Unter Stalin ging es uns noch gut!

Zwei Bücher von Wolfgang Leonhard und Christina Jung beschäftigen sich mit dem politischen System des Stalinismus

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich hatte der 1921 in Wien geborene Wolfgang Leonhard nach "Meine Geschichte der DDR" (2007) kein weiteres Buch mehr schreiben wollen. Die "Anmerkungen zu Stalin" waren aber notwendig geworden, da Wolfgang Leonhard im heutigen Russland eine unreflektierte und von Verdrängung und Verzerrung der Vergangenheit geprägte Rehabilitation der Rolle Stalins beobachtete.

Leonhard macht kein Hehl daraus, dass er über den Trend dieser Vergangenheitsverharmlosung im heutigen Russland tief bestürzt ist. Bis weit in die Klasse der politischen Elite hinein wird versucht, die historische Rolle in einer verklärenden Weise darzustellen. Leonhard ist fast ein Zorn anzumerken, wenn er feststellt, dass diese Tendenz gerade jene trifft, die "sich nicht wehren können" - die Schüler!

Während unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin das Schweigen über Stalins Verbrechen gebrochen worden war, registriert Leonhard unter Wladimir Putin eine zunehmende Verharmlosung. Es geht Leonhard nicht darum, eine weitere Abrechnung mit dem "real existierenden Sozialismus" oder eine Aufdeckung der Folgen marxistischer Philosophie vorzulegen. Als Zeitzeuge hebt er hervor, wie unter Stalins Herrschaft die Demontage und Verdrängung marxistischer Ideale betrieben wurde. Und noch heute im hohen Alter ist Leonhard der erlebte Schrecken anzumerken, wenn in der Karl-Liebknecht-Schule für deutsche Emigrantenkinder in Moskau ein "falsches" Wort fiel - und am nächsten Tag der Lehrer spurlos verschwunden war.

In sieben Themenkomplexen beschreibt Leonhard anschaulich das Wesen und die Wirkung der stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion. Sein über die Jahrzehnte hinweg geschultes Darstellungsvermögen als Professor an der Universität Yale sowie seine unzähligen Beiträge, Berichte und Bücher kennzeichnet auch sein vielleicht letztes Buch, eine lesenswerte Darstellung über das Wesen des Stalinismus. Der Marxismus als eine Philosophie dialektischer Kritik des Bestehenden wurde durch ein brutales Machtsystem ersetzt, das den Einzelnen zu einem Schräubchen degradierte. Selbstständigkeit und Eigenverantwortung des Denken und Handelns wurden nachhaltig verdrängt.

Leonhard gelingt es, sowohl geschichtliche Hintergründe als auch seine eigene ungewöhnliche Biografie in diese Erinnerungen einzubinden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 war Wolfgang Leonhard mit seiner Mutter über Schweden letztlich in der Sowjetunion gelandet. Die Erinnerungen der überzeugten Kommunistin und Antifaschistin Susanne Leonhard "Gestohlenes Leben" über ihre Verschleppung in den sowjetischen GULag waren in den 1950er-Jahren bekannt geworden und dokumentierten zugleich ihre ungebrochene sozialistische Grundüberzeugung.

Auf Biografien wie die Susanne und Wolfgang Leonhards geht Christina Jung in ihrer Untersuchung ein. Unter dem Titel "Flucht in den Terror" erforscht sie das sowjetische Exil in Autobiografien deutscher Kommunisten. Dieser Abschnitt wurde bislang in der Exilforschung noch nicht eingehend behandelt, da er immer auch ideologischer Vereinnahmung unterworfen war. Christina Jung gebührt das Verdienst, erstmalig einen Überblick verschafft zu haben, jedoch zuweilen um den Preis verknappter Darstellungen in einzelnen Themenbereichen. Zu umfangreich sind manche Aspekte, um sie in einer einzigen Dissertation zusammenzufassen.

Jungs Studie besteht aus zwei Hauptteilen, die sich jeweils einer Reihe von Nebenaspekten zuwenden. Der erste Hauptteil "Erfahrungsliteratur im Kontext ihrer Produktionsbedingungen" untersucht veröffentlichte Berichte über Erlebnisse in der Sowjetunion im Kontext ihrer Produktionsbedingungen. Die sogenannte Renegatenliteratur entstand unter wechselnden und nicht immer widerspruchsfreien ideologischen Bedingungen. Nicht wenige Autoren beharrten in ihren Abrechnungen mit der Sowjetmacht auf ihrer sozialistischen Grundüberzeugung.

Es sind fünf äußerst aufschlussreiche Zeitkontexte, die Christina Jung hier erstmals in einer Gesamtschau erschließt. Der Bogen reicht von der Weimarer Republik, dem NS-Regime, der Bundesrepublik und der DDR bis hin zu einer Skizzierung jener Veröffentlichungen über erfahrene Erlebnisse in der UdSSR, die nach dem Zusammenbruch des "real existierenden Sozialismus" vorgelegt wurden.

Angesichts des nicht unerheblichen Umfangs der behandelten Zeithintergründe bleiben dabei Unschärfen nicht aus. Warnungen vor der sowjetischen Diktatur wurden nicht nur aus antikommunistischer oder antislawischer Hysterie gespeist. In der Weimarer Republik war Berlin zeitweilig zu einer Metropole russischer Emigranten geworden. Die Wortmeldungen exilierter oder zwangsausgewiesener russischer Schriftsteller und Philosophen wie Vladimir Nabokov, Simon Frank oder Nikolai Berdjajew, um bekanntere Namen zu nennen, nahmen zum Teil Analysen vorweg, auf die heute gerade in Kreisen russischer Intelligenz wieder zurückgegriffen wird.

Die strikten ideologischen Vorgaben, denen Erfahrungsliteratur zum Beispiel in der DDR ausgesetzt war, belegt Christina Jung an konkreten Beispielen. Da schmilzt die Erinnerung an 18 Jahre Lager und Verbannung bei Helmut Damerius auf vier Sätze zusammen, als er in der DDR 1977 in "Über zehn Meere zum Mittelpunkt der Welt" seine Erinnerungen an die Theatergruppe "Kolonne links" veröffentlichte. In einer unzensierten Veröffentlichung nach 1989 legt derselbe Autor die Erlebnisse seiner russischen Jahre auf 330 Seiten vor.

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Christina Jung "Aspekten des Exils in der Sowjetunion". Hier werden hochemotionale Berichte über die Ankunft in "das gelobte Land" - und erste Widersprüchen mit der Wirklichkeit des "Vaterlands aller Werktätigen" geschildert. Die kommunistischen Exilanten in der UdSSR waren vor allem zu Beginn der 1930er-Jahre mit der Hoffnung gekommen, zum einem dem Terror der Nazischergen in ihrer Heimat zu entkommen und zum anderen von Russland aus im antifaschistischen Kampf teilnehmen zu können. In so gut wie allen Ländern waren damals politische Aktivitäten von aufgenommenen Flüchtlingen nicht gestattet. Stalins Säuberungen gingen aber auch an den exilierten Kommunisten nicht vorüber: "Im März 1938 waren bereits 70 Prozent der KPD-Mitglieder in der Sowjetunion verhaftet".

Andererseits war Stalins Aufbau der Sowjetunion auf wirtschaftliche Beziehungen auch mit Nazideutschland angewiesen. Nach dem berüchtigten Ribbentrop-Molotow-Pakt kam es neben einer militärischen Zusammenarbeit auch zu gemeinsamen Aktionen der Sicherheitsdienste. An die "1000 Deutsche und Österreicher wurden nach mehrjähriger Lagerhaft im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes zwischen 1939 und 1941 an Deutschland ausgeliefert".

Christina Jung wertet Berichte über diese Jahre des Schreckens aus und stößt dabei auch in kritischen Autobiografien auf Lebenslügen oder Verdrängungen. Oft werden dabei stalinistische Praktiken erst ab jenem Moment wahrgenommen, als sie in das eigene Leben eingriffen. Das Argument des österreichischen Kommunisten Ernst Fischer - "Letztlich ging es gegen Hitler" - reicht Christina Jung als Legitimation für eigenes Fehlverhalten, Verrat und Denunziation unter Genossen nicht aus.

Nicht zuletzt im Alltag des russischen Exils finden sich in den Autobiografien Hinweise auf vorsichtiges Infragestellen der bislang vertretenen politischen Überzeugung. Es gab aber keine offene Diskussion und auch sich selbst gegenüber herrschten "Rückzug", "Verleugnung" oder "Rechtfertigung" vor. Jung zitiert den Zeitzeugen Wolfgang Leonhard, der festgestellt hatte, dass es unmöglich war, "sich richtig zu verhalten". Die Parteilinie konnte sich jederzeit ändern. So entwickelte sich ein Typus, der geradezu instinktiv die jeweils vorherrschenden Richtlinien verspürte und ohne jeden Skrupel umsetzte: "Das System förderte eine Art Mensch, die sich durch die Attribute gewissenlos, egoistisch und käuflich definieren ließe". In Fortführung der ideologischen Dichotomie Ausbeuter - Ausgebeutete, Bourgeoisie - Arbeiterklasse wird im Sowjetsystem die Aufteilung zwischen Volksfeind und Volk eingeführt. Noch heute finden sich in Russland Versuche, eine patriotische Ersatzideologie zu konstruieren, die sich aus einer zugespitzten Unterscheidung zwischen "den Unseren" und "den Anderen" speist.

Christina Jung hat sich einem Themenkomplex gewidmet, dessen Bearbeitung, vor allem unter Berücksichtigung der bislang noch nicht zugänglichen russischen Archive, noch manche Überraschung bergen wird. Die Themengebiete sind hierbei zeitlich eingrenzbar - die gewonnenen Erkenntnisse hingegen bisweilen zeitlos.


Titelbild

Christina Jung: Flucht in den Terror. Das sowjetische Exil in Autobiographien deutscher Kommunisten.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2008.
400 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783593387444

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wolfgang Leonhard: Anmerkungen zu Stalin.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2009.
190 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783871346354

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