Die Versuchung des Ästhetischen

Susanne und Christian Krepold beleuchten in dem von ihnen herausgegebenen Tagungsband "Schön und gut?" das intrikate Verhältnis von Ethik und Ästhetik in der Literatur

Von Sandra MarkewitzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandra Markewitz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Robert Musil bekannte in seinen Tagebüchern: "Ich habe von Jugend an das Ästhetische als Ethik betrachtet". Dieser Satz aus der Einführung des von Susanne und Christian Krepold herausgegebenen Tagungsbandes "Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur", steht leitmotivisch am Beginn verschlungener Wege der wissenschaftlichen Untersuchung eines konjunkturell drängenden Phänomens: Sind Ethik und Ästhetik eine Einheit wie von Ludwig Wittgenstein im "Tractatus logico-philosophicus" konstatiert (1921/22), ein Antizipationsverhältnis von Ästhetik zu Ethik in den letztlich religiös rettbaren Stadien Kierkegaards ("Entweder-Oder" (1834)) - oder theoretische Grundbausteine wie bei Paul Ricœur, dessen Narrativitätsbegriff ethische Implikationen notwendig einschließt? Der Titel des Buches gibt in seinem Fragecharakter zu, nicht alle Antworten zu haben. Die Beiträge reichen von der Rezeption der aristotelischen Tragödientheorie in der Goethezeit über die Ethik der Schrift in Primo Levis "Il sistema periodico" bis zu ethischen Implikationen des Erzählens bei Vladimir Nabokov, Danilo Kiš und anderen.

Insbesondere die Beiträge, die sich systematischen Fragestellungen widmen, geben ein hermeneutisches Instrumentarium an die Hand, mit dem die Untersuchung der ethisch-ästhetischen Themenrede sich auch vom Lesenden anstellen lässt. Dietmar Mieth etwa, der in Tübingen das Zentrum "Ethik in den Wissenschaften" aufbaute, fragt paradigmatisch nach der ethischen Seite des Erzählens, das "schon immer über Literatur hinaus" griff. Erzählen ist vornehmlich die diegetische Situierung in einem Handlungsraum, der durch diese Erzählungen geöffnet wird. Ästhetische Handlungen ließen die "Federführung ästhetischer Verantwortung deutlich erkennbar" werden. Der Begriff "Verantwortung" kommt nicht erst seit Hans Jonas' auf Generationengerechtigkeit abzielendem "Das Prinzip Verantwortung" (1979) mit schwerem Gewicht daher.

Kann Ethik vor der moralischen Schwere dieses Ausdrucks "als Hilfe für literaturwissenschaftliches Interpretieren" betrachtet werden? Interpretationen sind nach Mieth in einem Deutungsfeld situiert, das interessanterweise "Verantwortung" als Teil der Autonomie des Ästhetischen versteht. Sind aber ästhetische Handlungen nicht gerade solche, deren pragmatischer Handlungsanteil sich in der Schau des Schönen auflöst, einer Betrachtung antimoralistischer Formsprache, die vor allem ihren Darstellungsverhältnissen verpflichtet ist? Wenn "die Schichtung von Handlungsweisen" es "erlaubt [...], Handlungsweisen transparent zu machen", ist dieser Ausgangspunkt für kritische Bearbeitung von Texten einer, der in der pragmatischen Dimension wurzelt.

Gibt es aber eine deutungsstiftende Verantwortung jenseits des Fundaments pragmatischer Schichtung, in welches das "Erzählen" nach Mieth eingreift wie Adam Smiths ökonomisches Regulierungsinstrument invisible hand in den Markt? Der "Markt" scheint hier Umschlagplatz literarischer Deutungen zu sein, der in seiner Wirksamkeit nicht befragt wird - die Sehnsucht nach Relativierung des Marktes als Momentum der Geistesgeschichte scheint auf - aber Peter Sloterdijks rezente Invektiven gegen den Wittgenstein, der mit den "Schweinen" paktiere und die gewöhnliche Sprache ohne Not vergötze, sprechen eine andere Sprache: "Du mußt Dein Leben ändern", wohl besonders dann, wenn "Normalität" ihren Schrecken verschweigt. Wie es gewagt ist, in der Beschreibung des literarischen Feldes Marktmetaphern zu verwenden, ist zugleich folgende Aussage unbestritten: dass ästhetisches Erzählen oder Erzählen als ästhetisches Tun auf Wirkungen abzielt.

Intentionen können in der Tat "Werthorizonte sichern", zugleich jedoch die Idee des Werts in ästhetischen Hervorbringungen zertrümmern, was zur Ambivalenz der Intentionskategorie beiträgt. Irgendwann richtet sich die ästhetische Hervorbringung gegen ihre Einsetzung in einen Wirkzusammenhang - auch darin besteht die ethische Verunsicherung, zu der literarische Texte führen können. In jedem Fall weist die Erinnerung an die Diskrepanz zwischen erzählendem und moralischem Subjekt den Literaturraum als Spannungsraum aus: erzählendes und moralisches Subjekt kommen sich in die Quere. Das ist nicht weiter verwunderlich, rührt doch moralische Erfahrung als "Brücke zwischen Verstand und Gefühl" an die impliziten freundlichen Dichotomien, die den Phänomenen sagen möchten, wo sie sich aufzuhalten haben. Moralische Erfahrung vermisst die Räume, die schon vermessen sind, neu. Die Frage nach der Brückenfunktion von Literatur (kann sie Verstand und Gefühl verbinden?) kann zu Modellbildung führen, auch Modelle sind Brücken zwischen Diskursivität und Anschaulichkeit. "Modell heißt zudem das, was Vorstellungen komprimiert und konzentriert, ohne dabei in einem festen Begriff unterzukommen."

Der Kraftaufwand des Moralischen, das Erfahrung mithilfe seiner zeitabhängigen Kategorien zur Vernunftäußerung präzisieren möchte - kantisch werde Vernunft nicht begründet, sondern erfahren - verbindet komprimierende Absicht und Aufrechterhaltung des Ästhetischen. Dass Literatur eben die Erfahrung nocheinmal produziert, auf die sich die ursprüngliche Komprimierungsabsicht des Moralischen nach lebensweltlichem Muster bezieht, bringt die Ungewissheit wieder in die Texte zurück. Modelle sind so, kurzgesagt, interpretatorische Hilfen, die mit dem von außen aushelfen, was ein Text für sich produziert. Und dennoch nicht tautologisch. Modelle als "zitierbare Kurzformen eines relevanten Musters" lassen Ethik als Testfall der Literatur zu, nicht als ihren Zwang.

Sehr gelungen in seiner sprachlichen Differenziertheit und hermeneutischen Tiefe ist der Beitrag von Barbara Kuhn über Primo Levi. Das periodische System des Chemikers eröffnet den Zugang zu einer Lebensform, die als Geburtshelfer einer spezifischen Wahrnehmungsweise fungiert. "Il sistema periodico" verbürgt die Darstellbarkeit des Undarstellbaren. In der Verschmelzung von fiction und non-fiction hebt Levi eine wirkmächtige positivistische Trennung auf und wiederholt so auf der Darstellungsebene den von Kuhn benannten Vorrang des Interpretaments vor dem blanken Faktum (das es so blank nicht gibt): "Gerade aufgrund dieses nie abgeschlossenen Abwägens und Unterscheidens aber, aufgrund des immer aufgeschobenen Urteils ist der so verstandene Beruf des Chemikers als Sonderfall des Berufs, Mensch zu sein, eine besonders wagemutige Spielart." Wenn Primo Levi ein von ihm gefundenes Verfahren der Nickelgewinnung als Möglichkeit der Rache an seinen Peinigern imaginiert, bleibt er dabei nicht stehen: auch dieses Verfahren der Nickelgewinnung hätte "industriell nutzbar gemacht werden können, alles produzierte Nickel in die Panzer und Geschosse des faschistischen Italien und Hitlerdeutschland(s)" eingehen können. Dass Levi nicht richtet, sondern die Duplizität von Erinnerung und die allgegenwärtigen selbstschützenden Täuschungen im Erinnern im Blick behält, zählt zu den beeindruckendsten Seiten seines Werkes. Dennoch war er nicht, wie Jean Améry meinte, der "Verzeihende": "[...] ich habe niemandem unserer damaligen Feinde verziehen, und ich will auch ihren Nachahmern [...] nicht verzeihen, weil ich keine menschlichen Taten kenne, die eine Schuld auslöschen könnten."

Das unausgesprochene Herz der konventionellen Ethik, die Wiedergutmachung, ist hier nicht zu haben. Das nicht wiedergutgemachte, da nicht wiedergutzumachende Leben ist eines der Reflexionen auf jene Prozesse, die ein Weiterleben ermöglichen. Indem Levi, wie Kuhn hervorhebt, ein Monopol des Erinnerns nicht beansprucht, rückt die Sicht des Anderen in den Blick. Es ist nicht zuletzt diese Offenheit für fremde Sichtweisen auf die Katastrophe, die Primo Levi als ethischen Autor ausweist, ob sein Wissen um die Duplizität von Erinnerung notwendig als "ironisch" aufgefasst werden muss, ist eine andere Frage, die Ironiediagnose ist nicht zuletzt eine Zeiterscheinung.

Dass Ethik im Banne der manichäischen Trennung von gut und böse stehe, die Levi überwindet, macht sie eigentlich zur Beeinträchtigung ästhetischer Valeurs. Wie soll, wie kann eine ethische Herangehensweise an literarische Texte den Formcharakter dieser Texte zugunsten der ethischen Betrachtung ausblenden? Lässt sich die Dichotomie von Ethik und Ästhetik überhaupt in einem interpretierenden Bild verbinden? "Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen" verwirklicht "eine ästhetische Einheit in der Mannigfaltigkeit der Formen", wie Susanne Krepold in der Einführung mit Bezug auf eine Adorno-Referenz herausstellt. Diese wahrheitsästhetische Bindung des Kunstwerks an seine Fähigkeit, Vorschein des Besseren zu sein, erscheint als stilles Movens der Absicht, Literatur ethisch zu betrachten. Auch der explizit hässliche, auch moralisch hässliche Text ist natürlich ein Ästhetikum. Wie mit diesem zu verfahren ist? Als Beispiel provozierender Hässlichkeit bietet sich das Houellebecq-Universum an, mit dem viele kokettieren, sich beschweren - und weiterlesen. Die Drastik hält den Leser auf Kurs.

Dennoch möchte man einwenden, dass die Provokationsanordnung des Werks des französischen Autors allzu plakativ daherkommt. Lamento trifft misogynes Ressentiment und manche scharfe Beobachtung. Der Aufsatz von Till R. Kuhnle entwirft in interpretativer Genauigkeit die Umrisse einer civitas aesthetica, augustinische Themen aufnehmend, welche die Hingabe an das Werk mit wahrhaft ethischem Handeln verbindet.

Kuhnle: "Adornos civitas Dei ist eine civitas aesthetica!" Das Theologische blüht. Gegenwärtige Theorientwürfe haben es da schon schwerer; das "Dei" ist ihnen die Unmöglichkeit der Anbindung ihrer sinnlichen Erfahrungswelt an höhere Instanzen. Der amour propre regiert stattdessen, in der ästhetischen Selbstäußerung dagegen vermag das Selbst sich in seine Kulturleistung zu entäußern: "Die civitas aesthetica steht für ein Denken, das zwar noch immer mit seiner Verstrickung in das falsche Leben ringt, das aber in seiner Suche nach dem Standpunkt der Erlösung sich in jenes Licht begibt, in dem Wahrheit zu finden ist."

So beschreibt es der Autor für Adorno, so kennzeichnen es scheinbar subjektlose Erscheinungen von Präsenz als Bedeutungsgewissheit. Die Suche nach dem Licht, in dem das Gute sichtbar werde, dauert an: "[...] die säkularen lumières, ungetrübt von der perfiden Dialektik der Aufklärung". Moralistische Weltannäherung wird umfassend nachgezeichnet mit Rekurs auf Protagonisten von den alten Franzosen über Louis-Ferdinand Céline - "beschissener Mensch" und "großer Schriftsteller" (Péter Esterházy) - bis zu Frédéric Beigbeder (auch mit (Super)Markt-Metaphern).

Zu Recht bemerkt Kuhnle, dass es den philosophierenden Populisten, und dazu können auch literarische Autoren zählen, am höfisch geschulten esprit de finesse der großen Moralisten doch gebreche. Ihr unbestechlicher Witz lebte von der sozial indizierten Gleichförmigkeit der Motive. Sehr große Fußstapfen, kleine Schuhe. In einer Welt, die den Untergang dauernd aufschiebe, sei der Moralist unabkömmlich. Das unethische Leben lädt das ästhetische Werk mit Bedürfnis auf. Autorinnen und Autoren wissen das und empfinden es selten als Zumutung, öfter als Startpunkt, über ihr Werk nachzudenken. Auch diese produktionsästhetisch-poetologische Seite des Ethik-Ästhetik-Konnexes wird im Sammelband berücksichtigt.

Doren Wohllebens erhellende Überlegungen zu Poetik-Vorlesungen als Orten der Anerkennung fragen nach diesen als möglichen Modellen literarischer Ethik. Es ist eine ungewöhnliche Perspektive, institutionell verlangte Texte auf ihre ethischen Implikationen zu befragen: Ethik und Essay finden zusammen vor dem Publikum, das die Bücher der Vortragenden kennt.

Ingeborgs Bachmanns "lebendiges Urteil" artikuliert sich in der literarischen Versuchsform ebenso wie eine "Poetik des Beinahe oder des Fast" (Wohlleben). Dass der Essay es wie die Ethik "mit dem Approximativen halte", entspreche einer utopischen Ausrichtung. Nun hat gerade Wittgenstein, den Wohlleben mit einem Zitat aus dem Nachlass nennt (und wir rennen gegen die Grenzen unserer Sprache an, dies deutet auf etwas hin), das Unscharfe als bedeutungskonstitutiv angenommen, nicht aber das Utopische - seine Philosophie ist eine des hic et nunc konkreter sprachlicher Austauschprozesse. Der Essay als "tentatives Wagnis, Neues auszukundschaften" verdankt diesen Zug zum Ungedachten seiner regelhaften Regellosigkeit: Ethische Modelle können in einem Raum entstehen, der nicht allzu sehr definiert ist, gleichzeitig aber die Offenheit des Inhalts mit einer stabilisierenden Situation des Sprechens-vor-Publikum verbindet.

So erkundet die in Poetikvorlesungen durch die essayistische Form wahrscheinliche ethische Bewusstheit allmählich Reaktionsmöglichkeiten. Autor oder Autorin legen Rechenschaft ab über sich selbst und ihre "Werkstatt" und sehen sich, wie Wohlleben richtig herausstellt, mit der Janusköpfigkeit ihres Tuns konfrontiert: "Das poetologische Ich spricht nicht nur sich selbst aus, es verspricht auch gegenüber einem Anderen. Seine Perspektive ist janusköpfig; zurück in die Vergangenheit - sein bisheriges Schaffen - und voraus in die Zukunft - Projekte und Pläne, die es in Aussicht stellt."

Der Beitrag zeigt, wie eine ethische Existenz an die Fähigkeit des Versprechens - ein zutiefst ethischer Akt - gebunden bleibt. Die Verpflichtung gegenüber dem Anderen, das hier als erwartungsvolles Auditorium auftritt, garantiert den resonanten Boden einer verabredeten Selbstbefragung. Institution schafft Introspektion. Erzählend, so wird gezeigt, werden neue Anfänge gesetzt, die über den zeitabhängigen Anlass hinausweisen.

Schließlich sei noch der vorzügliche Aufsatz über den Paradigmenwechsel in der Rezeption der aristotelischen Tragödientheorie in der Goethezeit von Susanne und Christian Krepold erwähnt. In ansprechendem Ton, der Aktualität des Themas versichert (zuletzt bearbeitet auch von Christoph Menke und Karl Heinz Bohrer), wird das Untersuchungsfeld um manche Beobachtung bereichert. Rezeptionsverhältnisse wirken, wie deutlich wird, auf die Begriffe ein, die in ihnen rezipiert werden und lassen sie in neuem Licht erscheinen. Eine Wahrheit, hier eine des Aristoteles, verbreitet "Licht um sich her nach allen Seiten". So Goethe. Das begrifflich in der Forschung zu Kontroversen anregende Katharsisgeschehen ist bei ihm, gegen Lessings "moralischen Endzweck" (heutigen Diskursen ist dieses Wort kontaminiert) der Tragödie, "keine Wirkungskategorie mehr". In der Befreiung von der Wirkintention, einer systematisch unterstellten Überhöhung der geläufigen intentio auctoris, kommt die Tragödiendefinition zum Kunstwerk, kommt zu sich selbst.

Man merkt, dass hier keine reinen Zweckarbeiten entstanden sind, der ganze Band ist hermeneutisch auf der Höhe. Ethische Implikationen, die von außen an das Kunstwerk herangetragen und dann in ihm aufgefunden werden, vermögen es nicht zu zerstören, wenn das Ästhetikum seine präsentische Überzeugungskraft vor diesen Eingriffen wahrt. Zuletzt eben doch mit Goethes Zelter: "Aller Zweck der Kunst ist die Kunst an sich selber, so auch das Kunstwerk." Dieser Satz weist die Richtung. Moral wird dem Künstler sein Handwerk nicht verderben. Die Versuchung des Ästhetischen bleibt.


Titelbild

Susanne Krepold / Christian Krepold (Hg.): Schön und gut? Studien zu Ethik und Ästhetik in der Literatur.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2008.
232 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826037337

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