Ein bisschen Kanon ist immer

Im von Arnulf Knafl und Wendelin Schmidt-Dengler herausgegebenen Band "Unter Kanonverdacht" diskutieren ehemalige Werfel-Stipendiaten über die Hauptwerke der österreichischen Literatur

Von Verena RongeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Verena Ronge

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hast du einen Kanon, dann bist du wer. So oder so ähnlich könnte das Motto all derjenigen lauten, die sich unter Berufung auf die kultur- und identitätsstiftende Funktion des Kanons um die Anerkennung einer eigenständigen österreichischen Literatur bemühen. Diese Eigenständigkeit ist nämlich keineswegs selbstverständlich. Während die Kanon-Debatte in Deutschland vor allem um den Sinn und Unsinn beziehungsweise die Vor- und Nachteile der Kanonbildung kreist und sich mit der Frage beschäftigt, wer in den erlauchten Zirkel der kanonisierten Autoren aufgenommen wird, stellt sich die Situation im benachbarten Österreich anders dar.

So konstatiert Clemens Ruthner in dem ebenfalls im Praesens Verlag erschienenen Sammelband "Der Kanon. Perspektiven, Erweiterungen, Revisionen" unter Berufung auf den kürzlich verstorbenen Mitherausgeber des vorliegenden Bandes, Wendelin Schmidt-Dengler, dass "[i]m Zuge der andauernden Diskussion um die ,nationale Identität' in der Zweiten Österreichischen Republik [...] auch das Bewußtsein einer eigenständigen ,österreichischen' Literatur immer stärker" wird. Gleichzeitig partizipiert Österreich immer noch wie selbstverständlich an einem transnationalen deutschsprachigen Kanon, was dazu führt, dass sich österreichische Autoren vor allem durch ihr Verhältnis zu deutschen Autoren definieren.

Um dieses Defizit auszugleichen und die postulierte kulturelle Identität zu stärken, ist ein Blick von außen hilfreich. Genau diesen Perspektivenwechsel nehmen die Herausgeber vor. Sie versammeln die Beiträge ehemaliger Stipendiaten der Werfel-Stiftung, die sich im Mai 2008 auf einer Tagung mit den Hauptwerken der österreichischen Literatur aus Sicht der internationalen Literaturwissenschaft beschäftigten. Dabei stand folgende Frage im Mittelpunkt: Wer wird im internationalen Ausland warum und wie rezipiert?

Die erste Teilfrage ist schnell beantwortet. Hier finden sich die üblichen Verdächtigen: Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek, Peter Handke und Hugo von Hofmannsthal nehmen mit jeweils zwei Besprechungen die Spitzenposition ein, gefolgt von Robert Musil, dem ein Beitrag gewidmet ist. Interessanter ist die Frage nach den Gründen der verstärkten Rezeption eines Autors in einem bestimmten Land: Ermöglicht der literarische Stoff Anbindungen an die politische Lage im "Rezeptionsland"? Orientiert sich die Beschäftigung mit österreichischer Literatur im Ausland an internationalen Rezeptionsströmungen? Oder verläuft sie letztendlich zufällig, abhängig vom Erscheinen der Werke in Übersetzungen?

Mit dem Aspekt der Übertragbarkeit eines literarischen Textes auf die politische Situation im eigenen Land - in diesem Fall Bulgarien - beschäftigt sich auch Mladen Vlashki in seinem Beitrag zu Hugo von Hofmannsthal. Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die vom bulgarischen Avantgardisten Geo Milev inszenierte Aufführung des Stücks "Elektra" am bulgarischen Volkstheater. Laut Vlashki legt Milev dabei einige Aspekte des Stücks wie zum Beispiel die Nähe von Hofmannsthals "Elektra" zu William Shakespeares "Hamlet" frei, die von der Hofmannsthal-Forschung "wenn nicht gar vergessen, so doch unterschätzt" scheint. Zudem kommt Vlashki zu dem Ergebnis, dass "die Grausamkeit, die dem österreichischen Dichter durch den antiken mythologischen Stoff auszudrücken gelungen ist, [...] in einer absoluten Übereinstimmung mit der nationalen Erschütterung" steht.

Während Vlashki versucht, die Rezeption Hofmannsthals an die konkrete politisch-historische Situation zu koppeln und damit die literaturexternen Kanonisierungsprozesse zu beleuchten, gelingt dies nicht in allen Aufsätzen. So konstatiert Gennady Vassilyev, dass die russische Literaturwissenschaft bei ihrer Beschäftigung mit Hofmannsthal die "Aspekte der Poetik und der Weltanschauung" in den Vordergrund rückt. Die weitaus interessantere Frage, warum gerade diese Aspekte betont werden, während andere keinen Niederschlag finden, bleibt leider unbeantwortet. So endet sein Aufsatz mit der Bemerkung: "Bei der Analyse der Werke von Hugo von Hofmannsthal löschen die russischen Forscher manchmal die künstlerischen Konventionen aus, was in der Tradition der sowjetischen Literaturwissenschaft tief verwurzelt ist." Gerade diese sowjetische Literaturwissenschaft und ihre Wurzeln hätten einer näheren Erläuterung bedurft, um mögliche Gründe für die Rezeption Hofmannsthals in Russland zu finden.

Die folgenden Beiträge zu Bernhard und Jelinek ermöglichen Rückschlüsse auf den Einfluss der internationalen Rezeptionsströmungen auf die Kanonbildung. Hier zeigt sich, dass der nationale Umgang mit den kanonisierten Literaten anhand ebenfalls kanonisierter, internationaler Interpretationslinien und -vorgaben verläuft. So stehen bei der Auseinandersetzung mit den Romanen Jelineks gender- und ideologiekritische Aspekte im Mittepunkt, während sich bei Bernhard die Fragen nach der Erzählperspektive sowie der Fiktionalisierung der Autobiografie stellen. So sieht sich Tymofiy Havryliv nach eigenen Angaben "gezwungen", die Autobiografie Bernhards "in einen Antibildungsroman umzudefinieren, in dessen Zentrum die Entwicklung des Ich als eine Art Ich-Werdung steht". Havryliv suggeriert damit die Vorstellung einer neuen These, obwohl er auf den kanonisierten Österreich-Spezialisten Manfred Mittermayer rekurriert, der sich bereits 1988 in seiner Arbeit "Ich werden. Versuch einer Thomas-Bernhard-Lektüre" mit eben dieser These beschäftigte.

Damit lassen sich zwei Erkenntnisse festhalten: Zum einen erbringt der Sammelband den Nachweis, dass es sowohl einen Kanon österreichischer Literatur als auch einen kanonisierten Zugriff auf eben diesen gibt. Zum anderen fördert der Außenblick auf Österreichs Literaturlandschaft einige Erkenntnisse zutage, die abseits dieser gängigen Rezeptionswege liegen. Ein Blick über den eigenen Tellerrand ist somit immer lohnenswert. Auch wenn er an einigen Stellen noch etwas schärfer sein könnte.


Titelbild

Arnulf Knafl / Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Unter Kanonverdacht. Beispielhaftes zur österreichischen Literatur im 20. Jahrhundert.
Praesens Verlag, Wien 2009.
154 Seiten, 27,20 EUR.
ISBN-13: 9783706905442

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