Die Geburt des modernen Romans aus dem Geist der "fait divers"

Sara Danius und Hanns Zischler besuchen James Joyce in Pola

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der exzentrische Sprachphilosoph Eugen Rosenstock-Huessy schrieb über den "Ulysses" von James Joyce, in diesem Buch würde alle menschliche Sprache der letzten tausend Jahre, von den Dies irae bis zur Heiligen Messe und dem neuesten Slangausdruck, in kleine Stücke geschlagen. In dieser antimodernen Polemik gegen das Jahrhundertbuch steckt, vermutlich ungewollt, auch der Hinweis auf ein zentrales Konstruktionselement des Romans, dem jetzt in einem originellen Essay nachgegangen wurde. Gemeint sind die kleinen Textgattungen wie Werbeslogans, Schlagzeilen oder eben die "faits divers", die "Vermischten Nachrichten", die als Fülltexte in Tageszeitungen bis heute weite Verbreitung finden. Einem emphatischen Begriff von menschlicher Sprache gegenüber mögen diese als Fetzen erscheinen, jedenfalls kann deren Bedeutung für den Roman wohl kaum unterschätzt werden. Während Rosenstock-Huessy allerdings dem Autor vorwirft, er habe die menschliche Sprache zu Bruchstücken zertrümmert, verhält es sich wohl eher umgekehrt: Nicht zertrümmert hat Joyce, sondern Sprachfetzen zusammengefügt, im "cut & paste"-Verfahren.

Der Schauspieler und Kinohistoriker Hanns Zischler, der bereits vor über einem Jahrzehnt mit seinem "Kafka geht ins Kino" (1996) auch als Kulturhistoriker und Archäologe der modernen Literatur Aufsehen erregte, hat sich jetzt zusammen mit der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius die Genese des "Ulysses" von James Joyce vorgenommen. Mit einem Zitat von Guillaume Apollinaire, das Zischler in "Kafka geht ins Kino" einem Kapitel voranstellte, lässt sich das gemeinsame Interesse beider Veröffentlichungen skizzieren: "Du liest die Prospekte Kataloge Plakate die lauthals singen / Das ist die Poesie von heut morgen und für die Prosa sind die Zeitungen da". Die schon vor 1900 rapide alle Bereiche der modernen Lebenswelt erfassende Warendistribution und ihre Anpreisung auf unterschiedlichen Werbeträgern sieht Apollinaire zusammen mit der Zeitung regelrecht als Ablösung der traditionellen Literaturfelder Poesie und Prosa an. Zischler untersucht das hierin benannte Verhältnis von Literatur und technischer Moderne, das sich als eines von intensiven Wechselwirkungen darstellt. Schon in seinem Kafka-Buch geht es daher um eine Rekonstruktion der materialen Veränderungen in der Moderne, auf die die Autoren in ihrer Literatur reagiert haben.

Nur fünfeinhalb Monate hat James Joyce ab Ende Oktober 1904 als Lehrer der Berlitz-School in der verschlafenen Stadt Pola, dem heutigen Pula, in Istrien verbracht, bevor er mit seiner Verlobten Nora Barnacle nach Triest umzog. Er besuchte Veranstaltungen des Bioskop Elettrico, das der Schausteller Carl Lifka betrieb, bis es während seines Aufenthalts in der Stadt ausbrannte, las das "Giornaletto di Pola" und führte ein Notizbuch, dessen knappe ästhetische Reflexionen zum überwiegenden Teil in seinen ersten Roman "Ein Porträt des Künstlers als junger Mann" (1916) eingeflossen sind.

In wenigen dürren Sätzen lässt sich so festhalten, was Danius und Zischler für ihren dichten kulturgeschichtlichen Essay als Ausgangsmaterial vorlag: eine frühe biografische Situation eines der bedeutendsten Autoren der literarischen Moderne. Um eine biografische Rekonstruktion aber ist es ihnen nicht zu tun. Statt dessen bilden der junge noch unbekannte Autor, das "gottverlassene[] Nest auf der istrischen Halbinsel" und die "fait divers" die Koordinaten einer Versuchsanordnung, mit deren Hilfe die beiden Autoren über die Entstehung der literarischen Moderne nachdenken. Schon in der Einleitung wird die Hoffnung geäußert, mit ihrer Untersuchung der Schnittmengen aus den drei gesetzten Elementen "das Wesen des modernen Romans" besser verstehen zu können. Was auf den ersten Blick ein bisschen nach altmodischer Literaturwissenschaft aussieht, die glaubt, hinter der Textgestalt noch eine Substanz entdecken zu können, offenbart sich einer nachvollziehenden Lektüre dann tatsächlich als interessante Recherche, über deren vielfältige Funde sich der Leser immer wieder freuen kann. Die jahrelange Zusammenarbeit zwischen der schwedischen Literaturwissenschaftlerin Sara Danius, einer Spezialistin für Gustave Flaubert und Marcel Proust, und Hanns Zischler stellt dabei einen erfreulichen Glücksfall sich ideal ergänzender Zusammenarbeit dar. Wie sich seinerzeit die beiden US-amerikanischen Eisenbahngesellschaften von zwei Seiten näherten, schrieben die beiden Autoren auf Englisch und auf Deutsch auf ihr "Ereignis" zu. Einleuchtend erscheint, wie sich den Beiden im wiederholten "cross reading" der Zeitungsseiten des "Giornaletto di Pola" irgendwann die Bedeutung der "fait divers" für den Roman der Moderne als zentrales Motiv herausschält.

In vier Kapiteln, von denen das erste und das dritte von Zischler stammen, entfalten die Autoren ihre These von der zentralen Bedeutung der "fait divers" für den Roman der Moderne - womit vor allem der "Ulysses" gemeint ist. Am Anfang steht Joyces Ankunft in Pola, die von der Berlitz-School im "Giornaletto" annociert worden war und somit eine materiale Spur darstellt, die hier freigelegt wurde. Neben der Ankündigung des künftigen Schriftstellers als eines neuen Dozenten für Englisch finden sich in der Provinzzeitung nur wenige Wochen danach seitenweise Nachrichten über Carl Lifkas ambulantes Kino: am 20. November 1904 eröffnete dieser in Pola seine letzte Vorführungsserie in einem beleuchteten Zelt für 450 Personen. Eine der pointierten Thesen Zischlers verbindet und parallelisiert die Ausbreitung der "Weltsprache" Englisch durch die Berlitz-School mit der ebenfalls universellen Sprache der seriellen Bilder: dem Kino.

Auch zwischen der Erzählökonomie der "faits divers", die das von ihnen erzählte außergewöhnliche, häufig katastrophale Ereignis nur äußerst verdichtet präsentieren, was ohne Auslassung und Konzentration gar nicht möglich wäre, zieht er eine Parallele zum frühen Kino der Attraktionen und Sensationen, das ein Schausteller wie Lifka anbot: hier wie da beherrschte eine "Ökonomie der Auslassung, der elliptischen Schürzung" die Darstellung. Schließlich kann noch eine plausible Verbindung zum japanisch-russischen Krieg hergestellt werden, über den das "Giornaletto" ebenso berichtete wie er in den Wochenschaubildern in Lifkas Kinozelt präsentiert wurde. Die Rede vom "Sibirien an der Adria", die in einem Brief von Joyce an seine Tante Josephine in Dublin ebenso anzutreffen ist wie in einer Erinnerung Vladimir Nabokovs, die im Herbst 1904 unweit von Pola entstand, bildet ein weiteres Steinchen in Zischlers Mosaik. So kann er resümierend feststellen, der sibirische Kriegsschauplatz sei für Joyce gleich dreifach gegenwärtig gewesen: in der Presse, im Kino und obendrein im Hafen von Pola, wo nach Joyces Zählung 37 Kriegsschiffe lagen.

Was Zischler im ersten Kapitel als "faits divers" und materialen Hintergrund des Joyce'schen Aufenthalts in Pola ausbreitet, wird von Danius im zweiten Kapitel mit dem "Ulysses" in direkte Beziehung gesetzt, dessen Handlung bekanntlich an einem einzigen Tag in Dublin spielt: am 16. Juni 1904. Durch die zeitliche Nähe zum Pola-Aufenthalt ergibt sich ein wichtiges Argument, warum der Reflexion dieses Zeitabschnitts in der Biografie von Joyce für das Verständnis seiner Literatur mehr Bedeutung zukommt als bisher in der Forschung herausgestellt wurde. Insgesamt gelingt es den beiden Autoren in ihrem anregenden Essay in einer wunderschön gestalteten Aufmachung mit vielerlei abgebildeten Materialien eine Reihe frappierender Beobachtungen anzustellen. Dass sich dabei die Faszination an der von Roland Barthes seinerzeit nobilitierten Gattung der "fait divers" als genuin literarischen Artefakten, die sich aus alten Erzähltraditionen ebenso herleiten wie sie als Erbteil der antiken Rhetorik gelten können, immer wieder Bahn bricht, lässt die Lektüre des Essays obendrein zum unterhaltsamen Vergnügen werden. Dafür kann gerne in Kauf genommen werden, dass sich die große These von der Entstehung des modernen Romans aus dem Geiste der "fait divers" vielleicht gar nicht halten lässt. Im Blick auf den "Ulysses" von Joyce spricht jedoch schon mal einiges dafür.