Sprachfetzen, Knotengedichte und Collagen

Astrid Winter widmet sich in ihrer Studie über die "Metamorphosen des Wortes" dem künstlerischen Werk Jirí Kolárs

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als im August 2002 der Künstler Jirí Kolár hochbetagt starb, betonte der tschechische Dichterpräsident Václav Havel, dass mit Kolár ein Teil jener tschechischen Kultur verloren gegangen ist, welche ihm und seinen Freunden in den schweren Jahren der Repressionen Zuversicht vermittelt hatte. Die verbotenen Collagen und Bilder sowie die offiziell nicht veröffentlichten Texte des Jirí Kolár gehörten zur Parallel-Kultur, in welcher auch Havels Essays und Theaterstücke zirkulierten. Dies betraf die Ära der von Gustáv Husák verordneten "Normalisierung", die sich im Anschluss an die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 zu etablieren begann und bis zum Ende des "real existierenden Sozialismus" im November 1989 vorherrschte.

In den 1960er-Jahren war die Herrschaft der regierenden kommunistischen Partei zwar ebenfalls unangefochten, es war aber jungen kritischen Stimmen im Bereich der Kultur und der Wissenschaft gelungen, sich Gehör zu verschaffen. Jirí Kolár gehörte damals schon zu den älteren Künstlern, die jüngere Talente von ihrer Lebenserfahrung profitieren ließen. Wer an Kolárs Stammtisch im Café Slavia Platz nehmen durfte, konnte einen ungefilterten Zugang zur Welt erleben. Diese Variante der "inneren Emigration" trotzte stalinistischer Kulturpolitik, Zensur und bürokratischer Borniertheit.

Astrid Winter hat es sich zur Aufgabe gemacht, den "Medienwechsel im Schaffen Jirí Kolárs" zu untersuchen. Kolár, der bereits in den 1940er-Jahren Gedichte veröffentlicht hatte, schrieb Gedichte, Prosa und poetisch-dokumentarische Tagebücher. Titel wie "Der Äsop von Vršovice" oder "Die Leber des Prometheus" gehören zum Besten, was in der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts geschrieben wurde.

Seine Textsammlungen scheiterten an der Zensur, deshalb konnte er in der CSSR zwischen 1949 und 1964 bis auf eine Ausnahme lediglich Kinderbücher veröffentlichen. Jirí Kolár griff in der Verlagerung seines Schaffens auf die bildende Kunst auf seine früheste Phase in den 1930er-Jahren zurück und entwickelte fortan ein umfassendes System von Collagen. Kolár verstand dies nicht als Bruch, sondern als eine erweiterte Form, Gedichte zu schreiben: "Ich sprach über die Art der Wahrnehmung - das heißt, daß ich Poesie nicht einfach weiterhin im geschriebenen Wort suchen konnte, sondern außerhalb des Wortes. Dies bedeutete aber, nach einer anderen lebendigen Sprache zu suchen".

Astrid Winter, die Jirí Kolár und seine Frau, die Künstlerin Belá Kolárová, noch persönlich kennenlernen durfte, widmet sich in ihrer Untersuchung in einem umfangreichen Analyse-Teil den spezifischen Feinheiten in "Kolárs Übergang von der verbalen zur visuellen Poesie". Es entstand ein monumentales Werk, das durch seine erstaunliche Kenntnis besticht.

Kolár entwickelte unter anderem über hundert neue künstlerische Verfahren wie etwa die "Rollage", die "Rapportage", die "Gefundene Collage" aber auch "Antianatomien" oder "Knotengedichte".

Die Collagen von Jirí Kolár vereinnahmen in ihren verwendeten Details so gut wie ausnahmslos Materialien der menschlichen Wirklichkeit, "sie reichen von Illustriertenfotos, Kunstreproduktionen, typographischen Probedrucken und Notenblättern, von fremden und eigenen gedruckten Texten über Sternenkarten, historische Kupferstiche und Spielkarten bis hin zu gefundenen Notizzetteln, Schulzeugnissen, Rechnungen, Schnüren, Steinen, Farbbändern und kleinen Gegenständen". Wer seine künstlerischen Ausdruckswelten dermaßen über akademisch gesetzte Maße zu überdehnen vermag, dem ist seine geradezu körperlich empfundene Lust am Bilden und Gestalten anzumerken. Ohne Zweifel entwickelt Jirí Kolár die kreatürliche Lebensfreude, den Vitalismus der tschechischen Poesie auf eine ganz unverwechselbar eigene Art und Weise weiter.

In den 1950er-Jahren war Kolár in seiner Heimat für neun Monate inhaftiert. Seine Lebensfreude blieb jedoch ungebrochen. Kolárs Kreativität sicherte ihm seine ureigenste Möglichkeit, auf die Unwirtlichkeit der Lebenswelt verändernd einzugreifen. Jirí Kolár bestand immer auf die Freiheit der Kunst von ideologischen Vorgaben, setzte aber gleichzeitig eine ethische Verantwortung des einzelnen Menschen voraus. Auch insofern verkörperte er europäische Lebensart im besten Sinne.

Mit diesem voluminösen Band liegt eine gewaltige Vorgabe in der Kolár-Forschung vor, die für sehr lange Zeit bestimmend sein wird. Wertvoll ist auch der literaturgeschichtliche Abriss im ersten Teil, der "Jirí Kolár und die tschechische experimentelle Poesie" im Kontext der 1950er- und 1960er-Jahre beschreibt. Hier gelingt es der Bohemistin Astrid Winter, sozusagen über Jirí Kolár hinaus eine Etappe der tschechischen Literaturgeschichte packend zu schildern.

Überhaupt beeindruckt Winters sicherer Umgang mit Quellenliteratur und ausgewerteten Dokumenten. Ein umfangreiches Verzeichnis an verwendeter Literatur wie auch ein ordentliches Personen- und Sachregister runden dieses überzeugende Ereignis in der bohemistischen Forschung ab.


Titelbild

Astrid Winter: Metamorphosen des Wortes. Der Medienwechsel im Schaffen Jirí Kolárs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2006.
780 Seiten, 96,00 EUR.
ISBN-10: 3892449724
ISBN-13: 9783892449720

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