vordergrund und Hintergrund zerlegt, wie er Überraschungsmomente plaziert und die Tempi wechselt. Er führt uns seine Mittel und Methoden - und bisweilen auch seine Quellen - vor, und so ist jeder seiner Romane wie eine Unterrichtsstunde in creative writing, ist Lehrbuch und angewandtes Wissen zugleich. Und Boyle kann sich diese Durchsichtigkeit und Klarheit auch leisten, weil er über Phantasie verfügt, über das Vermögen, uns von der Plausibilität und Wahrhaftigkeit seiner Konstruktionen zu überzeugen. Da ist etwa das Beispiel Edward O´Kanes, der zweiten männlichen Hauptfigur, Konterpart und Alter ego seines Brötchengebers. O´Kane ist der Oberpfleger Stanley McCormicks und urwüchsig potent - doch am Ende liest sich die Krankengeschichte des internierten Multimillionärs wie ein Fahrplan seiner eigenen Biographie. Auch für O´Kane ist Kalifornien Gefängnis und Endstation, auch seine Ehe scheitert, auch er beginnt, das Bein nachzuziehen - wenn auch aus anderen Gründen. Sein spiegelbildlicher Lebensplan wird subtil entworfen, genau wie der von Katherine Dexter McCormick, die - als Ehefrau und Mutter nicht gefragt - ihre ganze Energie in die Suffragettenbewegung steckt. So wird man von T. C. Boyles Roman bestens unterhalten, und hat zugleich das Gefühl, etwas zu lernen: Die Auswirkungen des Weltkrieges, die Spanische Grippe, die nicht nur in Europa 20 Millionen Menschen dahinrafft, sondern auch in Amerika grassiert, die Prohibition, der Börsensturz vom 25. Oktober 1929 und vieles mehr wird hier zu einem Zeitmosaik zusammengebaut.

Seit vielen Jahren schon ist Werner Richter der kongeniale Übersetzer des amerikanischen Erfolgsautors. Er trifft den Ton der tragikomischen Romane genau und überträgt sie ohne Substanzverlust ins Deutsche. Ganz selten tappt er daneben, etwa wenn er "new potatoes" mit "frischen Kartoffeln" übersetzt, gelegentlich auch fällt ihm nichts Gescheites ein ("urtümliche Ebenen" für "ancestral plains" etwa), aber dann wieder ist er noch besser als das Original: Brush "gab sich jovial und schmerbäuchig ("bigbellied") und lautstark wie immer". Der Erfolg T. C. Boyles bei seinen deutschen Lesern geht auf diese Übertragungen zurück - eine über die Jahre konstante und respektable Leistung des Übersetzers. Richters Wortschatz ist reich und muß es auch sein: Denn T. C. Boyle ist ständig auf kräftige Bilder und Vergleiche aus, je greller, je besser, und das ist etwas, was dem Leser auch auf die Nerven gehen kann, besonders dann, wenn der Übersetzer mit dem Original nicht schritthält und sich sprachlich wiederholen muß. Das ist hier nicht der Fall: Dank Richters Begabung sind die Figuren nicht immer nur "betrunken", sondern auch mal "angetütert" oder "beschikkert", dürfen die Affen nicht nur "vögeln", sondern auch "interagieren" - und natürlich stinken "wie eine Bootsladung voller Wasserleichen".

Titelbild

T. C. Boyle: Riven Rock.
Carl Hanser Verlag, München Wien 1998.
565 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-10: 3446194770

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