Von Männern und Masken

Zu Karl Mays Figurenzeichnung ,komischer Abnormer‘: Ein Überblick

Von Rudi SchweikertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rudi Schweikert

quod erat demimonschtrum!
(Hobble-Frank)

Es ist auf eine Eigenheit in Karl Mays Technik der Personenbeschreibung hinzuweisen, die erst auffällig wird, wenn man erkannt hat, dass ein ‚System‘ hinter ihr steckt. Sehr viele seiner kleinen Helden sind auch komische Figuren. Dies signalisiert bereits ihre äußere Erscheinung, die sie meist als ‚freaks of nature‘, als Missbildungen, als von der Norm Abweichende und Absonderliche kennzeichnet. Sie sind anders als die anderen. Sie sind Extreme, zwergig oder außergewöhnlich hoch aufgeschossen, fürchterlich dick oder dünn wie ein Strich, dabei gewandt wie Artisten. Manche haben zusätzlich sprachliche Eigenheiten, andere bestimmte normverletzende Verhaltensmuster. Oft ist ihre Kleidung, legitimiert durch den von gewohnten Ordnungen freien exotischen Raum, in dem sie agieren, von schaubudenhafter Auffälligkeit. Gelegentlich kommt ihre Kleidung einer grellen Maskerade gleich, wobei die Frage auftaucht, ob etwas, und wenn ja, was denn durch so drastisches Vorweisen verborgen werden soll. Es kann aber auch geschehen, dass die ‚komischen Absonderlichen‘ sich nur durch einzelne Attribute ihrer Physis oder Kleidung vom Normalen unterscheiden.

Eine oder mehrere wie beiläufig vom Erzähler eingestreute Bemerkungen, dies die eingangs erwähnte Eigenheit, unterlaufen allerdings häufig ihre ‚Männlichkeit‘: Etliche der kleinen Helden werden durch ein Kleidungsstück oder durch eine Vergleichssetzung, die der Erzähler vornimmt, mit dem weiblichen Geschlecht in Verbindung gebracht und erscheinen so, unterschiedlich deutlich, nicht selten aber sogar ausdrücklich im Text formuliert, als Männer mit weiblichem Einschlag, als geschlechtlich uneindeutig und zwischen den Geschlechtern changierend.

Besuch im Panoptikum

Beginnen wir bei den bekanntesten Gestalten. Halef „war so klein, daß er mir [dem Erzähler] kaum bis unter die Arme reichte, und dabei so hager und dünn, daß man hätte behaupten mögen, er habe ein volles Jahrzehnt zwischen den Löschpapierblättern eines Herbariums in fortwährender Pressung gelegen.“ Merkwürdig an diesem ‚Präparat‘ ist, dass er seinen zu langen Burnus beim Gehen „empornehmen mußte wie das Reitkleid einer Dame“. Ein ‚verweiblichender‘ Vergleich also. Dieser bei den zahllosen folgenden Abenteuern ungemein hinderliche Umstand der zu langen Kleidung besitzt allerdings keinerlei ‚Trag-Weite‘ mehr. Zu bedenken aber ist: Dieser verweiblichende Vergleich erfolgt nicht irgendwann, sondern beim allerersten Vorstellen der Gestalt. Er gehört zum prägenden ersten Eindruck, den der Leser von der Figur hat.

Als Sam Hawkens, eine früh (In „Der Ölprinz“, 1877/78) ins Werk eingeführte Figur, sich in einer ganz besonderen Situation befindet, nämlich sich kurzzeitig dem anderen Geschlecht zuwendet und auf Freiersfüßen wandelt („Winnetou I“) – zusammen mit der zeitgleichen Zuneigung, die Winnetous Schwester für den Ich-Erzähler empfindet, ergibt sich wieder einmal ein Chiasmus –, scheitert er, und zwar komisch, wohingegen der Kontakt des Erzählers mit dem anderen Geschlecht durch den Tod Nscho-Tschis tragisch endet. Der Erzähler beruhigt den Leser über das „menschenfreundliche Gefühl“, das Sam für seine Indianerin besitzt.

„Es verursachte mir gar keine moralischen Schmerzen und Bedenken. Man mußte Sam ansehen, um vollständig beruhigt zu sein. Die übermäßig großen Füße, die dünnen, krummen Beinchen, dann das Gesicht, o weh! Er glich einer männlichen Pastrana mit einem Geierschnabel im Gesichte. Das war selbst für eine Indianerin zu toll.“

Vor einer Verbindung mit dem anderen Geschlecht schützt Sam Hawkens also ausgerechnet die große Ähnlichkeit mit einem tatsächlichen, historisch verbürgten ‚freak of nature‘, einem der berühmtesten Haarmenschen mit geschlechtlich ambivalenten Zügen, der 1860 gestorbenen mexikanischen Tänzerin Julia Pastrana, die als Weltwunder galt.

Gegenüber den Landvermesser-Kollegen und den mit ihrem Schutz beauftragten, „schwer zu zügelnden“ Westmännern verhält sich der erzählende Novize (das Greenhorn) übrigens „ungefähr so wie eine kluge Frau, welche ihren widerhaarigen Mann zu lenken und zu leiten weiß, ohne daß er eine Ahnung davon hat“.

Karl May lässt eine Vielzahl, wenn nicht die meisten seiner ‚komischen Abnormen‘ aus Sachsen stammen. Besonders in den ‚Erzählungen für die Jugend‘ ist mit großer Regelmäßigkeit jeweils eine ganze (Zirkus-)Truppe beisammen, wobei der Aspekt der öffentlichen (harlekinesken) Zurschaustellung gelegentlich sogar zur Sprache kommt.

So sagt Sam Hawkens (der im „Ölprinz“ als Sachse erscheint) über einen anderen ‚Freak‘, dass der doch wohl „weit eher wie ein Bajazzo“ (also Possenreißer, Zirkusclown) aussehe als er. Es handelt sich um eine ausdrücklich als „sonderbare Gestalt“ bezeichnete Figur, die folgendermaßen beschrieben wird:

„Der Körper war in einen langen, weiten Regenmantel und der Kopf in ein großes Wiener Saloppentuch gehüllt, dessen Zipfel bis auf den Rücken des Pferdes herunter fiel. An den Füßen trug die Figur Zeugstiefeletten; über die eine Schulter hing eine Flinte, und unter dem grauen Mantel schien ein Säbel zu stecken. Das Gesicht, welches aus dem Tuche hervorblickte, war bartlos, voll und rot, so daß man, besonders bei dieser Art sich zu kleiden, jetzt wirklich nicht zu sagen vermochte, ob ein Maskulinum oder Femininum da auf dem langsamen, hagern Klepper saß. Und das Alter des rätselhaften Wesens? War diese Frau ein männlicher Mensch, so mochte er fünfunddreißig Jahre zählen; war dieser Mann aber eine Dame, so stand sie sicher im Anfange der Vierzig. Jetzt war sie […] angekommen […] und grüßte in hohem Kopf- oder Fisteltone.“

Dieses geschlechtlich uneindeutige Etwas entpuppt sich als der Kantor emeritus Matthäus Aurelius Hampel aus Klotzsche bei Dresden. Wie virtuos Mays Technik war, mit (eigenen) textlichen Versatzstücken umzugehen, und seien sie noch so klein, lässt sich an dieser Stelle schön zeigen. Das Wiener (Saloppen-)Tuch tauchte bereits ein knappes Jahrzehnt zuvor im „Verlornen Sohn“ auf, und zwar in einer jener früh von der Kritik gerügten schlüpfrigen Szenen. Die Ballettänzerin Leda, eine ausgesprochene Salope, steht dem „Balletmeister und Kunstmaler“ Arthur Modell, der zu ihr sagt:

„Kommen Sie! Legen Sie ab! Hier auf dem rothen Divan nehmen Sie dann Attitude, da in den Wiener Shawl drappirt. Es wird prächtig sein. Sie werden sich entzückend ausnehmen, wie ich bereits jetzt constatiren kann! Sie ließ sich nicht lange bitten. Sie legte ungescheut sämmtliche Hüllen ihres Oberkörpers ab, brachte das Haar in andere Ordnung und streckte sich sodann auf den alten, verschossenen Divan nieder, um sich dann mit den Falten des Wiener Wunderwerkes schmücken zu lassen.“

Die Erwähnung von „Wiener Tuch“ besitzt eindeutig eine erotische Valenz und lässt die geschlechtlich ambivalente Aura des Kantor emeritus noch kräftiger leuchten. Dies bleibt nicht die einzige Verbindung mit diesem Roman Mays. In derselben Groß-Episode des „Verlornen Sohns“ aus dem Zirkus-, Theater- und Bordellleben („Die Sclaven der Schande“) wählt der Hauptschurke der abertausend Seiten, Baron Franz von Helfenstein, auch einmal das Inkognito eines „emeritirten Cantor[s] und Organisten“.

Nicht Hampel, sondern Pampel, Sebastian Melchior Pampel heißt eine nicht minder „närrische Gestalt“ aus dem gleichen Formenkreis wie der Kantor emeritus. Auch sie, bekannt als Tante Droll, spricht mit „Fistelstimme“ und scheint „ein ganz eigen- oder fremdartig gekleidetes Frauenzimmer zu sein. Man sah eine Kopfbedeckung, ähnlich einer alten Flattusenhaube, darunter ein volles, rotwangiges Gesicht mit kleinen Äuglein.“

Jedoch erfährt man gleich: „Sie ist nämlich gar keine Frau, sondern ein Mann“. Dennoch geht es eine Weile im Text hin und her, ob über ihn per ‚sie‘ oder per ‚er‘ zu reden sei. Die uneindeutige Geschlechtsrolle beziehungsweise geschlechtliche Zwischenstufung dieser Figur wird nachdrücklich thematisiert: da „ich nun ferner die Gewohnheit habe, mich eines jeden braven Kerls wie eine gute Mutter oder Tante anzunehmen, so hat man mir den Namen Tante Droll gegeben“, auch über ihre Kleidung, den „Rock“, der von der Tante selbst leicht ironisch, aber auch Erotisch-Schlüpfriges damit anklingen lassend als „Sleeping-gown“, als ‚Schlaf-Robe‘ oder ‚Nachtgewand für Damen‘ bezeichnet wird, ein Kleidungsstück, welches – wie bei Halef und Sam Hawkens – zu lang ist. Doch Tante Droll muss ihren ledernen Burnus nicht raffen wie Halef, sondern hat ihn aufgeschnitten und um die Beine gebunden beziehungsweise die Ärmel unten zugenäht und oberhalb Schnitte angebracht, um die Hände durchstrecken zu können.

Ein Verwandter von ihm, ein Vetter, ist der Hobble-Frank, Mays ‚Parade-Sachse‘, dessen ‚weibliches Signal‘ ihm weithin sichtbar, wie den beiden anderen auch, auf dem Kopf sitzt. (Mays Interesse an aparter Damenmode scheint nicht gering gewesen zu sein.) Es ist der Hut einer Frau, genauer: der Hut einer Herrenreiterin. „Auf dem Kopfe trug der kleine Mann einen riesigen schwarzen Amazonenhut, den eine große, gelb gefärbte, unechte Straußenfeder schmückte.“ Das Tragen des Hutes wird ausführlich begründet, da man ja demgegenüber Skrupel entwickeln könnte. Wie bei Hawkens’-Pastranas ‚Brautschau‘ werden moralische Bedenken erst leise angemeldet, um sie dann entschieden abzutun. Mit der Wahl der Bezeichnung „Amazonenhut“ wird jedoch der Aspekt des Mannweiblichen deutlich betont.

In „Der schwarze Mustang“ trifft der kleine und schmächtige Hobble-Frank zusammen mit der kleinen und dicken Tante Droll unter anderem auf zwei weitere Sachsen, Kas und Has Timpe, wiederum zwei Vettern, mit denen er Freundschaft schließt und die zum Auftakt der Erzählung beschrieben werden. Beide sind „wahrhaft angsterregend“ groß, „weit über zwei Meter lang, gleichlang und gleichdürr“. Das Prinzip der dick-dünnen Pärchenbildung ist hier durchbrochen. Doch ohne einen Dick-Dünn-Gegensatz geht auch diese Text-Sequenz nicht ab: May erfindet ‚kompensierend‘ einen Westmann-Ausdruck: „der Regen [fiel] so ‚korpulent‘ herab, wie der Westmann sich auszudrücken pflegt, daß man […] kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochte.“ Wieder ist die Bedingung des ‚weiblichen Signals‘ bei einem der beiden Timpes erfüllt: Der „semmelblonde“ Kas hat ein „frauenglatte[s] Gesicht“. Ein Chiasmus ergibt sich ebenso, diesmal auf die Kleidung der beiden bezogen. Die von Kas ist oben weit und unten eng geschnitten; Has dagegen ist „oben eng und unten weit bekleidet.“ Wie so viele ihrer mannweiblichen Kollegen sind auch sie auf der Suche nach einer oder mehreren bestimmten Personen.

Noch näher miteinander verwandt, nämlich Brüder sind Jim und Tim Snaker aus dem Lieferungsroman „Deutsche Herzen, deutsche Helden“ (1885 – 1887), die ebenfalls „unendlich lang und hager“ sind. Dem einen wurde bei einem Überfall die Nase abgeschnitten, der andere nennt einen riesigen Zinken sein eigen. Sie gehören (wie Jim und Tim Snuffle aus dem „Geist des Llano estakata“, die „Im Reiche des silbernen Löwen“, Band 1, nochmals auftauchen) zu den bei May häufigen ‚komischen Abnormen‘ mit riesenhaften Riechorganen. Dass er damit den traditionsreichen vulgären Commedia dell’arte-Humorgeschmack bedient, dürfte bei der hier herausgearbeiteten Anlage seiner Fantasie und angesichts seines Willens zum Volksschriftsteller evident sein. Von Jims Kopfbedeckung heißt es, wieder die Bedingung des ‚weiblichen Vergleichs‘ erfüllend, dass sie „früher einmal ein Filzhut gewesen war; aber es war ihm die Krämpe so vollständig verloren gegangen, daß die Kopfbedeckung jetzt jenen Näpfchen glich, in welchen die deutschen Bauernweiber ihrem Quark die bekannte Form zu geben pflegen.“

Sie treffen auf einen kugelrunden Kleinen, Sam Barth, natürlich ein Sachse, mit dem zusammen sie wie der dicke Sam Hawkens, Dick Stone und Will Parker, die beiden Überlangen, ein Kleeblatt bilden. (Teile des Signalements von Sam Barth und Jim Snaker benutzte May auch für die Gestaltung des Pärchens Dicker Jemmy und Langer Davy.) Der kleine Sam Barth steckt in einem Bärenfell, aus dem nur Kopf und Füße herausragen. Ähnlich auch der kleine Sam Hawkens, der seinen Lederrock nur ein wenig kürzer trägt. Wieder fast knöchellang trägt ihn Sam Thick, der zusammen mit Sam Thin die Two Sams bildet. Dieses Aussehen macht ihre Herkunft aus der Commedia dell’arte-Tradition nur zu deutlich. Auch speziell die Geierschnabel-Nase, die so viele der ‚komischen Abnormen‘ auszeichnet (hier Tim Snaker), ist ein Masken-Relikt und -Versatzstück aus der Commedia dell’arte. So sind die grotesken Schelmenstreiche des Trappers Geierschnabel während seines Deutschlandaufenthaltes (im „Waldröschen“) ganz nur zu verstehen, wenn man sie als derb-subversive Lachlust-Provokationen alter Stegreifkomödie erkennt. Es sind Scapin-Foppereien.

Was ist nun Sam Barths ‚weibliches Ingrediens‘? Witzigerweise ein ausgesprochen phallischer Gegenstand:

„Wer mit meiner Auguste in Berührung kommt, mit dem steht es sicherlich ‚Matthäi am Letzten.‘
‚Auguste?‘
‚Ja.‘
‚Wer ist dieses Frauenzimmer?‘
‚Frauenzimmer? Hihihihi!‘ kicherte er.“

Es stellt sich heraus, dass er sein Gewehr mit dem Namen seiner Geliebten belegt hat (auch dieser Schießprügel ist wie seine Geliebte „glühend und feurig“) – analog zu Sam Hawkens, dessen Gewehr Liddy bei der Aussicht, „Rothhäute“ zu treffen, „Hochzeitsgedanken hat.“

Im Kontext dieser Figurenbeschreibungen erfolgt übrigens eine Rechtfertigung dafür, warum es im exotischen, ‚wilden‘ Freiraum in dieser Weise karnevalesk ‚witzig‘ zugeht: „Unter gebildeten Kreisen ist es geradezu unmöglich, sich über die körperlichen Gebrechen Anderer lustig zu machen; im fernen Westen aber giebt es wetterhafte, ausgepichte Charactere, die bei einem feinen Witze nicht den Mund verziehen würden. Da ist Alles derb, und nichts wird übel genommen, nämlich wenn es nicht aus dem Munde eines persönlich unangenehmen Menschen kommt. Ein Jeder lacht da über sich selbst gern mit.“

Von dieser Lizenz zur Zote, zum Aussprechen des Verbotenen, des eindeutig Zweideutigen im Zusammenhang mit der Leiblichkeit des Anderen wird sofort weidlich Gebrauch gemacht: Sam Barth spricht über seine Wandlung vom Mädchenschwarm zum ‚Westmann‘, der keinen Kontakt mehr mit Frauen, sondern nur noch mit Männern hat: „Die Mädels hatten es wirklich alle auf mich abgesehen. Da könnt Ihr [= Jim und Tim Snaker, die später mit den Spitznamen Latte und Stange versehen werden] Euch denken, daß mir die Nase so ziemlich hoch stand.“

„Jetzt steht sie desto tiefer, nämlich zwischen den dicken Backen drin!“

Auch dieser Dialog spielt mit Gesten der Commedia dell’arte, die erlauben, gesellschaftlich Unterdrücktes, das zur Triebabfuhr drängt, mit Mitteln drastischer Komik angstüberwindend auszudrücken (Sam Barth: „Natürlich drücke ich mich aus, ich mich! Oder meint Ihr, daß ich mich von einem Anderen ausdrücken lasse?“).

Als der Winnetou wie aus dem Gesicht geschnittene Indianer Kolma Puschi (Dunkelauge) vom Erzähler nach langem Ahnen seiner geschlechtlichen Andersheit als Frau ‚geoutet‘ wird – die nebenbei fast wie Mays eigene (mannweibliche) Frau heißt, nämlich Emily –, ist einer davon „ganz begeistert“: Dick Hammerdull, der zusammen mit Pitt Holbers eines der vielen ‚Freak-Pärchen‘ Mays bildet. Dick beginnt mit Pitt einen Dialog („Hat man jemals erlebt, daß ein Mann eigentlich eine Frau ist?“) um das Gedankenspiel, was wäre, wenn Pitt „plötzlich zu der Erkenntnis“ käme, dass er „ein heimliches, verkleidetes Frauenzimmer“ sei. Pitt meint, dass er Dick „augenblicklich heiraten“ werde. Worauf der schäkernd antwortet, er ließe sich „nach der Trauung augenblicklich wieder von [ihm] scheiden“. Antwort: „Und ich gäbe dich nicht wieder her!“ Angesichts der bei May häufigen ‚Über-Kreuz-Entsprechung‘ (Chiasmus) zwischen Reittier und Reiter stand im Falle von Hammerdull und Holbers die geschlechtliche Rollenverteilung von Anfang an fest: Der kleine, dicke Dick sitzt im Sattel einer Stute, die so hoch, schmal und dünn behaart ist wie Pitt, der seinerseits einen kleinen, dicken Hengst reitet. (Die homoerotisch fundierte Lust an auffällig-‚knalliger‘ Kleidung findet bei beiden weniger durch ihre Trapper-Kleidung Ausdruck als durch ihre uniforme zeisiggrüne Gewandung, die sie in der Zivilisation tragen, wo sie nach Pitts Tante beziehungsweise deren Nachkommen suchen.)

Nicht zeisiggrün, sondern ganz in Rot gewandet schießt ein anderes Paar, ein Paar Kleingewachsener Kobolz. Der Privatgelehrte Doktor Morgenstern, der einzelne Begriffe, die in seiner Rede vorkommen, zuvorkommenderweise auch in Latein wiederzugeben pflegt, und sein Diener Fritze Kiesewetter stellen allerlei grotesken Unsinn in „Das Vermächtnis des Inka“ an. Nachdem diese Commedia-dell’arte-Variante des Gelehrten eine absurde Doppelprobe angestellt hat zwischen dem Aversionsgrad, den das „Genus masculinum“ und das „Genus femininum“ des südamerikanischen Rindes gegenüber der Farbe Rot entwickelt, wobei Fritze sich „bemüh[t], an eine Kuh zu kommen“, und der Doktor „sich einem Ochsen [nähert]“, mit dem Effekt, dass der Stier im übertragenen Sinn den Schwanz einzieht, weil der Doktor ihn am Schwanz ergreift und dadurch besiegt, lässt er nach einem vorsintflutlichen Glyptodon graben. Dann fällt er in das Grabungsloch hinein. Unten empfängt ihn sein Diener Fritze aus Jüterbogk mit den Worten „Da sitzen Sie neben mich, jrade wie Frau Lanziette, jeborene Huhn!“, womit die Bedingung der Vergleichssetzung mit dem Weiblichen erneut erfüllt wäre.

Verlassen wir damit das exotische Panoptikum und betrachten nur noch zwei gewissermaßen an der Peripherie des hier vorgestellten Formenkreises angesiedelte Figuren.

Beim Theater, wissen einige Figuren in Mays „Verlornem Sohn“, „giebt es sehr faule Punkte.“ Einen Jux will Dr. Max Holm sich machen und animiert den Paukenschläger Hauck, den „Hauptspaßvogel“ des Orchesters, in dem Holm Violine spielt, in Damenkleider zu schlüpfen, um einen lüsternen alten Gecken, den Chef der Claqueurs am Residenztheater, Léon Staudigel, zu düpieren. Holm fragt Hauck, „ob [er] sich vielleicht schon einmal als Mädchen verkleidet [habe].“

„‚O, öfters schon! Zu Fastnacht! Man hat mich ja allgemein für ein Mädchen gehalten. Ich bin so gebaut, daß ich beinahe ausgeschnitten gehen könnte. Ich hätte die erforderliche Gestalt zu einem Damenkomiker.‘
‚Schön! Wie sind Ihre Arme?‘
‚Voll und rund wie bei einer Melusine.‘
‚Aber die Stimme.‘
‚Haben Sie keine Sorge! Ich habe eine famose Fistelstimme, welche gerade wie die natürliche klingt. […].‘“

Die üblichen moralischen Bedenken stellen sich ein („Man wird mich doch nicht etwa beim Schlafittchen nehmen!“), um entschieden beruhigt zu werden („Das fällt Niemandem ein. Der Betreffende wird ganz im Gegentheile sehr froh sein, wenn von der Sache nichts ausgeplaudert wird.“).

Die Lust am Geschlechterrollentausch, die Gesichter hinter Halbmasken versteckt, nimmt weiter zu: Holm veranlasst die Frau Staudigels, sich in Männerkleidung zu stecken und mit dem malenden Ballettmeister, der als Frau verkleidet ist, im Gasthaus das Zimmer neben dem zu belegen, in dem sich ihr Gatte mit der falschen Leda alias Hauck befindet. Wie bei May in solchen Fällen üblich, erhält der verkleidete Hauck vom Erzähler volle weibliche Identität: Es wird von ›ihr‹ und nicht von ›ihm‹ gesprochen. Der alte Geck küsst „sie und fand auch gar kein Widerstreben. Nur schien der Kuß einigermaßen nach Tabakspfeife zu schmecken“. Währenddessen verabschiedet sich der Ballettmeister als Dame von seiner Aurora, die ihm noch einige Ermahnungen von Frau zu ‚Frau‘ mit auf den Weg gibt:

„‚Hält der Unterrock noch fest?‘
‚Bis jetzt, ja.‘
‚Und laß ja die Strumpfenbänder nicht herabfallen. Ihr Herren habt so wenig schöne Rundungen an dem Unterbeine! Und tritt ja nicht vorn auf das Kleid.‘“

„Nimm aber vorn Alles in die Höhe“, bekommt der kleine Ballettmeister zusätzlich noch geraten, was diese Szene auch an Halefs Burnusraffen anschließt und die Konturen des relativ engen Kreises mit Reihenbildungen und Wiederholungen von homoerotisch fundierten und (oberflächlich) ‚komisch‘ wirken sollenden Gesten, Verkleidungen, Körpereigenschaften in Mays Figurenzeichnungen und Handlungsideen weiter festigt.

Es folgt das Denouement, die Demaskierung aller nach dem ‚Höhepunkt‘, der im Erwischtwerden Staudigels mit Hauck besteht. „Auf seinem Schooße saß ein üppiges Frauenzimmer in Tricots, mit Maske. Beide in innigster Umarmung.“

Der mit Bezug aufs Romanganze völlig ungewöhnliche kurzzeitige Wechsel in der Erzählperspektive vom Auktorialen zum Personalen hebt diese Szene hervor und zeigt das (lustvolle) Interesse an größtmöglicher Unmittelbarkeit und Teilhabe des Lesers am Geschehen.

Was wird dadurch bewirkt? Das Spiel mit der geschlechtlichen Uneindeutigkeit, mit wahrer und falscher Identität – welche Identität ist im Grunde die wahre und welche die falsche? – wird auf die Spitze getrieben. Dem Leser (und dem Autor als erstem Leser) wird an dieser Stelle mit aller Macht suggeriert, den Mann als Frau zu empfinden.

Der homoerotische Kitzel darf, da soziokulturell deviant, nicht andauern. Aber im die Szene schließenden Auftreten Holms und in dem, was er sagt, lebt er noch einmal zwischen den Zeilen auf: „Verzeihung, daß ich störe! Ich bitte mir den Herrn Paukenschläger Hauck aus. Wir müssen nach Hause.“

Ein ›kleiner Held‹ besonderer Art ist der Erzähler im einleitenden Rückblickskapitel von „Weihnacht!“. Auch er wird mit einem weiblichen Aspekt versehen, der in seinem Spitznamen Ausdruck findet: „Sappho! Da kommt es doch ans Tageslicht, was ich verschweigen wollte!“

Verschwiegen werden sollte also etwas, und zwar ein „sonderbare[r] Gedanke“, auf den ‚Mays‘ Mitschüler zur Kennzeichnung ihres dichtenden Kameraden verfielen. „Einen scherzhaften Anstrich“ sollte die Namenswahl haben. Dies pflegt die Wahl eines Spitznamens generell zu haben – vor allem aber, ein besonderes (und auffälliges) Merkmal der bedachten Person pointiert in einen Begriff zu fassen. Die Begründung, die die Mitschüler für ihre Namenswahl nach ‚Mays‘ Sträuben gegen die Bezeichnung Sappho geben, ist ebenso vordergründig wie in sich schlüssig. (Sappho sei „die berühmteste Dichterin des Altertums und durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet.)

Das ‚Mehr‘ an Bedeutung, das im Namen Sappho liegt, nicht das Hehre und Überragende, sondern das ‚Unreine‘, das der Dichterin nachgesagt wird (die Liebe zum gleichen Geschlecht), war May mit Sicherheit geläufig. Dazu braucht man sich nur ins Gedächtnis zu rufen, welch exquisiter ‚sittengeschichtlicher‘ Wortschatz ihm zu Gebote stand, als es ihm darum ging, seine erste Ehefrau als Lesbierin und Tribade zu demaskieren (auch als Phryne, als Hure), die ihm neben vielen anderen „lockeren Vögeln“ auch „liebestolle Personen dritten Geschlechtes in das Haus“ brachte. Auch dass er einer Bordellbesitzerin in seinem „Verlornen Sohn“ den Namen von Sapphos Sklavin Melitta gab, dürfte für seine Spezialkenntnis sprechen.

Das Thema Maskerade, (Geschlechter-)Rollentausch und Beschreibungen männlicher Gestalten durch ‚weiblichen‘ Vergleich schmuggelte Karl May immer wieder in seine Texte. Der Leseraufmerksamkeit, die auf den lustvoll betäubenden und nie enden sollenden Sog reißender Abenteuerschilderung gerichtet ist, mag dies entgehen. Stellen wie die folgende werden entweder ‚überlesen‘ oder bloß als humoristisches Beiwerk wahrgenommen, ohne dass der Rezipient in aller Regel weiß, was er zusätzlich unbewusst an Reizen aufnimmt, wenn er etwa jene Szene liest, als Kara Ben Nemsi im wilden Kurdistan türkische Kanoniere belauscht, insbesondere zwei Offiziere, die seine Freunde, die sympathischen – aber ausgegrenzten – ‚internen Anderen‘, hier die Teufelsanbeter, die Dschesidi, bekriegen wollen:

„Der eine der beiden Helden war ein Hauptmann und der andere ein Lieutenant. Der Hauptmann hatte ein recht biederes Aussehen; er kam mir grade so vor, als sei er eigentlich ein urgemütlicher, dicker deutscher Bäckermeister, der auf einem Liebhabertheater den wilden Türken spielen soll und sich dazu für anderthalbe Mark vom Maskenverleiher das Kostüm geliehen hat. Mit dem Lieutenant war es ganz ähnlich. Just so wie er mußte eine sechzigjährige Kaffeeschwester aussehen, die auf den unbegreiflichen Backfischgedanken geraten ist, in Pumphosen und Osmanly-Jacke auf die Redoute zu gehen. Es war mir ganz so, als müsse ich jetzt hinter meinem Baume hervortreten und sie überraschen mit den geflügelten Worten:

‚Schön guten Abend, Meister Mehlhuber‘; ‚pfehle mich, Fräulein Lattenstengel‘; ‚was Neues?‘ ‚Danke, danke, werde so frei sein!‘“

Anm. der Redaktion: Der Aufsatz ist bereits 2001 in dem von Markus Kreuzwieser herausgegebenen Band „Rollenspiele – Karl May in Linz“ (Literatur im Stifter-Haus Bd. 14) erschienen. Wir danken dem Autor für die Publikationsgenehmigung.