Spätsowjetisches Gruppenbild

György Dalos erzählt von der Auflösung der Ostblock-Diktaturen

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ein befreiendes Jahr, ein erschöpfendes Jahr“, sinniert der Dichter Durs Grünbein über 1989 in seinen Berliner Aufzeichnungen. „Wieviel Rhizinusöl mußte fließen, wie lange hatte gedruckt und gepreßt werden müssen, ehe die verdauungsgestörten Ostler endlich den Durchbruch schafften von der Kolik zur erlösenden Defäkation. 1989 war das Jahr, als die Latrinen geflutet wurden, die Lagertore sich öffneten.“ Wie viele andere Menschen seiner Generation, die in der DDR geboren und aufgewachsen sind und nach denen die politisch-gesellschaftliche Utopie des Realsozialismus verbraucht und sinnlos geworden war, konnte Grünbein den definitiven Zerfall des purulenten SED-Staates nur noch amüsiert und zynisch beobachten.Ein ähnlicher Sarkasmus kennzeichnet auch die Beschreibung vom Ende der Diktaturen in Osteuropa, die der ungarische Schriftsteller und Publizist György Dalos in seinem Buch „Der Vorhang geht auf“ vorlegt. Der Band zählt zu den vielen Geschichtswerken, die dieses Jahr anlässlich des 20. Jahrestages des Falls der Berliner Mauer herausgegeben worden sind, doch die Perspektive, aus welcher die Auflösung des Ostblocks rekonstruiert wird, ist nicht nur die eines kompetenten Historikers, sondern auch die eines ‚Beteiligten‘: Dalos, 1943 in Budapest geboren, hat in Moskau studiert, wurde 1968 wegen „maoistischer Umtriebe“ verurteilt, erhielt Berufs- und Publikationsverbot und war 1977 unter den Begründern der demokratischen Oppositionsbewegung in Ungarn. Als Zeitzeuge lässt er in diesem Buch die Etappen jenes tiefen Freiheitsdranges Revue passieren, der sich in den Satellitenstaaten der Sowjetunion allmählich durchsetzte und zur Zerbröckelung der osteuropäischen Totalitarismen führte.Nach Dalos fing alles an, als der schwerkranke Konstantin Ustinowitsch Tschernenko, Generalsekretär der KPdSU, am 10. März 1985 knapp ein Jahr nach seinem Amtsantritt verstarb. Der neue, „einstimmig wie immer“ gewählte Kremlmann Michail Sergejewitsch Gorbatschow musste in erster Linie für die Organisation der Beerdigung seines Vorgängers sorgen. Dass er langsam auch das Begräbnis des sowjetischen Imperiums selbst vorbereiten würde, konnten damals die eingeladenen Spitzenpolitiker der Bruderländer noch nicht ahnen. Und doch drückte Gorbatschow seine Absichten von Anfang an ziemlich klar aus, als er zum Beispiel im Juli 1986 von einer entscheidenden Kursänderung im Schicksal der kommunistischen Länder sprach: „Wie es war, kann es nicht weitergehen“, kündigte der junge Staatsmann den Ostblock-Gerontokraten an.Viel länger konnte der kommunistische Traum in Osteuropa wirklich nicht dauern, und bereits seit Anfang 1989 wohnte die Welt einem der imposantesten Systemwechsel unserer Zeit bei: In Budapest und Warschau wurde mit der Zulassung politischer Parteien für den Pluralismus entschieden, aus der DDR flohen Massen von Bürgern über die ungarische Grenze, Václav Havel und Aleksander Dubček führten die Samtene Revolution auf dem Prager Wenzelplatz und die Hinrichtung von Nicolae Ceauşescu löste die ungebremste und euphorische Befreiungsbewegung in Rumänien aus. Der Eiserne Vorhang war dabei, sich mehr und mehr zu öffnen.In sechs interessanten Kapiteln schildert der Autor, wie Polen, Ungarn, die DDR, die Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien nach jahrzehntelanger Abhängigkeit von der UdSSR 1989 begonnen haben, demokratische Strukturen aufzubauen und den Anschluss an das westliche Europa zu suchen. Sein Überblick über diese Zeit der Unruhe und der radikalen Veränderungen erfolgt erzählerisch und scharfsinnig und liest sich flüssig. Die Zeittafeln im Anhang sind quantitativ unzureichend und gedrängt – gelungen ist dagegen die Wahl des Schlusskapitels: eine 1985 geschriebene Reflexion über die „Befreiung der Sowjetunion von ihren Satelliten“, die damals als „unverantwortliches, unrealistisches Gerede“ galt und heutzutage ein (zufriedenes oder eher bitteres?) Lächeln auf die Lippen des Lesers zu zeichnen vermag.

Titelbild

György Dalos: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa.
Übersetzt aus dem Ungarischen von Elsbeth Zylla.
Verlag C.H.Beck, München 2009.
272 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406582455

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