Und es ist doch die Politik

Ein innovativer Ansatz führt in Inka Zahns Studie "Reise als Begegnung mit dem Anderen" über französische Moskauberichte der Zwischenkriegszeit zu altbekannten Ergebnissen

Von Simon HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beginnend mit dem bolschewistischen coup d'état im Spätherbst 1917 setzt in Westeuropa eine rege Diskussion über den Charakter des neuen Russland ein. Die Bewertungen fallen unterschiedlich, häufig sogar konträr aus. Den einen gilt das bolschewistische Experiment als ein in russischen Traditionen verhaftetes Programm, das das industriell rückständige Land in die Moderne überführen soll. Andere sehen in der Oktoberrevolution und der anschließenden gesellschaftlichen Umstrukturierung hingegen ein Modell zur Gestaltung der eigenen Zukunft. Die Sowjetunion fordert jedenfalls zur Stellungnahme und Positionierung auf. Ihrer Faszination kann sich kein Zeitgenosse entziehen. Eine vergleichbare Wirkung übt zeitgleich nur noch Amerika mit seinen zukunftsweisenden Städten und technischen Errungenschaften aus.

Besonderes Interesse zieht die bolschewistische Kapitale Moskau auf sich, die im Zentrum von Inka Zahns Studie steht. An ihr, so das verbreitete Urteil westlicher Besucher, könnten alle zentralen Entwicklungstendenzen im neuen Russland analysiert werden. Sie wird als eine Sowjetunion en miniature bewertet. Die Auswahl der Orte im Titel von Claude Blanchards Reisereportage "Du Kremlin au Vatican. L'Europe en avion" (1928) verweist auf die neue Stellung Moskaus. In Scharen pilgern westliche Reisende in das rote Rom mit seinem roten Petersdom, dem Kreml. Ein Prototyp des typischen Moskaubesuchers existiert aber nicht. Zu unterschiedlich sind die politischen Orientierungen, sozialen und nationalen Herkünfte und nicht zuletzt die Urteile über die sowjetische Realität. Gerade diese Divergenz in den Meinungen über gleiche Orte, Zustände und Verhältnisse hat seit den 1970er-Jahren zur Ausbildung einer umfangreichen Forschungsliteratur zu Sowjetunionberichten der Zwischenkriegszeit geführt. Sie konzentriert sich vorwiegend auf die Erörterung wahrnehmungs- und urteilsbestimmender Faktoren. Trotz der Vielzahl an Studien, wie sie in Frankreich beispielsweise von Fred Kupfermann und Rachel Mazuy, in Deutschland von Erhard Schütz und Bernhard Furler oder in Amerika von Sylvia Margulies und Paul Hollander veröffentlicht wurden, ist das Erforschungspotential noch lange nicht ausgeschöpft. Dies rechtfertigt Inka Zahns Arbeit.

Ihre Untersuchung französischer Reiseberichte basiert auf der zutreffenden Beobachtung, dass Sowjetunionreisen und ihre schriftliche Fixierung bis heute überwiegend als "politisch-ideologische Phänomene" bewertet worden sind. Die Positionierung gegenüber der Sowjetunion, so die vorherrschende Meinung, lasse sich primär "auf ideologische[] Parteinahmen" zurückführen. Wegen dieses eingeschränkten Analysehorizonts tendierten die meisten Wissenschaftler dazu, das "Schreiben[] über das revolutionäre Moskau als ein[en] lediglich Stereotypen vermittelnde[n] und Schwarz-Weiß-Malerei betreibende[n] Diskurs" darzustellen.

Inka Zahn geht es in ihrer Untersuchung französischer Moskauberichte nun um den Nachweis, dass die zeitgenössische Sowjetunionliteratur sehr viel differenzierter, mithin auch komplexer ist als bisher angenommen. Neben dem "polarisierten Diskurs über das revolutionäre Moskau", das ihre Ausgangsthese, gibt "es durchaus auch ernsthafte Auseinandersetzungen mit dem Anderen". Diese Position Zahns verweist auf die kulturwissenschaftliche Fundierung ihrer Arbeit. Anhand historischer Exempel, hier Moskauberichten der Zwischenkriegszeit, möchte sie grundlegende Bedingungen und Faktoren der Wahrnehmung anderer oder zumindest als anders bewerteter Kulturen herausarbeiten. Von diesem Untersuchungsansatz verspricht sie sich, Hinweise auf mögliche Lösungsstrategien im Umgang mit aktuellen innereuropäischen Kulturkonflikten, insbesondere dem spannungsgeladenen Verhältnis zwischen dem heutigen Russland und Westeuropa, zu erhalten.

Beeinflusst durch Konzepte von Homi Bhabha, Claude Lévi-Strauss, Edward Said und Karl Schlögel stellt Zahn in der Einleitung Leitkategorien vor, die ihr einen komplexen Zugriff auf zeitgenössische Moskauberichte ermöglichen sollen. Besondere Bedeutung lässt sie der Transgression, Alterität, Hybridität und Literarizität zukommen. Durch die Beachtung der genannten Untersuchungsschwerpunkte möchte sich Zahn vor voreiligen Interpretationen schützen. In ihrer Kombination zielen sie darauf ab, das Potential der Reiseliteratur für möglichst vorurteilsfreie, respektvolle Auseinandersetzungen mit verschiedenen Kulturen aufzuzeigen. Eine vorbildliche Begegnung mit anderen Kulturen, so die Überzeugung Zahns, müsse sowohl vom Respekt gegenüber ihren Eigenarten als auch vom Bewusstsein für Gemeinsamkeiten geprägt sein. In den untersuchten Reiseberichten lässt sich jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen eine derartige Einstellung nachweisen.

Um die Positionierungen und meinungsbildenden Faktoren der französischen Moskaufahrer darzustellen, wählt Zahn trotz ihres kulturwissenschaftlichen Überbaus einen recht konventionellen Zugriff. Sie verweist auf die lange Tradition französischer Russlandliteratur, arbeitet die beliebtesten Besichtigungsorte in Moskau heraus, erörtert die Frage, ob Reiseberichte faktografisch oder fiktional sind, und stellt mögliche Funktionen des Reisens vor.

Ihre Ergebnisse überraschen nicht. Sie decken sich weitestgehend mit bisherigen Forschungspositionen. Stellenweise gelingt es Zahn aber, bekannte Ergebnisse zu präzisieren. Dies gilt insbesondere für die Bestimmung des mit Moskau assoziierten Zeithorizontes. Zahn bestätigt zwar Walter Fähnders' These, dass das zeitgenössische Moskau überwiegend mit Zukunft konnotiert wird. Gleichzeitig kann sie aber nachweisen, dass die Fahrt nach Sowjetrussland auch in die Vergangenheit führen kann. Moskau wird von zahlreichen Reisenden als hybride Stadt wahrgenommen, in der nicht nur avantgardistische Neubauten, sondern weiterhin auch traditionelle Märkte und Holzhäuser existieren.

Am interessantesten ist Zahns Arbeit dort, wo in ihr auf Spezifika französischer Moskauberichte eingegangen wird. Anders als die deutschen Besucher besitzen die französischen Moskaureisenden in der eigenen Nationalgeschichte eine Vergleichsgröße, an der sie die Oktoberrevolution messen können. "Die Französische Revolution", resümiert Zahn, "ist als Wahrnehmungs- und Darstellungsparameter in französischen Moskauberichten der Zwischenkriegszeit allgegenwärtig". Der Verweis auf das eigene revolutionäre Erbe kann auf zwei unterschiedliche Weisen erfolgen. Entweder wird die Oktoberrevolution als legitime Nachfolgerin und Weiterentwicklung der Französischen Revolution bewertet oder als gescheiterte Kopie ohne vergleichbare Erfolge. Das Urteil ist von der jeweiligen politischen Positionierung abhängig. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Bewertung des roten Terrors. Die französische Linke legitimiert ihn durch den "Hinweis auf die Terrorphase unter Robespierre" als notwendige Maßnahme zur Etablierung einer neuen Sozialordnung. Den französischen Antikommunisten gilt er hingegen entweder als Fortsetzung von Gewaltexzessen der Zarenzeit oder als Beweis für das destruktive Potential von Revolutionen in ihren thermidorischen Spätphasen.

Zahns Exkurs über die verschiedenen Instrumentalisierungsformen der französischen Revolutionstradition verweist auf einen zentralen Makel ihrer Arbeit. Die Komplexität der Wahrnehmungs- und Urteilsformen wird zwar in der Einleitung behauptet, in der Analyse aber nicht bewiesen. Immer wieder muss Zahn eingestehen, dass die Bewertung der sowjetischen Realität letztendlich doch politisch-ideologisch motiviert ist. Besonders deutlich wird dies im umfangreichsten Kapitel der Arbeit, das den Titel "Die Wahrnehmung der sowjetischen Kultur als bedeutender Teil des revolutionären Anderen" trägt. An dessen Ende resümiert Zahn, dass sich "die Darstellung der sowjetischen Kultur [...] in einem Großteil der Reiseberichte als stark abhängig von der politischen Einstellung der Autoren" zeigt.

Aufgrund dieser Aussage ist es wenig überzeugend, wenn wenige Sätze später behauptet wird, dass die "Urteile der Reisenden nicht etwa direkt auf Eindrücken (und Vorurteilen) zum politischen System der Sowjetunion basieren". Es ist zwar plausibel, von einer Beeinflussung des individuellen Sowjetunionbildes durch das kulturelle Leben und die gemachten Alltagserfahrungen auszugehen. Gleichzeitig muss jedoch ihre geringe Wirkung konstatiert werden.

Selbst der Blick von Reisenden, die gängige Stereotype hinterfragen und wie Léon Moussinac, das Ehepaar Bloch oder Romain Rolland den persönlichen Kontakt zu Sowjetbürgern suchen, ist "vor allem geprägt [...] durch ihre politische Einstellung". Somit bildet auch bei Zahn André Gides "Retour de l'U.R.S.S." (1936) das einzige Beispiel, in dem ein anfänglicher Sympathisant des Sowjetregimes zu einem anderen Urteil über die sowjetische Realität kommt, als seine politische Einstellung vermuten lässt. Der Verweis auf Gides Nonkonformismus ändert aber nichts am grundlegenden Ergebnis von Zahns Arbeit. In ihr wird weitestgehend die vorherrschende Forschungsmeinung bestätigt, die Beurteilung der sowjetischen Realität sei primär von der politischen Einstellung des Reisenden abhängig gewesen. Zahns Verdienst besteht darin, auf andere, wenn auch weniger bedeutsame Wahrnehmungs- und Beurteilungsfaktoren aufmerksam gemacht zu haben. Der in der Einleitung behauptete Gewinn für die aktuelle Debatte um die kulturelle Vielfalt und Identität Europas und der daraus resultierenden Konflikte bleibt aber gering.

Dies scheint auch Zahn bemerkt zu haben. In ihrem Schlusssatz erklärt sie, dass sich mit den Erfahrungen und Blicken der damaligen französischen Moskaubesucher "womöglich begreifen" lasse, "dass es für heutige Aufgaben und Perspektiven schon damals Anregungen gab". Womöglich, nicht sicher - schließlich existieren unter den von Zahn präsentierten Texten kaum Beispiele, die Zahns Ideal der Begegnung mit dem Anderen erfüllen, nämlich "stereotype Bilder des Anderen und das Zentrum-Peripherie-Schema abzubauen und stattdessen für Einheit in der Vielfalt - oder: gleichberechtigte Kulturen in einem Europa ohne Zentrum - einzustehen".


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Inka Zahn: Reise als Begegnung mit dem Anderen. Französische Reiseberichte über Moskau in der Zwischenkriegszeit.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
525 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783895286827

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