Die himbeerrote Quelle des ultimativen Wissens

In ihrem Buch „Inzest und Tabu“ lässt Jutta Schlich die Ich-Erzählerin von Ingeborg Bachmanns „paramenstruellem“ Roman „Malina“ die Gebärmutter befreien

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Ankündigung, einen Roman „nach den Regeln der Kunst“ lesen zu wollen, macht neugierig und könnte vermuten lassen, das infrage stehende Buch, Ingeborg Bachmanns „Malina“, solle einmal nicht wissenschaftlich sondern künstlerisch interpretiert werden. Tatsächlich aber zielt der Untertitel von Jutta Schlichs Untersuchung „Inzest und Tabu“ vielmehr auf eine Exegese nach den Regeln der (aristotelischen) Tragödien-Theorie, vor der sie allerdings nicht wirklich bestehen kann.

Dafür befleißigt sich Schlich einer autoritativen Diktion, die insinuiert, es gäbe nur eine einzige angemessene, ja fast schon alleine zulässige Näherung an Bachmanns Text: die ihre, wie sich versteht. „Dramatisches und thematisches Zentrum“ des Romans ist der Exegetin zufolge der Inzest. Daher sei „die vom Vater ausgehende und auf die Tochter zielende sexualisierte Gewalt“ der „neuralgische Punkt“, von dem aus Bachmanns Roman „seinen sinnvollen Zusammenhang bezieht“, wie Schlich apodiktisch erklärt. Habe man die „Dynamik von Inzest und Tabu als dramatisches und thematisches Zentrum“ erst einmal „akzeptiert“, fährt sie ihre These fast unmerklich (und vielleicht von ihr selbst tatsächlich unbemerkt) variierend fort, dann habe „die Exegese nichts mehr in den Text hinein oder aus ihm heraus zu interpretieren“. Vielmehr sei es „allererste literaturwissenschaftliche Pflicht“, diese Dynamik zu „paraphrasieren“. Die zur „Erfüllung“ dieser vermeintlichen Pflicht notwendige „Lektüreanweisung“ liefere Bachmann selbst mit den „Angaben zu Ort und Zeit der Handlung“.

Eine derart exkludierende Auffassung von Bachmanns doch so komplexem und vielschichtigem Roman zeugt zunächst einmal von einem veritablen Tunnelblick der Autorin, der sich auch darin ausdrückt, dass Schlich in einer Fußnote unter Bezugnahme auf Lena Lindhoff ganz en passant, die „Inkommensurabilität von konkreten literarischen Texten insbesondere denen aus der Feder von Frauen, und Foucaults Überlegungen sowie dekonstruktiver Literaturtheorie überhaupt“ konstatiert.

Bachmanns „Lektüreanweisung“ ist Schlich zufolge „gattungspoetologischer Natur“ und „verlangt, das Drama in diesem Roman bewusst wahr zu nehmen“. Sie selbst sei die erste, die dieser Anweisung Folge leiste und den Roman als Drama rekonstruiere.

Bevor die Autorin näher auf die Thematik „Inzest und Tabu“ eingeht, verkündet sie mit großartigem Gestus, das „Herzstück“ des untersuchten Romans sei nicht nur ein „Meilenstein des autodidaktischen Lehrgangs in Metaphysik“, sondern mache Metaphysik überhaupt allererst zu dem, „was sie ihrem Anspruch nach immer sein wollte und doch nie war: Erste Philosophie“. Denn das Ich des Romans verfügt ihr zufolge über eine „einmalige metaphysische Begabung“ und „lüftet […] das allererste und allerletzte Geheimnis abendländischer Kultur: dass die Gebärmutter der Frau evolutionäres Organ par excellence ist, das dazu befähigen kann, buchstäblich-leibhaftig durch die Wand zu gehen“.

Mit diesem, seinem „abenteuerlichen Alleingang“ durch die Wand biete das Ich zugleich eine „allerletzte einschlägige Probe aufs metaphysische Exempel“, und „ruf[e] seine Metaphysik als Neue Metaphysik ins Leben“. Das alles klingt schon einigermaßen obskur. Und spätestens wenn Schlich das „Grundgesetz“ dieser Metaphysik „offenbart“, das besage, „[j]e durchsichtiger, desto dichter, desto durchlässiger“ und es auf die Formel „d hoch 1 = d hoch 2 = d hoch 3 oder 1 = 2 = 3“ bringt, von der sie versichert, dass sie „geistig-körperliche Durchbrüche schafft“, ist man sich nicht mehr ganz sicher, ob man nicht vielleicht eine Parodie auf besonders verschrobene literaturwissenschaftliche Arbeiten vor sich hat.

Doch vermutlich ist das Ganze ebenso ernst gemeint wie die Rückführung von „Bachmanns neuer Metaphysik auf die von Blutschande genesende Blutweisheit einer Frau“ im abschließenden Kapitel mit dem Titel „Inzest und Tabu nach ‚Malina‘“, in dem Schlichs Darlegungen noch um einiges verschwurbelter werden. Das weibliche Blut und seine „Gezeiten“ legt die Autorin nun dar, sei „der Flow, der das Ich über die Schwelle in die Freiheit trägt“, wobei die „Selbstheilung“ der Ich-Figur als „Verwandlung von Blutschande in Blutstolz“ inszeniert und die Gebärmutter „rehabilitiert“ werde.

Auf sie, die Gebärmutter, zielt Schlich zufolge auch der Titel des Romans. Ausgehend davon, dass Malina das slawische Wort für Himbeere ist, kommt die Autorin zu dem Schluss, dass die Bedeutungen des titelstiftenden Namens in Bachmanns Roman „alle im Strom einer entfesselten Gebärmutter zusammen“ liefen, „die in Gestalt des Ich ihre Magie verströmt“. Kurz: „In der Gebärmutter als himbeerrote Quelle ultimativen Wissens münden alle Bedeutungen, die die Forschung für das Wort ‚Malina’ benannt und auf das Textgeschehen bezogen hat.“ Als „paramenstrueller Roman“ zelebriert der Text Schlich zufolge die weibliche „Menstruationserfahrung“ und „holt [i]m Modul kunstvollen Divergierens […] die Menarche als Initiation in weiblichen Blutstolz nach“.

Nach Schlichs Regeln der Kunst gelesen, offenbaren sich den „Malina“-Lesenden nicht nur metaphysische Grundgesetze, sondern sie erkennen zudem, dass die Figur des Ichs mit ihrem „Gang“ durch die Wand „die abendländische Geschichte der Geschlechter als Hystorie [erledigt]“. Schlich zufolge bildet dies den „Höhepunkt eines ganzheitlichen Geschehens, das mit der Gebärmutter als einem Leben, Sterben und Wiedergeburt umfassenden Gezeitenkraftwerk gegeben ist und das die durch Blutschande verletzten biologischen, psychologischen und soziologischen Dimensionen des Lebens einer Frau vollständig ausheilt“. Die Ich-Figur des Romans gleicht Schlich zufolge des Weiteren einer „mexikanischen Schamanin“ und „befreit seine Gebärmutter aus dem beleidigten Zustand einer hysteria und setzt sie ins angeborene Recht gesunder Funktionstüchtigkeit“.

Über eine „Um-Setzung der Buchstaben des Namens ‚Malina‘“ zu „animal“ und die „wunderbare Dreifaltigkeit des animal-Spektrums“ sowie mit Hilfe verschiedener Anleihen bei C. G. Jungs Archetypen-Lehre reift in der Autorin schließlich das Fazit heran, Bachmanns Roman zeige „die Mana-Persönlichkeit der Anima-Gebärmutter“.

Nachvollziehbar, plausibel oder gar überzeugend ist das alles nicht. Wenn überhaupt, dann dürfte Schlichs Buch unter der Rubrik Kuriosa in die Geschichte der „Malina“-Rezeption eingehen. Doch immerhin, es löst nicht nur Kopfschütteln aus, sondern ist durchaus auch erheiternd.

Titelbild

Jutta Schlich: Inzest und Tabu. Ingeborg Bachmanns "Malina" gelesen nach den Regeln der Kunst.
Ulrike Helmer Verlag, Sulzbach/Taunus 2009.
271 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783897412675

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