Über den roten Teppich ins neue Leben

Eleonora Hummels Roman „Die Venus im Fenster“ schildert eine Suche nach der eigenen Identität und Herkunft

Von Renate SchauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Renate Schauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bahnhofsatmosphäre, wir warten gemeinsam mit Alina Schmidt auf die Ankunft ihrer Schwester. Der Zug aus Warschau hat Verspätung, die Szene ist zwar unwirtlich, gleichwohl lässt sich ihr Interessantes abgewinnen. Wir werden mitgenommen in kurzweilige Beobachtungen, Befindlichkeitsreflexionen und Rückblenden, die der Autorin sehr am Herzen liegen, ohne dass sie damit aufdringlich würde. Ja, erzählen will Eleonora Hummel, die für ihr Projekt „Die Venus im Fenster“ ein Arbeitsstipendium der Robert Bosch Stiftung erhielt.

Die gleiche Stiftung spendierte bereits für ihr Romandebüt „Die Fische von Berlin“ den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis. Die Fährte auch damals schon: Aussiedler-Schicksal von Russlanddeutschen. Mit der Verbindung zur „Venus“ setzt Eleonora Hummel diesem Thema einen träumerischen Effekt auf, der aber nicht sehr ins Gewicht fällt. Essentiell bleiben: Kasachstan und die Übersiedlung 1980 im Alter von 12 Jahren in die DDR. Der verheißungsvolle Westen – und sein entzauberndes Wesen.

Nach der Auflösung des sozialistischen Systems – beginnend 1989 – wird noch mal alles anders, und wie viel Biografisches die Kapitel tatsächlich enthalten, bleibt dabei unwichtig. Hauptsache, wir kriegen das in einer Familiengeschichte anschaulich bestätigt, was tagesaktuelle Medien immer wieder aufgreifen: Wanderungen gehören zur Menschheit wie leider auch die Vorurteile, die einzelnen Betroffenen gehörig zusetzen können.

Seit zehn Jahren hat die Ich-Erzählerin Alina ihre Schwester nicht gesehen, die jetzt samt Tochter mit dem verspäteten Zug ankommen soll. Vage Erwartungen lösen Erinnerungen aus, die nun nicht mehr in ein „Bankschließfach“ gezwängt werden können, wohin ja eigentlich eher Vermögenswerte gehören, neben denen Verdrängtes schlecht platziert wäre. An anderer Stelle ist von einem ,luftdicht verpackten Erinnerungspaket‘ die Rede, an dem Alina am liebsten nicht mehr rühren würde. Im Widerspruch dazu müssen wir jetzt mehr erfahren über ihre Hintergründe, ihr Wohl und Wehe: von der viel zu kurzen Ehe ihrer Großeltern, von der Ausreise im Zug mit dem roten Teppich, über den wenig erhellenden Abendkurs an der Kunstakademie bis hin zum Liebhaber Rudi, der keinen Anspruch auf Treue hat. Eine überzählige Zacke an einem Sowjetstern (gemalt in der 1. Klasse) hat vermutlich zur frühen Sehnsucht nach einem Fernrohr beziehungsweise zu gesteigertem Interesse an Himmelskörpern geführt – wie witzig sich doch manche Umstände verketten lassen.

Beim Zurechtfinden in den familiären Zusammenhängen hilft uns die Autorin mit guten und verlässlichen Orientierungen. Alles bleibt logisch und chronologisch nachvollziehbar – fast wie in einer akribisch dokumentierenden Biografie. Nur einige Monologe der noch immer schwäbelnden Oma Erika geraten zu lang; dem Lektorat sind jedoch nur einige kleine Schwächen durchgerutscht, alle insgesamt leicht zu verschmerzen.

Eleonora Hummel (Jahrgang 1970, lebt in Dresden) hält ihre Protagonisten trotz einiger „Ausreißer“ solide im Zaum. Das geschilderte Schicksal verträgt Widersprüchlichkeiten und einige Eskapaden, ohne dass Enttäuschungen und Deformierungen dramatische Zuspitzungen nach sich zögen. Die Figuren arrangieren sich und – das gehört zu Integrationswilligen wie das Amen in der Kirche – vermeiden es aufzufallen. Das berührt.

Gott sei Dank gelingen Hummel mehrmals Formulierungen, die einige Momente funkeln lassen, so dass sich das Gefühl einstellt, als Leser doch an etwas Besonderem, Einzigartigen teilzuhaben. Deshalb stört es nicht unbedingt, dass sich keine nachdenklich stimmende Transzendenz ergibt. Von ihrem feinen Humor könnte die Autorin gerne noch ausgiebiger Gebrauch machen.

Titelbild

Eleonora Hummel: Die Venus im Fenster. Roman.
Steidl Verlag, Göttingen 2009.
217 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865218780

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