Wie toll trieben es die alten Römer?

John R. Clarkes Bildband "Ars Erotica" räumt mit allerlei Sex-Vorurteilen gegenüber der Antike auf

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein rotes Licht: An der Ampel bedeutet es "Anhalten!". Im Cockpit "Achtung, Gefahr!" In der Seitengasse "Käufliche Liebe". Ein überdimensionaler Phallus oder Bilder von Menschen beim Sex, wie sie in Pompeji sehr häufig gefunden wurden, bedeuteen dementsprechend nicht unbedingt "Pornographie" oder "Dekadenz".

Es dauerte Jahrhunderte, bis Archäologen diese Lektion lernten. Bis dahin ließ man bei Ausgrabungen fast alles, was man als anstößig empfand, in Privatkabinetten und Tresoren verschwinden. Schlimmer noch, oft zerstörte man die angeblich obszönen Statuen, Fresken oder bemalten Keramikgefäße sofort.

Dass damit ein falsches Bild vor allem der römischen Antike entstand, betont der amerikanische Kunstgeschichtsprofessor John R. Clarke völlig zu Recht. Sein schöner Bildband "Ars Erotica. Sexualität und ihre Bilder im antiken Rom" belegt unermüdlich, wie unterschiedlich körperliche Liebe damals und heute bewertet wurde: "Vor allem war guter Sex in jeglicher Form für die Römer eine hochgeschätzte Gabe der Götter."

Hier und an anderen Stellen schießt Clarke allerdings über das Ziel hinaus, wenn er den freieren Umgang der römischen Antike mit dem Sex gegen unsere verklemmte Pseudofreizügigkeit ausspielt. Er selbst stellt schließlich mehrfach fest, dass damals einfach andere Tabus existierten.

Ein erigierter Penis schockierte niemanden, weil er fast in jedem Haus, an vielen Straßenecken, in Bäckereien und Restaurants zu sehen war: als fluchabwendendes und glücksverheißendes Symbol. Ähnlich normal waren Sexszenen unterschiedlichster Art, die ohne Rücksicht auf Kinder oder Frauen allgemein zu sehen waren. Ihre Rolle war es, wie Clarke feststellt, zum Lachen zu reizen, sich seine Garderobenabteilung im Bad zu merken oder eine gesellschaftliche Stellung zu bekräftigen. Homosexualität und Knabenliebe störten nicht. Allerdings nur, solange die sozialen Regeln eingehalten wurden. Die beruhten auf dem Rang und der geschlechtlichen Rolle. So sollte der Mund eines hochgestellten Römers oder einer angesehenen Römerin "rein" bleiben, wohingegen der Oralsex eines Sklaven oder einer Sklavin niemanden interessierte.

Ohne die großformatigen Fotos der erotischen Darstellungen wäre dieser Band natürlich nur die Hälfte wert. Vereinzelt sprechen sie sogar eine deutlichere Sprache als Clarke, der manchmal unnötig spekuliert oder ungenau beschreibt. Ein Bild macht eben sofort klar, was es heißt, dass damals ein kleiner Penis als schön galt, der Protzphallus hingegen den bösen Blick und Dämonen abwehren sollte. An gefährlichen Kreuzungen Pompejis findet man deshalb Phalli im Straßenpflaster.

Geheimnisvoll und schön zugleich bleiben die Nackten der dionysischen Initiationsriten, wie sie in der "Villa der Mysterien" in Pompeji zu sehen sind. Die Anhängerinnen dieses Kults bewahrten ihr Wissen für sich. Fast noch mehr berühren die Darstellungen auf Alltagsgegenständen wie Spiegeln oder Trinkgefäßen. Hier ging es definitiv nicht ums Aufgeilen. Um was genau, ist oft jedoch fraglich.

Antike Autoren wie Martial, Sueton oder Catull klären in anderen Fällen über sexuelle Gewohnheiten und Tabus auf. Sie zitiert Clarke etwas selten. Ein wenig überraschend, dass er sich mit den Praktiken der Sodomie oder des Fetischismus nicht beschäftigt, aber vielleicht gibt es dazu noch weniger Bildzeugnisse, welche die Ignoranz der Archäologen überstanden haben.


Titelbild

John Clarke: Ars Erotica. Sexualität und ihre Bilder im antiken Rom.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jörg Fündling.
Primus Verlag, Darmstadt 2009.
168 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783896783974

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