Der Dialog ist erlahmt

Zum Tod des uruguayischen Dichters Mario Benedetti

Von Stefan FrankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Frank und Marcela OliveraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcela Olivera

„Der Tod ist nur ein Symptom dafür, daß es da ein Leben gegeben hat“, sagte der uruguayische Dichter Mario Benedetti einmal. Seit dem 17. Mai 2009 können wir sicher sein, dass Benedetti gelebt hat, denn seitdem ist er tot – und die Nachrufe in der Presse versammeln gewissenhaft die Tatsachen, die beweisen, dass Benedetti gelebt haben muss. Dafür spricht einiges: Er wurde am 14. September 1920 in Uruguay geboren, in Paso de los Toros. Das liegt genau in der Mitte des Landes, doch betrachtete er sich immer als „Montevideano“ (so lautet auch der Titel eines seiner Bücher) – auch während der Jahre des Exils. Der aus Spanien stammende Sänger Joan Manuel Serrat, der Gedichte Benedettis vertont hat, sagte einen Tag nach seinem Tod über ihn, er sei wahrscheinlich der am meisten gelesene Dichter Lateinamerikas, doch auch seine Beiträge als Dramatiker, Journalist und politischer Aktivist (Benedetti gehörte der linksgerichteten „Frente Amplio“ an) solle man nicht vergessen.

In Montevideo, wohin seine aus Italien stammenden Eltern gezogen waren, als er vier Jahre alt war, besuchte der junge Mario die deutsche Schule, wo er regelmäßig verprügelt wurde. Als die Schule 1933 den Hitlergruß einführte, schickte sein Vater ihn auf eine andere.

Mit 14 begann Benedetti als Verkäufer in einer Firma für Autoersatzteile zu arbeiten. Viele kleinere Jobs folgten, bis er endlich eine Anstellung im Staatsdienst erhielt, von der er leben konnte. Seine erste Gedichtsammlung erschien 1945, ohne großes Aufsehen zu erregen. Benedetti hatte sich zu diesem Zeitpunkt einer journalistischen Laufbahn verschrieben; von 1954 bis 1960 war er Literaturredakteur der Zeitschrift „Marcha“, damals eines der wichtigsten politischen und kulturellen Organe in spanischer Sprache. 1974, nach dem Militärputsch, wurde das Erscheinen der Zeitschrift eingestellt. Ein zweiter Gedichtband erschien 1956: „Poemas de la oficina“ – Bürogedichte. Stets zeichneten sich seine Gedichte durch ihre Einfachheit und Klarheit aus. Jeder kann sie verstehen, auch wenn die Sprache oft regional – das heißt montevideanisch – gefärbt ist.

Die große Form des Romans passe eigentlich nicht in ein kleines Land wie Uruguay, meinte Benedetti. Und so kommen auch seine Romane in sparsamem Gewand daher: Relativ dünn, wenige Figuren, keine langen Beschreibungen von Personen oder gar Orten. Gefühle und Gedanken werden in Dialogen, Briefen, Tagebuchaufzeichnungen oder im inneren Monolog mitgeteilt, äußere Handlung gibt es kaum, und wer nach Landschaftsbeschreibungen sucht, um sich die Reise nach Lateinamerika zu sparen, ist bei Benedetti falsch.

In Deutschland werden seine Romane schon lange nicht mehr verkauft. Vielleicht findet man in der einen oder anderen Bücherei „La Tregua“ („Die Gnadenfrist“, 1960), die in Tagebuchform erzählte Geschichte eines frustrierten und von allerlei Vorurteilen geprägten Büroangestellten, der seiner Pensionierung entgegensieht, sich dann in eine jüngere Frau verliebt und ein kurzes Glück genießt. Oder „Primavera con una esquina rota“ („Frühling im Schatten“, 1982). Der Roman zeigt in kurzen Kapiteln aus wechselnder Perspektive, wie eine Familie an der Militärdiktatur zerbricht.

Benedetti, der auch selbst in diesem Roman auftaucht, veröffentlichte ihn 1982. Damals war er bereits neun Jahre im Exil, an verschiedenen Orten Lateinamerikas und Europas. Als er 1985, nach dem Ende der Diktatur, nach Montevideo zurückkehrte, beschäftigte er sich mit dem Thema des „desexilio“, eine Wortschöpfung, die die Situation derjenigen beschreiben soll, die das Leben im eigenen Land erst wieder lernen müssen. In „Primavera con una esquina rota“ heißt es im inneren Monolog einer der Figuren: „Dieses Erdbeben hat uns aus dem Gleichgewicht geworfen, uns unvollständig, entleert, verstört zurückgelassen. Niemals werden wir wieder so sein wie früher. Besser oder schlechter, das muß jeder selbst wissen. An uns vorüber, manchmal durch uns hindurch, ist ein Gewittersturm gegangen, und die Stille, die wir jetzt erleben, ist eine Stille der umgefallenen Bäume, eingestürzten Dächer, Dachfirste ohne Antennen und der Trümmer, vieler Trümmer. Wir müssen wiederaufbauen, uns wiedererbauen: neue Bäume pflanzen; aber vielleicht werden wir in der Gärtnerei nicht die gleichen Setzlinge, nicht die gleichen Samen finden.“

Die meisten deutschen Leser werden nie in ihrem Leben soviel über Benedetti gehört haben wie in den Tagen nach seinem Tod, als in den großen Zeitungen Nachrufe erschienen. Dabei wurde er auch hier in den 1980er-Jahren durchaus gelesen. Warum heute nicht mehr?

Die Editionsgeschichte von „Primavera con una esquina rota“ gibt vielleicht eine Antwort. Schon die falsche, an Titel von Rosamunde Pilcher erinnernde Übersetzung „Frühling im Schatten“ zeigt, dass der Verlag nicht genau wusste, was er mit Benedetti eigentlich anfangen sollte. Auch nicht gut für den Verkauf: Die Reihe, in der der Roman erschien, hieß „Dialog Dritte Welt“. Seit 1990 heißt die „Dritte Welt“ bekanntlich „Emerging Market“, und das Interesse am Dialog ist erlahmt. Das linke Publikum, das in den 1980er-Jahren an Benedetti Interesse hatte (oder meinte, dazu verpflichtet zu sein), gibt es heute nicht mehr, und dass dieser Dichter nicht bloß eine politische Seite hatte, sondern ein komplexes Werk schuf, das hat sich zumindest in Deutschland noch nicht herumgesprochen. Wer seine Gedichte lesen will, bekommt sie nur in einer spanischen Ausgabe. Aber wer weiß, vielleicht ist das auch besser so.